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E-Book

Erinnerungen, Band 1

Vollständige Ausgabe

AutorFritz Mauthner
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl391 Seiten
ISBN9783849618315
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Dieser Band enthält den ersten Teil der Biografie Mauthners, die Prager Jugendjahre.

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Leseprobe

 


Wichtiger als die Tatsache, daß ich die Kaserne nicht kennenlernen sollte, waren für mich die beiden Umstände, die mein Schülerdasein von dem irgendeines andern deutschen Jungen unterschieden: ich war Jude und ich lebte als deutscher Knabe in einem slawischen Lande. Ich muß wirklich auf beide Umstände ein wenig eingehen.

 

Ich war von Abstammung Jude, Jude aus einem nordöstlichen Winkel Böhmens, und habe doch jüdische Religion und jüdische Sitten eigentlich niemals kennengelernt; höchstens häufiger als ein deutsches Kind die jüdische Sprechweise und Mauschelausdrücke gehört. Mein Elternhaus stand dem jüdischen Wesen fremd gegenüber. Ich war in der seltenen und fast einzigen Lage, daß schon meine beiden Großväter in einer Zeit, da die Juden kaum dem Ghetto zu entwachsen anfingen, sich vom Judentum so gut wie losgelöst hatten, der eine durch sein Leben praktisch, der andere als junger Mann auch offiziell. Der Vater meines Vaters hatte gegen die Gesetze seiner Zeit und durch besondere kaiserliche Erlaubnis so etwas wie ein Rittergut mit einem Schlosse erworben, nicht gar weit von Königgrätz an der Elbe; dort imitierte er mit seiner viel jüngern Frau das Leben eines vornehmen Landjunkers, verkehrte mit Juden nur geschäftlich und hauste so adelig, daß nach seinem Tode das Gut versteigert werden mußte und seine beiden Söhne als arme Teufel zurückblieben. So viel ich auch zurückdenke, ich kann mich nicht erinnern, meinen Onkel oder meinen Vater auf der Übung eines jüdischen Gebrauchs ertappt zu haben. Nach jüdischer Anschauung ist Zugehörigkeit zum Judentum ohne Kenntnis der hebräischen Sprache nicht denkbar; mein Vater aber kannte keinen hebräischen Buchstaben. An hohen jüdischen Feiertagen pflegte er mit einem gewissen Selbstvorwurfe zu sagen: »Ihr wachst ja auf wie die Heiden«; darin bestand die ganze religiöse Erziehung, die er uns zuteil werden ließ. Als ich einmal die alten Zeremonien des jüdischen Osterfestes kennenlernen wollte, mußte ich mich ja für den Vorabend des Passahfestes von einem alten Verwandten, einem Schwager meiner Mutter, dazu einladen lassen; ich habe so einen der hübschesten und ältesten jüdischen Bräuche nur das eine Mal kennengelernt und ganz so neugierig wie ein Außenstehender. Wie ein »Goj« (Christ) hätte ich dabeigesessen, sagte dieser Onkel nachher.

 

Der Vater meiner Mutter gar, der steinalte Mann, der wohl einer Lebensbeschreibung wert wäre, war schon als Jüngling, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, der Sekte der Frankisten beigetreten, die ihre Anhänger aus kabbalistischen oder abtrünnigen Juden rekrutierte und irgendeinen neuen Messias erwartete oder glaubte, einen Vollender von Jesus Christus. Mein Großvater soll in dieser militärisch organisierten Sekte (auf dem Schlosse Franks in Offenbach am Rhein) Offizier gewesen sein und nach dem Ende der Bewegung die Dokumente und auch das Bild der »Königin« in Verwahrung gehabt haben. Die Sekte wurde dann öfters hart verfolgt, in Rußland wie in Österreich; mein Großvater kehrte in seine Heimat zurück und lebte von da ab als Religionsspötter, wenn er es auch für schicklich hielt, an hohen Festtagen die Synagoge zu besuchen. In der kleinen Judengemeinde von Horzitz galt er für einen Gelehrten, für einen Freigeist, für einen Ketzer. Als er im Patriarchenalter 1876 starb, folgten seiner Leiche ein Rabbiner, aber auch ein katholischer und ein protestantischer GeistlicherIII.

 

Mein Elternhaus war eigentlich konfessionslos. Ich bin erst als Mann offiziell aus der jüdischen Religionsgemeinschaft ausgetreten, ohne mich zu einer andern Religion zu bekennen. Es war mir lästig geworden, daß nach jeder Volkszählung irgendein Schutzmann Anstoß daran nahm, wenn ich die Rubrik Religion nicht ausfüllte. Auch diesen Schritt fand meine alte Mutter einfach selbstverständlich. Sie war einigermaßen stolz darauf, daß schon ihr Vater kein gläubiger Jude gewesen war.

