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Erinnerungen an das 20. Jahrhundert

Merseburg, Ahlsdorf, Udersleben, Leipzig

AutorManfred Jannot
VerlagJust 4 Business GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl328 Seiten
ISBN9783946487098
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Manfred Jannot, zu Beginn des Dritten Reiches geboren, im Zweiten Weltkrieg zur Schule gegangen, hat im ersten Arbeiter- und Bauernstaat studiert, getingelt und malocht, hat dreimal geheiratet, ist zweimal geschieden und hat vier Kinder gezeugt. Sein Leben lang hat er alles gegeben, das Richtige zu tun. Das war manchmal falsch, oft nicht leicht, aber niemals schlecht. Klarsichtig und mit genauer Sprache erzählt er in diesem Buch sein Leben, bis zu dem Punkt, an dem einer seiner Söhne unvermutet zurückkehrt.

Manfred Jannot, geboren 1933 in Ahlsdorf (Sachsen-Anhalt), lebt seit 1968 in Leipzig (Sachsen). Dort studierte er Pädagogik mit Abschluss als Diplomlehrer. Davor arbeitete er als ausgebildeter Schweißer und Rohrschlosser. Später war er am Bau der Druschba-Trasse beteiligt. Bis zur Wende leitete er eine Abteilung der Städtischen Wohnungsverwaltung Leipzig. Nebenbei musiziert er seit Jahrzehnten als Sänger und Gitarrist.

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Leseprobe

Es gibt Dinge und Erlebnisse im Leben, an die erinnert man sich noch nach Jahrzehnten. Für den Außenstehenden mögen sie oft banal erscheinen, für den, der sie erlebt hat, sind sie von außerordentlicher Bedeutung, weil sie sich tief und unauslöschlich in das Gedächtnis gegraben haben.

Ich liege in meinem Kinderbett. Mein Vater hat seinen Anzug an und einen Schlips umgebunden. Er erscheint mir fremd. In ihrem schönsten Kleid sitzt meine Mutter vorm Spiegel und kämmt sich das Haar besonders sorgfältig. Da ahne ich, dass ich bald allein gelassen werde. Mein Vater setzt sich auf den Bettrand, streichelt mir das Haar und mit ruhiger Stimme erzählt er mir, dass sie bald wiederkommen, ich keine Angst haben und vor allem nicht weinen soll. Ich sei doch schon ein großer Junge. Außerdem werden sie mir etwas Schönes mitbringen. Meine Mutter steckt die sorgfältig in Pergamentpapier eingewickelte Doppelschnitte in ihre Handtasche. Dann fällt die Kammertür ins Schloss. Ich bin allein und fürchte mich im halbdunklen Zimmer vor den Schatten, die die Möbel werfen. Die Stille macht mir Angst. Ich möchte weinen, aber die Angst vor dem Nichts drückt mir die Kehle zu. Wenn ich nun für immer allein sein muss, weil meine Eltern nicht wiederkommen? Wohin sind sie gegangen? Warum weiß ich nicht, wo sie sind? So viel Ungewissheit. Endlich nimmt mich der Schlaf in seine gnädigen Arme.

Am anderen Morgen ist es hell in der Schlafkammer. Sie sind wieder da. Die Angst war umsonst. Der Wuschelkopf meiner Mutter kämpft sich unter der Federdecke hervor; Vater schläft ruhig und tief. Neben mir auf dem Stuhl steht das versprochene schöne Mitbringsel: ein mit brauner Schokolade überzogener Mohrenkopf, gefüllt mir süßer weißer Sahne. Der Stammvater aller Dickmänner. Aber die gab es ja damals noch nicht, oder doch?

Dass es Vaters einziger Anzug war, wahrscheinlich sein Hochzeitsanzug, als er auf meinem Bettrand saß und beruhigend mit mir sprach, das konnte ich noch nicht wissen. Auch meine Mutter in ihrem schönsten Kleid hatte nur noch ein Kostüm und ein oder zwei Kleider für kühlere Tage im Kleiderschrank. Die Doppelschnitte in ihrer Handtasche war eine Sparmaßnahme, weil sie sich in der Tanzpause das Paar Wiener Würstchen nicht leisten konnten, die ein Arbeitsloser aus einem Thermosbehälter, den er an einem Gurt vor sich hertrug, zum Kauf anbot. Die paar Groschen mussten ja noch für das versprochene Mitbringsel reichen, und die Rate für die Schlafzimmermöbel war auch bald fällig.

