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Flüchtige Zeiten

Leben in der Ungewissheit

AutorZygmunt Bauman
VerlagHamburger Edition HIS
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl168 Seiten
ISBN9783868545708
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Wir leben in einer Welt des Übergangs von der 'festen' zur 'flüssigen' Moderne. Unsicherheit und Ungewissheit prägen den Alltag vieler Menschen, denen ohne stabile gesellschaftliche Formen und Institutionen ein Bezugsrahmen sowohl für ihr Handeln als auch für langfristige Lebenspläne fehlt und die sich gezwungen sehen, ihr Leben aus einer endlosen Abfolge von kurzfristigen Projekten und Episoden zusammenzuflicken. Konzepte wie 'Karriere' oder 'Fortschritt' können nur noch von wenigen aktiv verfolgt werden, und 'in Sicherheit zu leben' bedeutet schon heute vielerorts - vorausgesetzt, man kann es sich leisten -, bewacht zu werden und abgeschottet zu sein von den Wirren der globalen Megacitys, von Armut und dem 'menschlichen Abfall'. Der renommierte Soziologe Zygmunt Bauman erkundet in diesem Band die endemische Unsicherheit, die unser heutiges Leben formt. In 'flüchtigen Zeiten' wird dem Individuum ein sehr hohes Maß an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit abverlangt und die permanente Bereitschaft, Taktiken zu ändern, Verpflichtungen und Loyalitäten ohne Bedauern fallenzulassen und Gelegenheiten je nach kurzfristiger Verfügbarkeit zu ergreifen. Leben bedeutet mit der Ungewissheit umzugehen.

Zygmunt Bauman ist Professor emeritus für Soziologie an der Universität Leeds. 1992 erhielt er den Amalfi-Preis für Soziologie und wurde 1998 mit dem Theodor W. Adorno-Preis der Stadt Frankfurt ausgezeichnet. Sein umfangreiches, auch in deutscher Sprache vorliegendes Werk beschäftigt sich mit der Ambivalenz der Moderne, der Postmoderne sowie den Auswirkungen der Globalisierung.

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Leseprobe

Menschheit in Bewegung


Rosa Luxemburg bemerkte vor 100 Jahren, dass »die Kapitalakkumulation in ihren sachlichen Elementen tatsächlich an nichtkapitalistische Kreise gebunden«1 sei, sich jedoch alsbald daranmache, ebenjene Bedingungen zu assimilieren, die allein ihre Existenz garantieren könnten. Nichtkapitalistische Milieus sind ein fruchtbarer Boden, auf dem der Kapitalismus gedeihen kann: Das Kapital ernährt sich von den Überresten solcher Milieus, und obwohl dieses nichtkapitalistische Umfeld für die Akkumulation von Kapital unentbehrlich ist, erfolgt diese nichtsdestoweniger auf dessen Kosten und zehrt somit an seiner Substanz.

Es ist das inhärente Paradox des Kapitalismus und langfristig sein Verderben, dass er wie eine Schlange ist, die ihren eigenen Schwanz frisst. Man kann es auch anders ausdrücken, in Begriffen, die Rosa Luxemburg nicht geläufig waren, weil sie erst in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten geprägt worden sind, einer Zeit, in der der Abstand des Schwanzes vom Magen sich schnell verringert hat und die Unterscheidung zwischen »Fresser« und »Gefressenem« zunehmend schwieriger wurde. Der Kapitalismus bezieht seine Lebensenergie aus einer Praxis, die man »asset stripping« nennt und die in jüngster Zeit vor allem im Zusammenhang mit der weitverbreiteten Praxis der »feindlichen Übernahmen« zutage tritt. Diese Praxis verlangt nach immer neuen Vermögenswerten, die ausgeschlachtet werden können – wird sie global angewandt, ist jedoch abzusehen, dass das Angebot früher oder später erschöpft oder so stark geschrumpft sein wird, dass ihr die Grundlage entzogen ist. Die bei der Zerschlagung eines Unternehmens veräußerten Vermögenswerte sind der Ertrag der Arbeit anderer Produzenten – doch mit jedem Produzenten, der seiner Vermögenswerte beraubt und vernichtet wird, nähern wir uns langsam, aber unweigerlich dem Punkt, an dem keine Vermögenswerte mehr übrig sein werden, die man zerlegen und veräußern könnte.

