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Dreamland Deutschland?

Das erste Jahr nach der Flucht. Zwei Brüder aus Syrien erzählen

AutorAntonie Rietzschel
VerlagCarl Hanser Fachbuchverlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783446448193
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Yousef und Mohanad, zwei Brüder aus Syrien, haben es geschafft. Ein Jahr lang sind sie nun in Deutschland. Antonie Rietzschel hat sie von Anfang an begleitet: Sie hat dabei erlebt, was passiert, wenn Debatten um Flüchtlinge und Willkommenskultur auf das echte Leben treffen. Wie wird man Teil der deutschen Gesellschaft? Wie lebt man weiter, wenn die Familie noch immer im Kriegsgebiet ist? Die Brüder erzählen, wie sie um das Bleiberecht kämpfen mussten, Unterstützung bekamen und den Rechtsruck erlebten. Dabei sprechen sie nicht nur für sich selbst. Denn was als Ausnahmezustand begann, wird unsere Gesellschaft nachhaltig verändern. Das eindrucksvolle Porträt des Einwanderungslandes Deutschland im Jahr 2016.

Antonie Rietzschel ist Berlin-Korrespondentin von SZ.de. Sie wuchs in einem kleinen Dorf nahe der Sächsischen Schweiz auf, einer Region, die lange durch Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus geprägt war. Durch ihre persönlichen Erfahrungen bildet dieses Thema heute den Schwerpunkt ihrer mehrfach ausgezeichneten journalistischen Arbeit.

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EINS   Zwei Leben


Das kleine Mädchen dreht sich um sich selbst – immer und immer wieder. Ihr weißes Kleid fliegt hoch. Sie wackelt mit den Hüften zu der treibenden arabischen Musik im Hintergrund. Zum Schluss formen die kleinen Finger ein Herz. Ihre Augen schauen in die Kamera, als würden sie darin einen geliebten Menschen erblicken. Drei Jahre ist es her, dass Yousef seine kleine Schwester das letzte Mal gesehen hat. Bevor er sich verstecken und schließlich fliehen musste. Jetzt kann er ihr nur noch per Handy beim Aufwachsen zusehen. Die Familie schickt per WhatsApp und Facebook Videos und Fotos, die er sich gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Mohanad in Dauerschleife anschaut.

Wer Mohanad und Yousef zusammen sieht, würde nicht vermuten, dass sie Geschwister sind. Mohanad mit dem roten dichten Haar und der hellen Haut. Die rehbraunen Augen hat er von seiner Mutter geerbt, genau wie die vollen Lippen. Yousefs Augen sind fast so schwarz wie das dünne Haar auf seinem Kopf. Seine Haut ist dunkler. Er ist größer als sein jüngerer Bruder und schmaler. Auch sonst sind die beiden sehr unterschiedlich – das war schon in ihrer Kindheit so, die sie in den Neunzigerjahren in der syrischen Hauptstadt Damaskus verbracht haben.

Zu Hause sind sie zunächst zu fünft, Vater, Mutter und drei Söhne. Der Vater ist beruflich viel unterwegs, manchmal wochenlang. Die Mutter kümmert sich um den Haushalt, backt schon frühmorgens frisches Brot. Kommen die Kinder aus der Schule, steht das Essen auf dem Tisch. Wenn Mohanad daran denkt, schließt er die Augen und zieht die Luft durch die Nase, als könne er dadurch die Gerüche von damals zurückholen.

Die Mutter ist für die Brüder die wichtigste Bezugsperson. Mohanad ist als Jüngster ihr absoluter Liebling. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr schläft er neben ihr im Bett. Beim Essen hat er einen festen Platz neben seiner Mutter. Selbst als junger Mann bekommt er extra Küsschen und Umarmungen. Mehr als Yousef, obwohl der nur zwei Jähre älter ist als Mohanad. Das ändert sich auch nicht, als die Schwestern zur Welt kommen. Ist die Mutter krank, müssen die Geschwister den Haushalt schmeißen. Nur der zierliche Mohanad darf neben ihr sitzen und ihre Hand streicheln.