Es war ein ganz normaler Tag. Ich spielte mit meiner rosafarbenen Gummipuppe allein vor dem Haus, in dem wir zur Miete wohnten. Ich mochte die Puppe sehr, denn wenn man auf ihren Bauch drückte, gab sie einen lustigen Quietscher von sich. Wie aus dem Nichts stand plötzlich eine Horde großer Jungs vor mir. Sie hatten sich aus Stöcken und Bindfäden Flitzebogen und Pfeile gebastelt. In ihren Gürteln steckten Holzmesser, und einige hatten Hühnerfedern im Haar. Dass es Indianer auf Kriegspfad waren, das konnte ich noch nicht wissen, sonst wäre ich ins Haus geflüchtet. Ohne ein Wort zu sagen, nahm mir der größte Junge die Gummipuppe weg, klappte ein richtiges Taschenmesser auf und schnitt meiner Puppe den Kopf ab. Dann zerschnitt er auch den Puppenkörper. Sie quietschte fürchterlich. Die rosafarbenen Schnipsel warf er mir achtlos vor die Füße. Ich war über das Zerstückeln meiner Puppe so entsetzt, dass ich nicht schreien konnte. Mit ausgestreckten Händen und stumm vor Schreck rannte ich ins Haus zu meiner Mutter. Als sie endlich begriff, was geschehen war, hatten sich die Indianer lachend und stolz auf ihre Heldentat aus dem Staub gemacht. Zurück blieben die rosaroten Gummischnipsel und ein unglücklicher kleiner Junge. In meiner kindlichen Naivität konnte ich nicht ahnen, dass dieses Spiel bereits ein paar Jahre später millionenfach zu brutalem Ernst werden sollte.

Die Zeit blieb nicht stehen. Ich war größer geworden und stromerte mit meinen Freunden durch unseren Heimatort. Von der Größe her hätte es für eine Kleinstadt gereicht, aber der Ort hatte keinen Bahnhof und blieb deshalb – das nehme ich an – ein Dorf. Aber ein Dorf wird geprägt von Bauern, Kühen und Schweinen. Das alles gab es aber auch nicht, denn die Felder rund um den Ort wurden von einem Rittergut, zu dem auch eine Schäferei gehörte, mit seinen Knechten und Mägden und den Tagelöhnern bewirtschaftet. Alle anderen, außer den Krämern, den Gastwirten, den Lehrern, dem Pfarrer und dem Bürgermeister, der hier „der Schulze“ genannt wurde, waren Bergleute. Alle waren Bergleute, meine Opas, meine Onkel, mein Vater, eben alle, die ich kannte. Auf Knien krochen sie mit ihren Presslufthämmern in der Tiefe des Berges für einen Hungerlohn den Erzadern hinterher – Staublunge inklusive. Der Kaiser brauchte das Kupfer, Hitler erst recht. Am wenigsten brauchten es die Bergleute selbst. So hart wie die Arbeit, so rau und herzlich war das gesamte Leben. Kameradschaft war alles.

Im Sommer kamen die polnischen Schnitter mit ihren Familien, um die Ernte einzubringen. Die Großmutter – die Babuschka – blieb mit den kleinsten Kindern in der Scheune, wo alle schliefen, und kümmerte sich um das Abendbrot. Alle waren auf den Feldern. Im Akkord mähten die Männer das Getreide, die Frauen banden es zu Garben und die Kinder stellten die Puppen auf, wo die Getreidegarben bis zum Dreschen nachtrocknen konnten. Wochenlang kein eigenes Zuhause. Viele junge Männer blieben nach der Ernte im Ort und wurden Bergleute. Das war allemal noch besser als das Zigeunerleben zur Erntezeit. Sie heirateten deutsche oder auch ihre polnischen Mädchen und über Jahrzehnte hieß jede dritte oder vierte Familie bei uns Kowalsky, Wischnewski oder Wischinsky. Das störte keinen. Unter Tage zählte nur Kameradschaft. Man musste sich auf seinen Partner verlassen können, egal ob er Wischinsky oder Müller hieß. Das Wort Integration kannte keiner.