Mit anderen Worten: Die Vision Rosa Luxemburgs war, dass der Kapitalismus an Nahrungsmangel zugrunde gehen, dass er gleichsam verhungern werde, sobald die letzte Weide des »Andersseins« abgegrast ist. Doch 100 Jahre später hat es den Anschein, dass ein fatales, ja vielleicht das fatalste Ergebnis des weltweiten Siegeszugs der Moderne eine schwere Krise der Industrie ist, die »menschlichen Abfall« entsorgt, denn mit jedem neuen Vorposten, den die Kapitalmärkte erobern, vergrößert sich das Heer an Männern und Frauen, die bereits ihres Grund und Bodens, ihrer Arbeitsplätze und ihrer sozialen Sicherungsnetze beraubt worden sind, um Tausende oder gar Millionen von Menschen.

Die Misere der Armen überall auf der Erde, die von ihrem Land vertrieben wurden und in den rasant wuchernden Slums der nächstgelegenen Megalopolis ums Überleben ringen, wird von Jeremy Seabrook eindringlich beschrieben: »Die Armut ist weltweit auf der Flucht. Nicht, weil sie vom Reichtum vertrieben wird, sondern weil sie aus dem ausgelaugten, umgestalteten Hinterland verdrängt worden ist […]. Die von den Armen bestellte Erde ist süchtig nach Dünger und Pestiziden und erbringt keinen Überschuss mehr, der sich auf dem Markt verkaufen ließe. Das Wasser ist kontaminiert, die Bewässerungskanäle verschlammt, das Brunnenwasser verschmutzt und ungenießbar […]. Die Regierung hat ihnen ihr Land weggenommen, um einen Badeort oder Golfplatz anzulegen oder um unter dem Druck von Strukturanpassungsprogrammen den Export landwirtschaftlicher Produkte zu steigern […]. Das Schulgebäude wurde nicht instand gehalten, die Ambulanz geschlossen. Wälder, in denen die Menschen seit jeher Brennholz und Obst sowie Bambus zum Reparieren ihrer Häuser gesammelt hatten, waren zu verbotenen Zonen geworden, bewacht von Männern in der Uniform einer paramilitärischen Privatfirma.«2

Die Anzahl der Menschen, die durch den weltweiten Siegeszug des Kapitalismus ihren Arbeitsplatz verloren haben, wächst unaufhaltsam und wird bald die Grenze dessen erreichen, was die Erde verkraften kann. Es wird immer wahrscheinlicher, dass die kapitalistische Moderne (beziehungsweise der moderne Kapitalismus) an ihren eigenen Abfallprodukten ersticken wird, die sie weder zu reintegrieren noch zu vernichten, noch zu entgiften vermag (die Anzeichen mehren sich, dass die schnell anwachsenden Müllberge zunehmend toxische werden).

Während die krankmachenden Auswirkungen des Industrie- und Haushaltsabfalls auf das ökologische Gleichgewicht und auf die Selbstreproduktionsfähigkeit des Lebens auf der Erde seit geraumer Zeit Anlass zu großer Besorgnis geben (obwohl den Diskussionen viel zu selten Taten gefolgt sind), sind wir weit davon entfernt, die weitreichenden Folgen der zunehmenden Mengen von menschlichem Abfall auf die politische Balance und das soziale Gleichgewicht des menschlichen Zusammenlebens auf der Erde zu erkennen und zu begreifen. Es wird also höchste Zeit, dass wir damit anfangen. In einer solchen grundlegend neuartigen Situation hilft weder eine Überprüfung der Liste der üblichen Verdächtigen noch der Rückgriff auf gewohnte Vorgehensweisen, wenn man das Geschehen verstehen will – ein Geschehen, das jeden Bewohner der Erde betrifft, wenn auch auf höchst unterschiedliche Art und Weise.

