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Ein ganz normales Pogrom

November 1938 in einem deutschen Dorf

AutorSven Felix Kellerhoff
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl244 Seiten
ISBN9783608110265
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Im November 1938 geht im ganzen Deutschen Reich die Saat des Hasses auf. In Hunderten Gemeinden demütigen Einwohner ihre jüdischen Nachbarn. Sven Felix Kellerhoff zeigt am Beispiel des rheinhessischen Weindorfes Guntersblum, wie der Hass wucherte, ausbrach und welche Folgen er hatte. Das heutige Bild des Novemberpogroms 1938 wird von den Vorgängen in Berlin und einigen anderen großen Städten wie München oder Essen dominiert. Doch das eigentlich Schockierende an den antisemitischen Übergriffen der »Reichskristallnacht« war, dass sie anders als frühere organisierte Pogrome tatsächlich reichsweit und bis in die Provinz hinein stattfanden. Die Novemberpogrome sind die Zäsur zu einer neuen Qualität und Intensität der Verfolgung. Gerade der Blick in ein ganz normales Dorf macht die erschreckende Normalität des Judenhasses greifbar und unmittelbar einsichtig. Hier kannten sich Opfer und Täter tatsächlich, lebten eng zusammen. Sven Felix Kellerhoff erzählt von den ergreifenden Schicksalen der Betroffenen in Guntersblum. Er zeigt, wie das Gift des Antisemitismus sich ausbreitete, wie die Situation ab 1933 eskalierte, was im November 1938 genau geschah und wie die Vergangenheit den Ort bis heute nicht loslässt.

Sven Felix Kellerhoff, geboren 1971 in Stuttgart, studierte Zeitgeschichte, Alte Geschichte und Medienrecht. Nach verschiedenen journalistischen Stationen ist er heute Leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte der Welt. Er ist Autor zahlreicher zeithistorischer Sachbücher. 2012 erhielt er den Ehrenpreis der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.

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Unerwünschte Aufmerksamkeit


Idyllisch schmiegen sich alte Kelterhäuser an sanft ansteigende Weinberge. Die meisten Bruchsteinfassaden sind penibel gepflegt, viele der halbrunden Doppeltore frisch lackiert. Manche stehen offen und erlauben durch Glas den Blick in kleine, sorgfältig eingerichtete Probierstuben. Der Kellerweg ist der ganze Stolz der rheinhessischen Gemeinde Guntersblum zwischen Worms und Mainz; nur hin und wieder stört eine Bausünde aus den 1960er- und 1970er-Jahren das Idealbild eines wohlhabenden Weindorfes. Nirgendwo in Deutschland haben sich mehr alte Weinbereitungs-Gebäude in Reih und Glied erhalten. Zwar wird hier längst kein Most mehr vergoren, denn die Häuser am Kellerweg sind zu niedrig für moderne Gärtanks und die Tore zu schmal für heutige Lastwagen, aber viele Kelterhäuser sind umgebaut zu begehrten Wohnungen; andere stehen leer und erwachen nur bei den regelmäßigen Weinfesten zum Leben, vor allem beim traditionellen und überregional beliebten Kellerwegfest im August. Produziert wird der Guntersblumer Wein schon längst zu Füßen des Kellerwegs, bei knapp einem Dutzend mittlerer und größerer Winzer; Traubenduft hängt in der Luft. Auf Weinbergen in den weitläufigen Hügeln des Guntersblumer Löß und auf einigen Feldern in der Ebene bis zum drei Kilometer entfernten linken Rheinufer wachsen Hektar um Hektar wertvolle Reben. Manche kleinere Parzelle liegt innerorts, in Gärten hinter Einfamilienhäusern oder vor dem mit 60 Betten einzigen größeren Hotel.