So hart, wie die Arbeit war, so deftig wurde gefeiert. Ostern und Weihnachten waren nicht so wichtig. Aber Pfingsten, da wurde das Dreckschweinfest gefeiert, ursprünglich ein heidnischer Brauch: Der Frühling vertreibt den Winter. Die Dreckschweine waren die Pfingstburschen, die den grauen Winter verkörperten. Wie zum Karneval mussten sie sich etwas einfallen lassen, sie waren Teufel, Ochsengespann oder Ziegenböcke und wälzten sich im Bach oder eigens dafür vorbereiteten Suhlen. Den Frühling verkörperten die drei Läufer, von Kopf bis Fuß in engen Kniehosen ganz in Weiß gekleidet, auf den Köpfen Blütenhüte mit bunten Bändern bis zur Hüfte. Die Läuferpeitschen mit dem kurzen kräftigen Stiel und meterlangen Seil ließ man über die Köpfe kreisen, um mit kurzem Ruck in entgegengesetzter Richtung einen scharfen Peitschenknall hervorzubringen. Das Peitschenkonzert zu dritt wurde ganzjährig heimlich geübt, denn zu Pfingsten musste das Peitschenkonzert makellos funktionieren. Um Läufer zu werden, musste man viele Jahre untadeliger Pfingstbursche sein. Beim Vertreiben des Winters aus dem Wald ging es hart zur Sache. Alles, was laufen konnte, war auf den Beinen. Wenn die Läufer ihre Peitschen in kurzen Abständen dreimal knallen ließen, hieß es für die Dreckschweine Abmarsch Richtung Heimat. Die Dreckschweine gingen nicht immer freiwillig. Die Läufer trieben sie mit ihren Peitschen aus dem Wald. Wehe, ein Dreckschwein hätte einen Läufer in Weiß beschmutzt! Der Ausschluss aus dem Pfingstverein wäre die Strafe gewesen. Diese Schande riskierte keiner.

Zwei Stunden später marschierten alle Pfingstburschen, und dabei lag die Betonung auf „alle“, frisch gewaschen mit einer roten oder weißen Pfingstrose im Knopfloch bei Blasmusik durchs Dorf bis zum Festplatz. Der Sommer hatte den Winter besiegt, und für alle begann der Tanz auf der festlich geschmückten Tanzfläche. Für uns Kinder gab’s Waldmeister- oder Himbeerbrause und dazu noch eine Rolle Drops.

Das Glück war vollkommen.

Weniger beachtet begann das Pfingstfest schon ein paar Tage früher. Da wurden die bestellten Pfingstmaien – also junge Birkenbäumchen – per Pferdewagen im Ort verteilt. Zu diesem Zweck hatten sich die Pfingstburschen in mehrere Gruppen aufgeteilt und fuhren von Haus zu Haus. Begleitet wurden die Burschen von ein paar Musikern und einem Kutscher. Das Verteilen der Maien ging so: „Wir bringen für die Familie Soundso die bestellte Pfingstmaie“ – Tusch! – „Die Familie Soundso lebe hoch!“ – Tusch!

Das Honorar für das Bäumchen – manchmal waren es auch zwei – wurde eingesammelt. Der Hausherr gab eine Runde Schnaps oder ein Bier aus, und die Birkenbäumchen wurden in die vorbereiteten Wassereimer vor der Tür gestellt. Die Kapelle spielte ein paar Walzertakte, und der Hausherr tanzte mit seiner Gattin auf dem Hof oder auf der Straße. Am Nachmittag war der Wagen leer, die Pfingstburschen, die Musiker und der Kutscher waren voll. Nur die Pferde blieben nüchtern, und die kannten den Weg nach Hause, Gott sei Dank, ganz genau.

Meine Eltern waren schon mehrmals im Ort umgezogen, aber unsere...

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