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Die Jagd mit diesen Waffen verlangte höhere Fähigkeiten und bessere Kommunikation unserer Vorfahren, als bislang bekannt, neue Forschungsfragen stellen sich.
Die Speere von Schöningen
Homo erectus und die »deutsche« Vorgeschichte
Die ältesten auf deutschem Boden gefundenen Überreste unserer Vorfahren gehören – natürlich – zu unserer Geschichte. Und das nicht nur, weil sie überraschend einsatzfähig aussehen: acht Speere, sieben aus Fichten-, einer aus Kiefernholz, 1,80 bis 2,50 Meter lang, drei bis fünf Zentimeter dick, beidseits angespitzt, sorgfältig von Menschenhand gefertigt und bearbeitet. In Bauform und Wurfeigenschaften ähneln sie sogar heutigen Speeren und lassen sich 70 Meter weit werfen. Sensationsfunde aus dem Oktober 1994, die allen wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge die weltweit ältesten bisher gefundenen Jagdwaffen der Menschheit sind und deren Erforschung das Bild der kulturellen Entwicklung des frühen Menschen nachhaltig verändert.
Als 1983 der Abbau im Helmstedter Braunkohlerevier an der innerdeutschen Grenze bei Schöningen begann, ahnte niemand, welche archäologischen Schätze hier Jahrtausende überdauert hatten. Die Entdeckungen sprengten selbst die kühnsten Erwartungen aller Experten. Archäologen begleiteten den Tagebau und fanden anfangs dicht unter der Oberfläche viele Spuren der jüngeren Vergangenheit. Nach neun Jahren kamen schließlich – gut zehn Meter unter der Oberfläche und aufbewahrt in Jahrmillionen alten Torfschichtungen über die Abfolge zweier Eiszeiten hinweg – acht hölzerne Speere aus der Altsteinzeit zum Vorschein. Nach allen bisherigen Erkenntnissen dienten sie den hier lebenden Urmenschen – Homo erectus – zu Jagd- oder auch Verteidigungszwecken und sind unfassbare 300 000 bis 400 000 Jahre alt.
Neben den Wurfspeeren legten die Archäologen in angrenzenden Schichtpaketen weitere Artefakte frei, die dem Urmenschen dieser Region vermutlich als Distanzwaffen dienten. So die als Lanze, als Wurfstock bzw. -holz und als Klemmschäfte interpretierten menschlichen Jagd- und Arbeitsgeräte, etwa 20 bis 30 Steinwerkzeuge (Schaber) sowie einen angekohlten, auf den Gebrauch von Feuer verweisenden Holzstab, möglicherweise in der Funktion eines Bratspießes. Diese menschlichen Hinterlassenschaften wiederum befanden sich inmitten einer Ansammlung von etwa 12 000 Tierknochen, die von mehr als 20 Wildpferden, vereinzelt von Rothirsch, Wisent, Nashörnern und Elefanten stammen. Die Spuren an den Skelettresten der Pferde sowie aufgeschlagene Knochen weisen auf gezielte menschliche Bearbeitung, vermutlich Schlachtung durch Steinwerkzeuge, hin, wie sie der afrikanische Urmensch bereits vor 1,5 Millionen Jahren etwa mit dem Faustkeil praktizierte.
Alles in allem liegt mit dem Fundensemble die beinahe eine halbe Million Jahre alte Momentaufnahme menschlicher Frühgeschichte vor, im luftdichten Boden des Tagebaus konserviert für die Gegenwart. Was sagt sie uns für das Verständnis unserer Vorfahren, über ihre Intelligenz, das Sozialverhalten und die Anpassungsfähigkeit des Homo erectus im Nordwesten des heutigen Deutschland?
Der mittlerweile gut dokumentierte Fund der Schöninger Speere, dem mit dem »Paläon« am Entdeckungsort seit 2013 ein Besucherzentrum und Museum gewidmet ist, schließt eine große Lücke im archäologischen Geschichtsbuch der frühen Menschheitsgeschichte, auch wenn noch viele Mutmaßungen bleiben. Etwa 800 000 Jahre ist es nach bisherigem Erkenntnisstand her, dass die ersten Vertreter der vom Menschenaffen und Frühmenschen unterschiedenen Menschenart Homo erectus von Afrika aus Europa erreichten. Als nomadisierender Jäger und Sammler fand dieser aufrecht gehende Urmensch auch im Norden des heutigen Deutschland gute Lebensgrundlagen. Das belegen die ältesten hierzulande gefundenen Überreste von Menschen wie der 1907 entdeckte Unterkiefer des »Homo erectus heidelbergensis« von Mauer bei Heidelberg (600 000 Jahre) und der 1933 gefundene Schädel des »Urmenschen von Steinheim« an der Murr (250 000 bis 300 000 Jahre alt). Der 1856 bei Düsseldorf entdeckte Neandertaler ist demgegenüber viel jünger (40 000 Jahre), und noch jünger ist das 1914 bei Bonn-Oberkassel gefundene Paar mit dem ältesten Haushund Europas (14 000 Jahre).