Die Gemeinde sonnt sich in ihrer mehr als 1100-jährigen Geschichte. Auf fast 50 eingetragene Kulturdenkmäler kommt der Ort mit seinen heute gerade einmal knapp 4000 Einwohnern. Darunter sind gleich zwei barocke Grafenschlösser und die romanische Kirche St. Viktor mit den in Mitteleuropa nur an vier anderen Orten erhaltenen Sarazenentürmen, deren Form heimkommende Ritter des ersten Kreuzzuges inspiriert hatten. In manchen Straßen steht ein historisches Haus neben dem anderen; einige schmale, teilweise gerade einen Meter breite Gässchen haben sich seit dem Mittelalter kaum mehr verändert. Sogar der alte Befestigungsgraben ist am südwestlichen Rand des Ortskerns noch erhalten, als baumgesäumte Promenade. Guntersblum ist eine selbstbewusste Gemeinde, die mit ihren Reizen nicht geizt und Gäste freundlich empfängt. Besonders zu Weinfesten und zahlreichen Winzerabenden zeigt sich der Ort von seiner besten Seite.

Die Idylle bekam Anfang November 2008 schlagartig tiefe Risse. Denn kurz vor dem 70. Jahrestag der als »Reichskristallnacht« bekannten antisemitischen Ausschreitungen von 1938 veröffentlichte die Berliner Tageszeitung Die Welt unter der Überschrift »Öffentlich gedemütigt« zwei erschütternde Bilder.1 Sie zeigen fünf Männer meist fortgeschrittenen Alters, die im Gänsemarsch über das Kopfsteinpflaster der Hauptstraße von Guntersblum schlurfen. Ihre Gesichter sind wie versteinert; sie tragen schwarze Talare mit festgeknoteten hellen Schals und schleppen große Rollen mit Griffen. Vorneweg läuft als sechster ein etwas jüngerer Mann im Kittel mit einer seltsamen Mütze auf dem Kopf, der den Zug mit einer Schelle ankündigt. Mehrere Uniformierte mit Hakenkreuzbinden und ein paar Arbeiter in Kluft begleiten die Männer. Außerdem laufen viele Kinder mit; manche schieben Fahrräder. Ein paar Schuljungs zeigen mit den Fingern auf die sechs traurigen Marschierer und grinsen. Ein Mädchen rennt fröhlich an den Männern entlang, andere tuscheln. An den Fenstern der Häuser stehen nur wenige Erwachsene, bei anderen Gebäuden sind die Vorhänge vorgezogen. Auf einem Foto ist zu erahnen, dass die schlurfenden Männer mit Sand oder kleinen Steinen beworfen werden, auf einem weiteren sieht man, wie der vorneweg gehende Mann von einem Uniformierten hart am Arm gepackt wird. Es sind Bilder des Grauens, aufgenommen am 10. November 1938. Sie zeigen die öffentliche Demütigung der Guntersblumer Juden anlässlich der schlimmsten antisemitischen Ausschreitungen in Mitteleuropa seit mehreren hundert Jahren.

In der örtlichen Ausgabe der Allgemeinen Zeitung aus Mainz griff ein Lokalreporter den Bericht der Welt umgehend auf. »Samt Thora-Rollen durchs Dorf getrieben« war sein Aufmacher überschrieben, der den Artikel des überregionalen Blatts zugespitzt zusammenfasste und vor allem auf die Rolle von Carl Rösch einging, des in der Welt namentlich überhaupt nicht genannten Bürgermeisters und NSDAP-Ortsgruppenleiters im Jahr 1938.2 Rösch hatte bis zu seinem Tod sechseinhalb Jahrzehnte später als geachteter Bürger in Guntersblum gelebt. War er die treibende Kraft hinter der Demütigung gewesen – oder unbeteiligt? Der Artikel schreckte den beschaulichen Ort auf, denn einerseits waren die eindeutig dort entstandenen Fotografien von 1938 bis dahin völlig unbekannt. Andererseits brachte der Lokalreporter die abgebildeten Ereignisse in Zusammenhang mit einem fremdenfeindlichen Übergriff beim Kellerwegfest 2007 mit mutmaßlich rechtsextremistischem Hintergrund, der bundesweit für Aufsehen gesorgt und sogar den Innenminister von Rheinland-Pfalz beschäftigt hatte. Der Mainzer Landtag diskutierte den Angriff, den Bürger durch couragiertes Eingreifen beendet hatten und der juristisch geahndet werden konnte.3