Auch der Vater bevorzugt Mohanad. Als er nach langer Zeit mal wieder nach Hause kommt, legt er sich zum Mittagsschlaf nieder. Die Kinder wissen, dass sie ihn nicht stören dürfen. Der älteste Bruder setzt sich still an den Tisch, um zu lernen – doch Mohanad und Yousef toben herum. Der Vater kann bei dem Krach nicht schlafen. Er öffnet die Tür zum Wohnzimmer, sieht die beiden spielenden Jungen. Er gibt Yousef, aber auch dem ältesten Sohn eine Ohrfeige. Mohanad bleibt verschont. Eifersüchtig auf die Sonderbehandlung ist Yousef jedoch nicht. Draußen auf der Straße wird er sogar zum Beschützer seines schwächlichen Bruders. Als er hört, Mohanad werde von einigen Jungs in der Schule geärgert, verprügelt er sie.

Yousef, der Ältere, ist ein Rabauke, verteidigt nicht nur seinen kleinen Bruder, sondern auch Freunde. Er ist ein nachlässiges Kind, verliert ständig das Halstuch seiner Schuluniform. Die Lehrer mögen ihn nicht besonders. Eine Lehrerin fragt im Scherz, was sie tun müsse, damit er nicht mehr zu ihr in den Unterricht komme. Mohanad ist dagegen ein ruhiger und fleißiger Schüler. Er gehört zu den Besten seines Jahrgangs.

Dass die Kinder gute Leistungen erbringen, ist besonders dem Vater wichtig. Er schärft ihnen ein, dass sie es als sunnitische Muslime immer schwerer haben werden als die Alawiten. Die Assads selbst gehören dieser religiösen Minderheit an. Seit der Machtergreifung durch Hafiz al-Assad im Jahr 1970 haben vor allem die Alawiten profitiert. Bei der Besetzung wichtiger Posten werden sie stets gegenüber anderen religiösen Gruppen bevorzugt. Der Vater macht den Kindern Druck, ordentlich zu lernen, damit sie eines Tages studieren können.

Yousef geht nach der Schule an die Universität und studiert Buchhaltung in Damaskus. Direkt danach, 2010, wird er zum Militärdienst eingezogen. Er lebt von nun an in einer Kaserne in Homs. Sein Alltag ist der Drill: Strammstehen, kilometerlange Läufe am Morgen und am Abend. Seine Familie darf er nach zwei Monaten zum ersten Mal für einen Tag besuchen.

Anfang 2011 kommt es in Syrien im Zuge des Arabischen Frühlings zu ersten Protestaufrufen gegen Baschar al-Assad, Hafiz al-Assads Sohn, der seit dem Jahr 2000 das Land regiert. In der Stadt Daraa demonstrieren Tausende Menschen gegen den Machthaber. Männer, die ursprünglich aus der Region kommen, werden entwaffnet und umgehend aus der Armee entlassen. Yousef und die anderen Soldaten nehmen es hin. Sie haben keine Ahnung, was im Land eigentlich los ist. Die Vorgesetzten in der Armee erklären ihnen, Kräfte von außen versuchten das Land zu destabilisieren. Sie steckten hinter den Demonstrationen und der Bildung der Freien Syrischen Armee. Zum Beweis werden ihnen Patronen gezeigt, die normalerweise nicht von Assads Soldaten benutzt werden. Yousef glaubt alles.

Sein Bruder Mohanad studiert zur selben Zeit an der Universität in Homs Maschinenbau und Elektrotechnik, er lebt nur ein paar Kilometer von Yousef entfernt und doch scheinbar auf einem anderen Planeten. Die Studenten beginnen sich zu spalten, in Assads Gegner und Unterstützer. Mohanad gehört zu Ersteren. Mehrmals geht er nach dem Freitagsgebet auf die Straße, um gegen den Präsidenten zu demonstrieren. Mit seinem Bruder Yousef hat er zu der Zeit regelmäßig Kontakt. Er besucht ihn immer wieder in der Kaserne, manchmal bringt er sogar seine Wäsche zur Reinigung. Doch sie sprechen nicht über die Demonstrationen, darüber, wer da wirklich protestiert. Sie können sich nur im Besucherraum treffen, dort, wo auch andere Soldaten sitzen. Ein falsches Wort über die Demonstrationen oder Assad und die beiden Brüder wären in großer Gefahr.

