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Die Logik des Anschlags

Zur Zielwahl dschihadistischer Terroristen in Europa

AutorMichael Fischer, Robert Pelzer
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl581 Seiten
ISBN9783593434858
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis35,99 EUR
Nach welcher Logik planen Dschihadisten Anschläge in europäischen Städten? Seit den Anschlägen von Paris und Brüssel ist diese Frage aktueller denn je. Um die Denkweise von Anschlagsplanern zu verstehen, haben die Kriminologen Michael Fischer und Robert Pelzer ein Planspiel durchgeführt, in dem Probanden über mehrere Monate fiktive Anschlagsszenarien entwickelt haben. Auf der Basis realer Fälle, wie der 'Sauerland-Gruppe', wurden Tätertypen bestimmt. Die Autoren präsentieren ein Risikomodell und Kernelemente einer Soziologie des Anschlags.

Michael Fischer ist Professor für Kriminologie an der Polizeiakademie Niedersachsen. Robert Pelzer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Technik und Gesellschaft (ZTG) der TU Berlin.

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Leseprobe
Vorwort
Die vorliegende Studie versucht - und darin unterscheidet sie sich von den meisten Arbeiten im Bereich der Terrorismusforschung - die Analyse der Logik des Terrorismus mit einer Analyse der konkreten Anschlagsplanung terroristischer Gruppen, das heißt der Wahl von Anschlagszielen und Angriffsszenarien, zu verbinden. Wie der Terrorismus an sich folgt auch die Planung von Anschlägen im Einzelnen einer Logik der sozialen Kontrolle. Empirisch beruht die Arbeit auf einer internationalen Fallerhebung dschihadistischer Anschläge sowie einem erstmals in dieser Form durchgeführten Planspiel zur Anschlagsplanung. Der dschihadistische Terrorismus in Europa ist dabei zugleich zentraler Gegenstand der Analyse und ein Beispielfall für terroristisches Vorgehen. An diesem Fall untersucht die Studie Selektionsmechanismen und Risikoparameter für terroristische Anschläge, deren Generalisierbarkeit auf andere Formen des Terrorismus und auch auf neu sich entwickelnde Strukturen des Dschihadismus jeweils im Einzelfall zu reflektieren ist. Ohne dass wir dies im hier gegebenen Rahmen detailliert überprüfen konnten, nehmen wir an, dass die identifizierten Selektionsmechanismen (die sich recht unmittelbar aus der Logik des Terrorismus als Form sozialer Kontrolle ergeben) weitgehend universell und über den europäischen Dschihadismus hinaus in verschiedenen Terrorismen vorfindbar sind. Spezifische Risikoparameter sind dagegen stärker von Ideologien, Ressourcen, Kompetenzen und Organisationsformen abhängig und bedürfen einer entsprechenden Anpassung beim Versuch der Anwendung auf unterschiedliche terroristische Gruppierungen. Dies gilt ggf. auch bei sich verändernden Rahmenbedingungen in der dschihadistischen Bewegung selbst.
Zur Zeit unserer empirischen Erhebungen (2010-2013) war 'al-Qaida' das Verdichtungssymbol für den europäischen Dschihadismus, während aktuell zunehmend der sogenannte 'Islamische Staat' diese Rolle einnimmt. Al-Qaida fungiert nicht nur als Organisation, sondern vor allem als ideologischer Anker für auch solche Täter, die sich - bei geringer oder völlig fehlender organisationeller Verbindung - auf den Deutungsrahmen des globalen Dschihadismus berufen. Vor diesem Hintergrund nimmt unsere Studie nicht professionalisierte, länger bestehende und im Untergrund aktive dschihadistische Gruppierungen in den Blick (die es in Europa weder gab noch bislang gibt), sondern kleine Tätergruppen mit relativ geringen Ressourcen, geringer organisationeller Anbindung und fehlender oder geringer terroristischer Erfahrung und Ausbildung, die im Wesentlichen einen (einzigen) Anschlagsversuch unternehmen und in der Zielwahl gegebenenfalls Anregungen oder groben Vorgaben folgen, diese aber letztlich selbst vornehmen.