Die neue »Überfüllung des Planeten« – die globale Reichweite der Finanz-, Güter- und Arbeitsmärkte, der kapitalgesteuerten Modernisierung und damit der modernen Lebensweise – hat zwei unmittelbare Konsequenzen.

Die eine Konsequenz ist, dass jene Ventile blockiert sind, die in der Vergangenheit den regelmäßigen und rechtzeitigen Abfluss beziehungsweise die Reinigung der vergleichsweise wenigen modernisierten und sich modernisierenden Enklaven von ihrem »menschlichen Überschuss« ermöglichten, den der moderne Lebensstil unweigerlich in immer größerem Ausmaß produzieren musste: die überflüssige, überzählige Bevölkerung, der Ausschuss vom Arbeitsmarkt, der Abfall der marktorientierten Wirtschaft; all das, was die Recyclingkapazitäten übersteigt. Als sich der moderne Lebensstil erst einmal so weit verbreitet hatte (beziehungsweise mit Gewalt ausgedehnt worden war), dass er den ganzen Globus erfasst hatte und somit kein Privileg einer begrenzten Zahl ausgewählter Staaten mehr war, da wurde »leeres« beziehungsweise »Niemands«land (genauer gesagt, Gebiete, die aufgrund des globalen Machtgefälles von dem Teil, der bereits »modern« war, als leer und/oder herrenlos betrachtet und behandelt werden konnten), nachdem es mehrere Jahrhunderte als wichtigstes Ventil (oder Hauptdeponie) für die Entsorgung menschlichen Abfalls gedient hatte, immer knapper und ist heute fast vollständig verschwunden. Was die »überflüssigen Menschen« betrifft, die derzeit in den Ländern, die erst vor kurzem vor die Dampflokomotive der Modernisierung gesprungen (oder unter ihre Räder gekommen) sind, im großen Stil freigesetzt werden, so hat es in diesen Ländern ein derartiges Ventil nie gegeben; in den sogenannten »vormodernen« Gesellschaften, denen Abfallprobleme, ob menschliche oder nichtmenschliche, fremd waren, gab es dafür keinen Bedarf.

Als Folge dieses Prozesses – der Blockierung des alten und fehlenden Bereitstellung eines neuen externen Ventils für die Beseitigung menschlichen Abfalls – richten sowohl die »alten Modernen« als auch die Neuankömmlinge in der Moderne die scharfe Klinge der Ausschlusspraktiken zunehmend gegen sich selbst. Etwas anderes war auch nicht zu erwarten, nachdem die »Differenz«, die im Laufe der weltweiten Verbreitung des modernen Lebensstils auftrat beziehungsweise produziert wurde – jahrhundertelang als irritierendes, aber vorübergehendes und behebbares Ärgernis betrachtet und mehr oder weniger effektiv mit Hilfe von »anthropophagischen« (»menschenfressenden«) oder »anthropoemischen« (»ausspeienden«) Strategien (um ein Begriffspaar von Claude Lévi-Strauss zu verwenden) gehandhabt –, nunmehr in die Länder zurückgekehrt ist, in denen die Modernisierung ihren Ausgang genommen hatte. Aber im eigenen Land sind die herkömmlichen Strategien, die in fernen Ländern entwickelt und erprobt wurden, völlig unrealistisch, und alle Versuche, sie im eigenen Land anzuwenden, bergen unwägbare, unvorhersehbare und damit angsteinflößende Risiken.

Clifford Geertz hat in seiner pointierten Kritik die Wahl dargestellt, vor der wir heute stehen: zwischen »der Anwendung von Gewalt, um Konformität mit den Werten derjenigen zu erzwingen, die sie ausüben können« und »nichtssagender Toleranz, die nichts verändert, weil sie sich auf nichts einlässt«.3 Er stellt fest, dass die Macht, Konformität zu erzwingen, nicht mehr zur Verfügung steht und »Toleranz« keine großmütige Geste mehr ist, mit der die Reichen und Mächtigen zugleich ihre eigene Verlegenheit und die Kränkung derjenigen, die sich durch diese gönnerhafte Haltung herablassend behandelt und beleidigt...

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