Im Frühjahr 2012 beendet Yousef seinen Militärdienst, arbeitet aber weiter als Buchhalter bei der Armee. Allerdings nur für ein paar Monate. Weil Soldaten dringend gebraucht werden, soll Yousef wieder dienen. Er weigert sich, denn er hat andere Pläne: Er möchte endlich Geld verdienen, heiraten und eine Familie gründen. Für seinen Ungehorsam kommt Yousef für zwei Wochen ins Gefängnis. Weil er mittlerweile Offizier ist, wird er nicht gefoltert. Um freizukommen, soll er eine Verpflichtung unterschreiben, in der er sich bereit erklärt, dass er zum Militär zurückkehrt. Schweren Herzens setzt er seinen Namen unter das Dokument.

Im August 2012 bekommt er endlich zwei Tage Urlaub. Die Familie hat angesichts der politischen Lage große Angst. Zu Hause dreht sich mit einem Mal alles um ihn. Die Mutter lässt ihm ein heißes Bad ein. Yousef fühlt sich wie im Paradies. Es wird gegessen, was er sich wünscht. Setzt er sich kurz hin, um Wasser zu trinken, versammelt sich die ganze Familie um ihn.

Am Küchentisch schimpft Yousef auf die Demonstranten, darauf, dass Fremde mit Waffen ins Land eingefallen seien. Dabei sei Assad ein so guter Präsident. Mohanad kann nicht glauben, was er da aus dem Mund seines älteren Bruders hört. »Ich war dabei, ich bin kein Ausländer, ich bin Syrer wie du«, sagt Mohanad zu seinem Bruder. Vor seinen Augen sei ein Freund mit einem Messer attackiert worden, während die Polizei untätig zugesehen habe. Bekannte, die für kurze Zeit im Gefängnis gesessen hätten, hätten ihm von Folter erzählt. Von Fingernägeln und Zähnen, die gezogen worden seien. Von Stromschlägen. Mohanad hasst das Regime und plötzlich sitzt es mit ihm am Esstisch. Sein Bruder kommt ihm auf einmal vor wie sein Gegner. Zwei Tage lang ringen die beiden jungen Männer miteinander. »Diese Regierung lässt auf Zivilisten schießen«, sagt Mohanad. »Das stimmt nicht«, versucht Yousef dagegenzuhalten. Schließlich weiß er nicht mehr, was falsch und was richtig ist. Als der Urlaub vorbei ist, weinen die Eltern. Sie werden ihren Sohn auf unbestimmte Zeit nicht mehr sehen.

Wieder zurück in der Kaserne bekommt Yousef den Befehl, mit 18 Soldaten in eine bestimmte Region bei Damaskus zu fahren und dort alle Bewohner umzubringen. Es handle sich um Rebellen – mehr erfährt er nicht. Der Oberst rät ihm, sich von seinen Liebsten zu verabschieden. Yousef wird klar, dass er diese Mission möglicherweise nicht überleben wird. Und er denkt an die Worte seines Bruders. Er fürchtet, dass unter den angeblichen Rebellen auch Zivilisten sein könnten. Yousef will nicht töten – und er will nicht sterben.

Er trifft sich mit seiner Cousine Buschra, um sie um Rat zu fragen. Sie sind zusammen aufgewachsen und einander versprochen. Auch sie ist Sunnitin. Yousef muss sich entscheiden, ob er in der Armee bleibt und damit riskiert, zu sterben und möglicherweise Unschuldige zu töten – oder ob er desertiert, worauf in Syrien die Todesstrafe steht. Buschra fängt an zu weinen, fleht ihn an, in der Armee zu bleiben. Damit habe er wenigstens eine kleine Chance zu überleben.

Doch Yousef entscheidet sich anders. Im November 2012 fährt er in eine Stadt im Westen des Landes, die bisher unberührt von den Unruhen geblieben ist. Er versteckt sich in einer Wohnung, die Bekannten gehört. Erst einen Monat nach Yousefs Verschwinden erfährt die Familie, wo er sich versteckt hält.

Yousef geht nicht auf die Straße, nicht mal nachts. Keiner darf wissen, dass er in der Wohnung ist. Durch die Vorhänge des Fensters hält er regelmäßig Ausschau nach Polizisten. Ihn plagt schreckliche Angst, entdeckt zu werden. Er fürchtet sich vor der Folter, vor dem Tod.

Die Tage ziehen gleichförmig vorbei: essen, die weiße Wand anstarren, fernsehen, kochen, essen,...

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