An dieser Täterstruktur hat sich auch mit dem Erstarken des Islami-schen Staates (IS) bislang wenig geändert. Seit dieser größere Gebiete im Osten Syriens und Nordwesten Iraks erobert und 2014 ein Kalifat ausgerufen hat, sind in Europa vermehrt Anschläge und Anschlagsplanungen mit Bezügen zu bzw. unter Berufung auf den IS zu verzeichnen. Hegghammer und Nesser (2015) zählen für den Zeitraum von Januar 2011 bis Juni 2015 insgesamt 69 dschihadistische Anschlagsplanungen (inklusive 19 ausgeführte Anschläge) in Europa, Nordamerika und Australien, von denen 30 einen IS-Bezug aufweisen. In der Schlussphase dieser Erhebung (Juli 2014 bis Juni 2015) steigt der Anteil von Anschlagsplanungen mit IS-Bezug auf 26 von 33 (wobei die Unterscheidung zwischen IS- und al-Qaida-bezogenen Anschlägen nicht immer klar zu treffen ist). Die Anschlagsplanungen mit IS-Bezug wurden überwiegend von Tätern bzw. Tätergruppierungen unternommen, die Sympathie für den IS äußern oder erkennen lassen, ohne in persönlichem Kontakt zu irgendeiner Verbindungsperson in der IS-Organisation zu stehen. Andere Täter haben entfernte Kontakte, ohne jedoch Anweisungen bekommen zu haben. In vier Fällen waren Täter beteiligt, die ein Training auf IS-Gebiet, nicht aber Anweisungen für Anschläge im Westen erhalten hatten; in vier weiteren Fällen sind Hinweise auf mehr oder minder spezifische Anregungen bzw. Instruktionen für Anschläge im Westen zu erkennen. Viele der (geplanten) Anschläge haben Lowtech-Charakter und werden mit Stich- oder Handfeuerwaffen ausgeführt; oft werden sie von Einzeltätern oder Zweiergruppen geplant; bei durchgeführten Anschlägen liegt die Zahl der Todesopfer bei durchschnittlich 1,4 Personen (ebd.). Von diesem Grundmuster eines Terrorismus relativ unprofessioneller Einmaltäter weichen einzelne spektakuläre Anschläge ab. So gelangen am 13. November 2015 in Paris komplexere konsekutive Mehrfachanschläge: Die Täter schlugen in drei Teams mit je drei Personen an insgesamt neun Orten in Paris zu. Mindestens fünf Sprengvorrichtungen wurden erfolgreich gezündet, und die Täter verfügten über eine größere Anzahl automatischer Waffen. Die Mehrzahl der Taten aber spiegelt nach wie vor das in unserem Erhebungsdesign zugrunde gelegte Bild von organisationell gering ein-gebundenen Tätern, die durch dschihadistische Organisationen oft nur inspiriert wurden und die mit relativ einfachen Mitteln und bei wesentlich eigenständiger Zielwahl operieren.
Potenzielle Veränderungen in der dschihadistischen Szene, Organisation, Strategie und Propaganda sind freilich gleichwohl stets zu berücksichtigen. So könnte bei weiteren erfolgreichen Inspirationen besonders unprofessioneller Täter mit einer Ausweitung von Angriffen mit Hieb- und Stichwaffen zu rechnen sein - während umgekehrt die (bislang nur begrenzt sich auswirkende) Rückkehr kampferfahrener und besser vernetzter Personen aus Kriegsgebieten eine Professionalisierung des dschihadistischen Terrorismus in Europa befördern kann. Auch bei Änderungen der Professionalität und der Angriffsmittel bleiben jedoch zentrale Parameter der Zielwahl bestehen. So suchten etwa auch die Attentäter von Paris zentral gelegene und (mit Ausnahme des Stade de France) ohne Zugangskontrollen zugängliche Ziele aus; indiskriminative Angriffe auf Zivilisten folgen früheren Vorbildern und zielen auf die Mitte der Gesellschaft; und mit dem Veranstaltungsort Bataclan wurde zusätzlich ein Ort angegriffen, an dem sich, so das mutmaßliche Bekennerschreiben des IS, 'hunderte Götzendiener in einer perversen Feier versammelt' hätten - hier zeigt sich die ebenfalls in früheren Anschlägen schon beobachtbare Orientierung an aus der Sicht der Dschihadisten überdurchschnittlicher 'Schuld' und Verachtungs-würdigkeit.
Während eine sukzessive Überprüfung und Anpassung der Risiko-bewertung angesichts sich verändernder gesellschaftlicher und organisato-rischer Rahmenbedingungen also immer erforderlich bleibt, können die hier beschriebenen Parameter der Zielwahl (und erst recht die dargestellten Basismechanismen der Anschlagsplanung überhaupt) auch für eine IS-inspirierte Phase des Dschihadismus in Europa im Wesentlichen als weiterhin gültig angenommen werden.
Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Version unserer Dis-sertationsschrift an der Universität Hamburg. Die Arbeit basiert auf Da-tenerhebungen und -auswertungen, die wir gemeinsam im Rahmen des BMBF-geförderten Forschungsprojekts 'Technische Prävention von Low-Cost-Terrorismus' am Institut für Sicherheits- und Präventionsforschung (ISIP) und am Institut für Kriminologische Sozialforschung der Universität Hamburg (IKS) durchgeführt haben. Wir sind all jenen zu Dank verpflichtet, ohne deren Unterstützung und Mitarbeit diese Studie nicht möglich gewesen wäre. Für die Durchführung des Planspiels war die psychologische Expertise und Begleitung von Prof. Dr. Lorenz Böllinger unabdingbar. Dr. Sybille Reinke de Buitrago wirkte als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der internationalen Bestandsaufnahme und einer Medienanalyse mit, Martin-Carrillo Aravena war als wissenschaftlicher Mitarbeiter wesentlich an der Durchführung des Planspiels beteiligt. Für die dabei erforderlichen umfangreichen Gruppenbeobachtungen und Transkriptionsarbeiten waren wir auf die tatkräftige Unterstützung unserer studentischen Hilfskräfte angewiesen: Wir danken Sandra Blaufelder, Manel Chaar, Anna-Katharina Ficht, Janine Fregin, Maruschka Güldner, Martin Halewitz, Nina Hürter, Stefanie Meyer, Yvonne Morick, Nico Nolte, Johanna Öhding, Eva Maria Reh, Umut Savac, Kolja Schild, Sarah Schirmer, Katharina Schmidt und Christine Uebele. Bei der Bestandsaufnahme dschihadistischer Anschläge und Anschlagsplanungen in Europa haben uns folgende Kooperations-partner geholfen: in Frankreich das Centre de Recherches Sociologiques sur le Droit et les Institutions Pénales (Xavier Crettiez, Lynda Djerroud), in Italien die Università Cattolica del Sacro Cuore & Transcrime (Ernesto U. Savona), in Spanien die Universität Barcelona, OSPDH (Mónica Aranda Ocaña), das Chatham House in Großbritannien (Paul Cornish), in den Niederlanden die Universität Leiden, Centre for Terrorism and Counterterrorism (Edvin Bakker) und in der Türkei das Strategic Research Center der Bahcesehir University (Ercan Çitlio?lu).
Von Seiten des Projektträgers VDI profitierte das Vorhaben von der konstruktiven Begleitung durch Dr. Karin Wey. Vertreter verschiedener Sicherheitsbehörden auf Bundes- und Landesebene sowie Mitarbeiter diverser Infrastrukturbetreiber haben den Fortschritt des Projekts im Rahmen von Workshops begleitet und mit ihrem Praxiswissen unterstützt. Dr. Aldo Legnaro, Dr. Florian Bernhardt, Dirk Uden, Dr. Franziska Kunz und Axel Pelzer haben uns mit kritischen Anmerkungen und Anregungen geholfen. Claudia Weber danken wir für das gründliche Korrektorat. Danken möchten wir überdies den Kolleginnen und Kollegen Prof. Dr. Daniela Klimke vom Institut für Sicherheits- und Präventionsforschung (die auch an der Projektantragstellung wesentlich beteiligt war) sowie Philipp Offermann und Dr. Leon Hempel vom Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin, die uns für die Arbeit am Manuskript den Rücken freigehalten haben. Besonderer Dank gilt schließlich Prof. Dr. Dr. h.c. Fritz Sack, der schon als Antragsteller involviert war, die Datenauswertung mit seiner Expertise begleitet hat und schließlich als Zweitprüfer der Dissertation fungierte sowie Prof. Dr. Sebastian Scheerer, der ebenfalls einer der Projektantragsteller war und, trotz widriger Umstände, die Aufgabe der Betreuung unserer Dissertation übernommen und die Arbeit bis zur Drucklegung freundschaftlich unterstützt hat. Nicht zuletzt danken wir unseren Familien für den Rückhalt und ihre uneingeschränkte Unterstützung, insbesondere während der arbeitsintensiven Phasen der Dissertation.