Es gab keinerlei Zusammenhang zwischen den in der Welt dokumentierten Ereignissen von 1938 und dem Übergriff 69 Jahre später. Dennoch reagierten viele im Ort tief verunsichert: »Inzwischen geht in Guntersblum die Frage um, ob das Bild des Bürgermeisters der damaligen Zeit aus der ›Ehrenleiste‹ im Sitzungssaal des Rathauses entfernt werden sollte«, stand in der Lokalzeitung.4 Selbst aufgeklärte, um die Geschichte Guntersblums verdiente Bürger wie der pensionierte evangelische Pfarrer wurden ausfallend: »Unsachlich und beleidigend« sei der Welt-Artikel gewesen, behauptete er, meinte jedoch gar nicht diesen Text, sondern die zugespitzte und verfälschte Berichterstattung darüber in den Lokalzeitungen.5 Das örtliche Gemeindeblatt hatte die Debatte im Ort zusätzlich angeheizt, indem es die möglichen Profiteure der Judenverfolgung ins Spiel brachte: »Bis in die Gegenwart hinein wurden und werden die Täter von damals in diesen Gemeinden geschont. Es ist immer noch ein Tabu zu hinterfragen, wer eigentlich in jenen Jahren der Nazi-Diktatur in den Besitz des jüdischen Eigentums kam.«6

Wie um dieses jahrzehntelange Wegschauen zu bestätigen, tauchte in Guntersblum umgehend ein »Entlastungsdokument« für Bürgermeister Rösch auf, das im Lokalblatt unwesentlich gekürzt abgedruckt wurde.7 Es stammte aus dem Jahr 1947, aus der Zeit der Entnazifizierung, war von einem örtlichen Kommunalbeamten namens Karl Kipp verfasst und las sich wie ein klassischer »Persilschein«: ein Gefälligkeitszeugnis unter Bekannten. Demnach hätte der Guntersblumer Bürgermeister, zur Zeit des Demütigungsmarsches 1938 ein junger Mann von 31 Jahren, »die Judenaktion« als »unmenschlich und beschämend für die deutsche Nation abgelehnt. Er stellte sich bewusst gegen die Anweisung der Parteiführung und sagte zu mir wörtlich: ›Da mache ich nicht mit‹«, hieß es in dem angeblichen Entlastungszeugnis. Allerdings konnte es nicht erklären, warum Rösch trotzdem in seinem Parteiamt blieb und weiter als Bürgermeister tätig war. Laut Kipps Darstellung hätte er in Guntersblum »keine Machenschaften gegen die Juden« ausgelöst. Im Gegenteil sei ihm seine Zurückhaltung negativ ausgelegt worden: »Nachdem in der Umgegend bekannt wurde, dass man gegen die Juden in Guntersblum nichts unternahm, kamen auswärtige Gliederungen wie SA und SS aus Osthofen und demolierten die Wohnungseinrichtungen der Juden. Guntersblumer SA-Angehörige beteiligten sich hieran ebenfalls, nachdem die Befehlsgewalt von Herrn Rösch während dieser Aktion an den späteren Ortsgruppenleiter Peter Fießer abgegeben wurde.« Laut Kipps Erklärung verließ Rösch Guntersblum an diesem 10. November 1938 für »eine Reise«, während er selbst an diesem Tag seinen Dienst unterbrach, aus dem Gemeindehaus ging und seine Wohnung aufsuchte: »Ich wollte kein Zeuge dieser Affäre sein und dokumentieren, dass ich hiermit nichts zu tun haben will. Ich bin Zeuge dafür, dass man den Bürgermeister und Ortsgruppenleiter Rösch dieses Verhaltens wegen mit dem Ausdruck ›Judenknecht‹ belegte.« Um zu bestätigen, dass die Guntersblumer Juden von Carl Rösch und der Ortsverwaltung eigentlich gut behandelt worden seien, fügte der ehemalige Gemeindesekretär hinzu: »Während der Auswanderungszeit wurden die Juden ...

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