Dabei bedurfte das Überleben des altsteinzeitlichen Menschen in dieser Region ausgebildeter Anpassungsfähigkeiten an wechselvolle Lebensverhältnisse und das entsprechende Klima. Sein Lebensraum im geologischen Eiszeitalter, dem mittleren Pleistozän, wurde über Jahrhunderttausende bestimmt durch den Wechsel von Warm- und Kaltzeiten, den Vorstoß gigantischer skandinavischer Gletschermassen, die in der Zeit vor 400 000 bis 320 000 Jahren auch den niedersächsischen Mittelgebirgsrand erreichten.
Auch die Schöninger Jagdrelikte stammen aus einer Warmphase zwischen zwei Eiszeiten, der Elster- und der Saale-Eiszeit. Am Speere-Fundort, davon geht die Forschung heute aus, entstand im Verlauf eiszeitlicher Ablagerungen aus einer Senke ein See und damit ein vom Menschen häufig aufgesuchter Rast- und Jagdplatz. In der Folge wurde dieses Gebiet wiederum über Jahrhunderttausende hinweg (bis vor etwa 150 000 Jahren) von bis zu 100 Meter hohen Gletschern übertürmt und am Übergang zum Holozän vor etwa 11 700 Jahren mit einer viele Meter starken Schicht aus Löss bedeckt. Auf diese Weise konnten die Speere wie in einem Magazin ungestört lagern und zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung wie »frisch vergraben« erscheinen.
Das Eiszeitalter oder Quartär ist der jüngste Abschnitt der Erdgeschichte; darin findet die Entwicklung des Menschen, der Gattung »Homo«, statt. Sie begann vor 2,6 Millionen Jahren und dauert bis heute an. Das Quartär wird in zwei geologische Zeitabschnitte unterteilt, das Pleistozän und das Holozän, die Jetztzeit. Die altsteinzeitlichen Funde von Schöningen stammen aus dem mittleren Pleistozän, sind also 320 000 bis 300 000 Jahre alt. Tausende von Generationen vor der Bildung erster Zivil- und Staatsgemeinschaften in Mesopotamien (ca. 4000 v. Chr.) und den ältesten Hochkulturen der Menschheit in Ägypten, Babylonien, Mexiko und Kreta erscheint also der Mensch im Pleistozän. Im nördlichen Mitteleuropa beginnt er als Homo erectus mit seiner Herrschaft über widrige Naturbedingungen, auf heutigem deutschem Boden bewährt er sich als mutiger und listiger Jäger von Wasserbüffel, Auerochse oder Wildpferd, und er tritt bewaffnet den Giganten des Eiszeitalters wie dem Eurasischen Altelefanten, der Säbelzahnkatze oder dem Steppenmammut gegenüber.
Der Schatz von Schöningen fügt sich in dieses archäologische Bild ein und ergänzt es zugleich, denn er wirft Fragen zum Entwicklungsgrad dieses europäischen Homo erectus im Allgemeinen und zum Heidelbergmenschen im Besonderen auf. Fragen, die nicht nur den Archäologen bewegen. Umso spannender, wie die moderne Forschung die »Schöninger Jagdszene« aus der Altsteinzeit interpretiert.
Da die Jagdgeräte, der »Bratspieß« und die steinernen Werkzeuge zum Zerlegen inmitten einer Fläche lagen, die von Tausenden Tierknochen bedeckt war und erwiesenermaßen nicht durch nachträgliche Seebewegungen entstand, lassen sich diese Relikte tatsächlich als Beleg für die – mutmaßlich häufiger stattfindende – systematische Jagd des steinzeitlichen Jägers und Sammlers deuten. Der Homo erectus wie später der Neandertaler ernährte sich sehr fleischreich; nördliches Klima und Lebensraum verlangten viel Energie bei einem nomadisch geführten Leben. So wurden wohl auch hier an dem ehemaligen Ufer eines Sees gemeinsam Wildpferde gejagt und vermutlich Strategien der Großwildjagd in der sozialen Gemeinschaft verabredet. »Wer glaubt«, so der Speere-Entdecker Hartmut Thieme, »dass das mit Grunzlauten und Armfuchteln möglich war, der irrt! Eine subtile Kommunikation war nötig, mit Sicherheit gab es bereits eine Form von Sprache.« Zu den kognitiven Fähigkeiten (bewusst und vorausschauend planen, strategisch denken, sozial kommunizieren und koordinieren) kommen also handwerkliche Fertigkeiten und ein technologisches Wissen hinzu, wie das gezielte handwerkliche Bearbeiten von Rohmaterial (Holz, Stein) zur Werkzeug- oder Waffenherstellung für den gemeinschaftlichen Jagdzweck. Zu solchen Intelligenzleistungen sind nur Wesen aus der Familie der Hominiden befähigt. Sie setzen ein großvolumiges, hoch organisiertes Gehirn voraus, aber auch von Generation zu Generation weitergegebene Erfahrungen.
Die Speere belegen, dass die Schöninger Jäger bereits eine Jagdtechnik besaßen, denn sie sind nicht nur sorgfältig bearbeitet und mit ihren unterschiedlichen Längen vermutlich der Konstitution ihrer Werfer angepasst. Sie sind auch ballistisch optimal austariert, geformt wie heutige Wettkampfspeere und als Distanzwaffen gebaut. Unbeantwortet bleibt bislang die Frage, weshalb die Speere am Schöninger Jagdgrund zurückgelassen wurden. Sind sie eventuell Relikte ritueller Handlungen (H. Thieme), Bestandteil eines frühen Opferkults des Homo erectus?
Ungeachtet der Vielzahl...