Einleitung
Dschihadistische Gruppierungen sind heute international in zahlreichen Ländern aktiv. Neben dem aktuell prominentesten Fall des Islamischen Staats, der größere Gebiete in Syrien und im Irak unter seine Kontrolle bringen konnte und ein Kalifat ausgerufen hat, operieren etwa al-Qaida (mit verschiedenen Ablegern wie al-Qaida im Islamischen Maghreb und al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel), Boko Haram in Nigeria, Ansar al-Scharia in Libyen und in Tunesien, die Al-Shabaab-Miliz in Somalia, Laschkar e-Taiba in Kaschmir, die Al-Nusra-Front in Syrien, Jemaah Islamiyah in Indonesien, das Kaukasus-Emirat in Tschetschenien, die Hamas in Gaza/Israel, die Taliban im Irak, die Abdullah-Azzam-Brigaden in Ägypten, im Irak, in Syrien, in Jordanien, in Gaza und im Libanon, Abu Sayyaf auf den Philippinen und andere mehr. Verschiedene Gruppierungen arbeiten teils kooperativ, teils konkurrierend und bilden gelegentlich neue Abspaltungen und Fusionen. Neben irredentistischen Gruppen, die auf die (Wieder-)Aneignung von unter nichtmuslimischer Herrschaft stehendem Land orientiert sind (zum Beispiel Tschetschenien, Kaschmir, Palästina), stehen solche, die vorwiegend in einem nationalen Rahmen gegen als nicht hinreichend oder ordentlich muslimisch empfundene Regime kämpfen und auf die staatliche Machtübernahme orientiert sind, und andere, die einen globalen Kampf gegen den 'Westen' betreiben und gegebenenfalls ein letztlich globales Kalifat unter Herrschaft der Scharia im Blick haben (vgl. z. B. Said 2014; International Crisis Group 2005).
Dschihadismus ist kämpferische Gewalt propagierender oder praktizierender Islamismus. 'Islamismus' wurde unterschiedlich definiert, wird aber häufig wesentlich als ein auf irdische Herrschaft ausgerichteter, religiös sich legitimierender politischer Islam angesehen: Der Islam ist nach islamistischer Auffassung 'nicht nur Religion, sondern auch Gesellschaftsordnung und politisches System und will die ideale, auf Gott und die Scharia ausgerichtete Gesellschaft hier auf Erden umsetzen' (Schirrmacher 2012: 5). Im politischen Diskurs wird zudem regelmäßig davon ausgegangen, dass es sich bei islamistischen Lehren um eine Verfälschung oder einen 'Missbrauch' der 'wahren' islamischen Lehre handele. Diese Differenzierungen erweisen sich im Einzelnen als nicht immer leicht begründbar, denn nach Ansicht mancher Beobachterinnen unterscheidet sich die 'etablierte, traditionelle Theologie [...] kaum von den theologischen Positionen islamistischer Vertreter' (ebd.). Der Verweis auf politischen Aktivismus oder auf die mangelnde Trennung von Religion und Politik führte wenig weiter, folgte man einigen Islamwissenschaftlern, die den politischen Charakter schon der tra-ditionellen islamischen Lehre betonen und in der 'heute übliche[n] Unter-scheidung zwischen ?islamisch? und ?islamistisch? keine Definitionskraft und erst recht keine Handlungsmaxime' erkennen können (Nagel 2001: 18). Der politische Diskurs blendet die Details theologischer Fragen weitgehend aus und verwendet 'Islamismus' meist schlicht als Etikett für politisch unliebsamen, 'extremistischen' islamischen Aktivismus, wobei dessen theologische Falschheit mehr oder minder als Selbst-verständlichkeit behauptet oder vorausgesetzt wird. Diesem häufig anzu-treffenden Verständnis des Islamismus als einer Spielart des 'Extremismus' stehen allerdings wiederum politische Erfolge islamisti-scher Bewegungen und Parteien entgegen, welche - von Beobachtern, die diese nicht als 'Extremisten' abwerten wollen - als 'moderate Islamisten' bezeichnet werden.
Unabhängig von der Frage, ob man Islamismus pauschal als 'extremis-tisch' verstehen oder 'moderate' Formen zulassen möchte, sind friedlich (durch Überzeugungsarbeit oder in politischen Parteien) operierende Isla-misten von Gewalt propagierenden oder ausübenden Akteuren zu unter-scheiden. Für letztere Strömungen - und gerade auch für islamistischen Terrorismus (oder, weiter, für islamistische Militanz) - hat sich der Begriff des 'Dschihadismus' etabliert, der auf die traditionelle islamische Dschihadlehre rekurriert und auch dem Selbstverständnis der Akteure entspricht. Diese Verwendung des Dschihadbegriffs ist allerdings ihrerseits problematisch, da sie friedliche und kriegerische Bedeutungen des Dschihadbegriffs ebenso wenig unterscheidet wie kriegerische und terroristische.