 

Man wird jetzt besser verstehen, was ich vorhin mit einer Klage, die mein Empfinden nur ungenügend ausdrücken konnte, vorgetragen habe: daß mir zum Dichter, der ich mich doch fühlte, außer einer deutschen Mundart, der wahren Muttersprache, auch noch der Untergrund eines Jugendglaubens fehlte, eine Mutterreligion. Mein Vater war, um es kurz und schroff auszudrücken, areligiös, meine Mutter antireligiös. Der Vater war buchstäblich ohne Kenntnis irgendeines Katechismus aufgewachsen; er wird das Dasein irgendeines Gottes, über dessen Namen er sich sicherlich nicht klar war, etwa so angenommen haben, wie er überzeugt war, daß die Kinder ihren Teller nicht zum zweiten Male gefüllt bekamen, wenn sie nicht vorher »Bitte noch« gesagt hatten. (Ich lernte diese Bitte um das tägliche Brot nachsprechen, bevor ich die Worte verstand; ich hielt sie lange für den tschechischen Namen einer Speise; ich brachte sie etymologisch mit Kutzmoch, Schusterknödel, in Zusammenhang.) Der Vater hatte solche Überzeugungen von dem, was sich schickte; Glaube an irgendeinen Gott war ihm Wohlanständigkeit wie etwa den Engländern. Da der Vater aber niemals ein Wort oder einen Begriff der jüdischen Religion über die Lippen brachte, möchte ich fast glauben, daß sein Gottesbegriff irgendwie (nicht auf Grund von Lektüre) dem höchsten Wesen eines christlichen Deismus entsprochen habe. Die Mutter dagegen wußte viel vom Judentum zu erzählen, von den Zeremonialgeboten und von dem Scharfsinn, der Schlauheit und dem Geschäftsgeiste der Rabbiner; sie erzählte solche Geschichten als wie Legenden aus einer vergangenen Zeit; ohne Spott und selbst Blasphemien ging es nicht ab; Heine wurde zitiert und – wenn es hoch kam – die Toleranz von Lessings Nathan. Ich darf wohl annehmen, daß wir Kinder von ihr die Ketzereien zu hören bekamen, die der Großvater ihr als seinen Religionsunterricht überliefert hatte. Das Judentum war die einzige Religion, die sie kannte, und der brachte sie keine Achtung entgegen.

 

In solchen Traditionen aufgewachsen, wußte ich bis zu meinem achten Lebensjahre kaum, was das bedeutete, daß wir Juden waren. Ich kann nicht sagen, ob es ein Wunsch meines Vaters war; jedenfalls gehörte Religion und Bibellesen nicht zu dem Lehrplane unseres Hofmeisters. Der Staat aber schützt die Religion in jeder Gestalt, schützt auch die Judenschule, und so hatte ich auch »jüdische Religion« nachzuholen, als ich auf die Klippschule kam, wo mir die drei Jahre gestohlen wurden. Unter »jüdischer Religion« verstand man aber nach altasiatischer Vorstellung nicht irgendwelchen Religionsunterricht, sondern einzig und allein Kenntnis des Hebräischen und Lesen der Bibel. Als ich diese Schule betrat, hatte ich keine Ahnung von einem hebräischen Buchstaben; ein Jahr später konnte ich im Hebräischen ebenso vorgeritten werden wie beim Aufsagen der tschechischen Bürgschaftübersetzung. Bei den außerordentlichen Schwierigkeiten der hebräischen Sprache und bei dem völlig unwissenschaftlichen Betriebe des Unterrichts konnte es sich gar nicht um ein Eindringen in den Geist der Sprache handeln, sondern nur um Gedächtniskram.

 

Die wissenschaftliche Erforschung der hebräischen Sprache ist erst nichtjüdischen Gelehrten gelungen; jüdische Gelehrte, die etwas leisten wollten, hatten die jüdische Tradition verlassen müssen. Ich bedaure sehr, daß ich diese allzu rasch erworbenen Kenntnisse ebenso rasch wieder eingebüßt habe; was ich vom Baue der semitischen Sprachen später für meine Arbeiten brauchte, habe ich ganz neu lernen müssen.

 

Schlimmer war es, daß mir auch religiöse Kämpfe nicht erspart wurden, als diese jüdischen Kenntnisse so plötzlich auf mich niederdroschen. Ich machte die Entdeckung, daß ich ein Jude war, und meine leidenschaftliche Seele verführte mich, die fünfhundert oder siebenhundert Gebote und Verbote, die der Rabbinismus aus der Bibel gezogen hat, ernst zu nehmen. Ich wollte ein frommer Jude werden, um die Seelen meines Vaters und meiner Mutter zu retten. Ich habe diese kindischen Kämpfe einmal darzustellen gesucht, in dem Tagebuche des Helden, das man in meinem Romane »Der neue Ahasver« nachlesen kann, wenn man mag. Das Tagebuch habe ich erst für diesen Roman niedergeschrieben, und so ist es, wenn man will, erfunden; aber meine religiösen Kämpfe sind darin (wie zu meiner Freude schon Wilhelm Scherer bemerkt hat) eigentlich ganz getreu und realistisch erzähltIV. Ich will nicht wiederholen, wie ich viele Monate lang in unserem völlig religionslosen Hause die jüdischen Zeremonialgesetze (deren Sinnlosigkeit mir doch wieder nicht entging) heimlich zu beobachten suchte, wie ich dann durch den Umgang mit meinen katholischen Mitschülern dazu kam, Jehova mit Jesus zu vertauschen, wie ich in allen katholischen Kirchen herumkniete, inbrünstig die Heiligen aller Kapellen um ein Wunder bat, wie ein Lehrer, der meinen Zustand erkannt hatte, mich in die glänzenden Predigten des Jesuiten Klinkowström schickte, wie mich dieser Pater dazu brachte, zuerst einige Kirchenväter und dann Kirchengeschichte zu studieren, wie ich nach einem eifrigen aber sehr dilettantischen Katholizismus von zwei Jahren, nach einer flüchtigen und nicht ganz religiösen Begeisterung für Luther endlich in meinem fünfzehnten Jahre als wütender Atheist kirchenfeindlich wurde. Diese Gesinnung hat dann etwas länger vorgehalten; ich bin alt geworden, bevor ich einsehen lernte, daß unsere Zeit zu ruhig gottlos ist, um noch so recht kirchenfeindlich sein zu...

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