'Dschihad' bedeutet allgemein 'Anstrengung' oder 'Bemühung' um die Verbreitung des Islam oder für die Sache Gottes (vgl. Rohe 2009: 149; Noth 1994: 22ff.), was nicht notwendig militärische Mittel impliziert. Manche Muslime begegnen der Verwendung des Begriffs 'Dschihadismus' daher mit Skepsis, da hier friedliche Formen von religiösen Anstrengungen oder Bemühungen mit illegitimer Gewalt assoziiert werden und der Dschihadbegriff selbst damit negativ konnotiert würde (Hegghammer 2009: 246). Allerdings kennt auch die klassische islamische Rechtslehre, wie sie ungefähr ab dem 10. Jahrhundert in verschiedenen Rechtsschulen konsolidiert wurde, durchaus gewaltsame Formen des Dschihad und verstand den Einsatz zur Ausbreitung der Religion 'zweifellos vor allem militärisch' (Rohe 2009: 149). Neben defensiven Aktionen zur Verteidigung sind dazu offensive zur Ausbreitung des muslimischen Herrschaftsterritoriums gefordert: Die klassische Lehre unterscheidet das 'Haus des Islam', wo die Normen der Scharia gelten, vom 'Haus des Krieges', dem 'grundsätzlich als feindlich und rechtlos angesehene[n] Rest der Welt', mit dem kein dauerhafter Frieden, sondern nur 'zeitlich begrenzte Waffenstillstände im Falle der eigenen Unterlegenheit' zugelassen waren (ebd.). Die Teilnahme am Dschihad ist dabei als religiöse Pflicht konzipiert - nicht als individuelle Pflicht jedes Einzelnen, aber als Pflicht einer hinreichenden Anzahl von Gläubigen (ebd.). Die klassische Dschihadlehre wird heute oft auf den Aspekt defensiver militärischer Gewalt begrenzt, ist aber andererseits nach wie vor virulent und dient den heutigen 'Dschihadisten' als Bezugspunkt. Dabei ist die Einschränkung auf defensive Gewalt, ob subjektiv akzeptiert oder nicht, grundsätzlich kein Hindernis, da sich islamistischer Terrorismus wesentlich als Verteidigungsmaßnahme in einem 'Krieg gegen den Islam' versteht. Allerdings ist die mit dem klassischen Dschihadkonzept begründete Kriegsführung von terroristischer Anschlagsplanung zu unterscheiden, und es ist auch für Unterstützer der Idee eines militärischen Dschihad konsistent möglich, terroristische Aktionen (insbesondere Angriffe auf Zivilisten) mit theologischer Begründung abzulehnen.
Wir sprechen im Folgenden von 'islamistischem' oder gleichbedeutend von 'dschihadistischem' Terrorismus bzw. konkreter von 'dschihadistischer Anschlagsplanung'. Dabei kann es aus sozialwissenschaftlicher Perspektive nicht um das - rein theologische - Problem gehen, vermeintlich wahre oder falsche religiöse Lehren zu unterscheiden. 'Islamismus' meint hier subjektiv islamisch begründeten und orientierten politischen Aktivismus (der in gewaltfreien und gewaltsamen Formen vorkommen kann). Damit ist nichts darüber ausgesagt, ob die zugrunde liegende Islaminterpretation richtig oder falsch sei; selbst die Frage, ob sie plausibel oder nicht plausibel sei, spielt für unsere Zwecke keine Rolle. Der Dschihadismusbegriff wird verwendet, da er das Selbstverständnis islamistisch-kriegerischer und terroristischer Akteure widerspiegelt, die sich in einem militärischen Dschihad gemäß islamischer Lehre wähnen. 'Dschihadisten' sind kämpferische islamistische Gewalt propagierende oder praktizierende Akteure, gleich ob die jeweiligen Gewaltformen im Einzelnen als 'Terrorismus', 'Krieg', 'Bürgerkrieg' oder anders zu werten sind.
Die USA und europäische Länder gerieten im Zuge einer strategischen Neuorientierung auf den 'fernen Feind' im Laufe der 1980er- und 1990er-Jahre als Anschlagsziele in den Blick des globalisierten Dschihadismus (vgl. Kepel 2004; Steinberg 2005). Die Ausrichtung auf den 'fernen Feind' - die USA, Israel, den 'Westen' allgemein und Russland - kondensiert sich personell in der Begegnung von Ayman al-Zawahiri und Osama bin Laden (vgl. Kepel 2004: 97-139). Zawahiri durchläuft eine Radikalisierungskarriere in Ägypten, wo er 1966 die Folter und Hinrichtung des Theoretikers der Muslimbruderschaft Sayyid Qutb erlebt und ab 1981, nach der Ermordung von Präsident Sadat, selbst inhaftiert und zum Opfer von Folter wird. 1985 verlässt Zawahiri Ägypten und lernt in Saudi-Arabien Osama bin Laden kennen, auf den er später, nach der Ermordung von dessen Mentor Abdullah Azzam im Jahr 1989, verstärkten Einfluss gewinnen wird. Bin Laden hatte bereits den Dschihad in Afghanistan unterstützt (den auch Zawahiri schon als Arzt einer islamischen Nichtregierungsorganisation erlebt hatte) und ist Anfang der 1990er-Jahre über die Stationierung von US-Truppen in Saudi-Arabien empört, die er als eine Entweihung heiligen Bodens in Mekka und Medina thematisiert. 1992 fliehen Zawahiri und bin Laden von Afghanistan in den Sudan und entwickeln von Khartum aus die weitere Internationalisierung des Dschihad, bevor 1996 bin Laden wieder nach Afghanistan und Zawahiri nach Tschetschenien weiterzieht. Der sunnitische Islamismus hatte im Kampf gegen Präsident Mubarak in Ägypten ebenso wie in Algerien und in Bosnien Misserfolge zu verzeichnen. Während der Kampf gegen den 'nahen Feind' - Regime in mehrheitlich islamischen Ländern, die der Herrschaft der Scharia entgegenstehen - stagnierte, gab der Erfolg der Taliban gegen die Sowjetunion in Afghanistan dem Gedanken Auftrieb, dass mit den USA auch eine weitere Supermacht besiegbar sei. Im Jahr 1996 verbreitet bin Laden seine 'Erklärung des Heiligen Krieges gegen die Amerikaner, die den Boden der heiligen Stätten besetzt halten'. 1998 folgt eine weitere Erklärung von bin Laden, Zawahiri und anderen, in der eine 'internationale islamische Front gegen die Juden und die Kreuzfahrer' angekündigt wird (vgl. Kepel 2004: 122). Für Zawahiri ist dabei die Umorientierung auf den 'fernen Feind' auch die Lösung des von ihm gesehenen Hauptproblems der islamistischen Bewegung: die mangelnde Unterstützung und Mobilisierbarkeit der muslimischen Gemeinschaft. 'Die Furcht vor der Isolation der ?Avantgarde? der Gotteskrieger', so Kepel (ebd.: 129), 'zieht sich wie ein roter Faden' durch Zawahiris Schrift 'Ritter unter dem Banner des Propheten'. Darin stellt Zawahiri fest, dass der Kampf gegen Israel und gegen die amerikanische Präsenz von der Gemeinschaft aller Muslime - der Umma - 'richtig verstanden' wurde und sie 'begeistert' habe, was ihn zu dem Gedanken führt, dass der Islamismus den Nationalismus als Anknüpfungspunkt verwenden könne: 'Die Dschihadbewegung hat eine zentrale Stelle an der Spitze der Umma erobert, als sie die nationale Befreiung gegen die ausländischen Feinde zu ihrer Parole gemacht und diese in den Zügen eines Kampfs des Islam gegen die Gottlosigkeit und die Ungläubigen gezeichnet hat' (zit. nach ebd.: 127f.). Die neue Strategie wird 1998 bei den Anschlägen auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania sowie im Jahr 2000 bei dem Anschlag auf das Kriegsschiff USS Cole im Hafen von Aden umgesetzt, bevor sie vorerst im spektakulären Erfolg der 9/11-Anschläge vom 11. September 2001 kulminiert.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
I. Ziel- und Mittelwahl terroristischer Gruppen30
II. Bestandsaufnahme dschihadistischerAnschläge in Europa78
III. Die Logik des Anschlags :Terrorismus als soziale Kontrolle168
IV. Anschlagsplanung: Planspielgestützte Rekonstruktion194
Aufsätze und Monographien521

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