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Grundfragen der Soziologie

Vollständige Ausgabe

AutorGeorg Simmel
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl106 Seiten
ISBN9783849617028
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Dieses Werk ist nicht etwa eine Zusammenfassung von Simmels soziologischem Hauptwerk sondern vielmehr die Entwicklung seiner eigenen, seiner Lebensphilosophie verpflichteten Soziologie.

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Leseprobe

2. Kapitel: Das soziale und das individuelle Niveau (Beispiel der allgemeinen Soziologie)


 

Als in den letzten Jahrzehnten die Vergesellschaftung, das Leben der Gruppen als Einheiten, zum Gegenstand eigentlich soziologischer Erörterung wurde - also nicht das geschichtliche Schicksal oder die praktische Politik der einzelnen, sondern dasjenige, was ihnen, eben weil sie "Gesellschaften" sind, gemeinsam ist - war es eine nächstliegende Frage, welche Wesenszüge dieses Subjekt Gesellschaft überhaupt von denen des individuellen Lebens als solchen unterschieden.

 

In äußerlicher Hinsicht liegen die Differenzen auf der Hand, z. B. die prinzipielle Unsterblichkeit der Gruppe gegenüber der Vergänglichkeit des Einzelmenschen, die Möglichkeit der Gruppe, wichtigste Elemente in einem Umfange auszuscheiden, ohne darüber zugrunde zu gehen, der entsprechend für das Einzelleben Vernichtung bedeuten würde, und ähnliches.

 

Jene auftauchenden Fragen aber waren innerlicher, wenn man will: psychologischer Natur.

 

Ob man nun die jenseits ihrer Individuen stehende Einheit der Gruppe für eine Fiktion oder eine Realität hält - um der Deutung der Tatsachen willen muss man sie so behandeln, als ob sie ein Subjekt mit eigenem Leben, eigener Gesetzlichkeit, eigenen Charakterzügen wäre.

 

Und die Unterschiede eben dieser Bestimmungen von denen der individuellen Existenz als solcher fordern ihre Verdeutlichung, um das Recht der soziologischen Fragestellung zu begründen.

 

Hier hat man nun die Behauptung aufgestellt - von der aus sich viele Linien zur Feststellung jener Differenzen ziehen lassen - dass die Handlungen von Gesellschaften eine unvergleichlich größere Zweckmäßigkeit und Treffsicherheit hätten' als die von Individuen.

 

Der Einzelne werde von widersprechenden Empfindungen, Antrieben und Gedanken hin und her gezogen, er wisse zwischen den Möglichkeiten seines Verhaltens keineswegs immer mit subjektiver Sicherheit, geschweige denn mit objektiver Richtigkeit zu entscheiden; die soziale Gruppe dagegen, auch wenn sie ihre Aktionsrichtungen oft wechselte, wäre doch in jedem Augenblick für die jeweilige schwankungslos entschlossen und ginge geradeswegs vorwärts, vor allem, sie wüsste stets, wen sie für ihren Feind und wen für ihren Freund zu halten hätte.

 

Zwischen Wollen und Tun, Mitteln und Zwecken einer Allgemeinheit bestehe eine geringere Diskrepanz als bei Individuen.

 

In diesem Verhältnis also erschienen die letzteren als "frei", während die Handlungen einer Masse "naturgesetzlich" bestimmt seien.

 

Und so bestreitbar diese Formulierung ist, so übersteigert sie doch nur eine tatsächliche, höchst bemerkenswerte Differenz der beiden Erscheinungen.

 

Sie entsteht daraus, dass die Ziele des öffentlichen Geistes, einer Kollektivität überhaupt, denjenigen entsprechen, die sich im Individuum als dessen fundamental einfache und primitive darzubieten pflegen.

 

Darüber kann nur die Macht, die sie durch die Ausdehnung ihres Bereiches gewinnen, und die höchst komplizierte Technik, mit der namentlich das moderne öffentliche Wesen jene Ziele durch Verwendung individueller Intelligenzen realisiert, täuschen.

 

In demselben Maße, in dem der Einzelne in seinen primitivsten Zwecken schwankungslos und irrtumslos ist, in eben dem Maße ist es die soziale Gruppe überhaupt.

 

Die Sicherung der Existenz, der Gewinn neuen Besitzes, die Lust an der Behauptung und Erweiterung der eigenen Machtsphäre, der Schutz des Erworbenen - dies sind grundlegende Triebe für den Einzelnen, in denen er sich mit beliebig vielen andern zweckmäßigerweise zusammenschließen kann.

 

Weil der Einzelne in diesen prinzipiellen Strebungen nicht wählt noch schwankt, kennt auch die soziale Strebung, die jene vereinigt, keine Wahl oder Schwankung.

 

Es kommt hinzu, dass, wie der Einzelne bei rein egoistischen Handlungen klar bestimmt und zielsicher handelt, die Masse es bei allen ihren Zielsetzungen tut; sie kennt nicht den Dualismus zwischen selbstischen und selbstlosen Trieben, in dem das Individuum oft ratlos steht und der es so vielfach zwischen beiden hindurch ins Leere greifen lässt.

 

Zutreffend hat man das Recht, also die erste und wesentliche Lebensbedingung großer wie kleiner Gesamtheiten, als das "ethische Minimum" bezeichnet.

 

Die Normen, die für den Bestand des Ganzen, wenn auch nur notdürftig, ausreichen, sind demnach für das Individuum gerade nur das Minimum, mit dem es äußerlich als soziales Wesen existieren kann; hielte es nur sie ein, bände es sich nicht darüber hinaus an eine große Anzahl weiterer Gesetze, so würde es eine ethische Abnormität, eine ganz unmögliche Existenz sein.

 

Hiermit ist ein Niveauunterschied zwischen der Masse und dem Einzelnen angedeutet, der nur dadurch entstehen und ergriffen werden kann, dass in dem Einzelnen selbst die Qualitäten und Verhaltungsweisen, mit denen er "Masse bildet" und die er in den Gesamtgeist hineingibt, sich von den andern sondern lassen, die gleichsam sein Privateigentum ausmachen und mit denen er sich als Individuum von dem Bezirk des mit allen Geteilten abscheidet.

 

Jener erstere Teil seines Wesens aber kann ersichtlich nur aus den primitiveren, im Sinne der Feinheit und Geistigkeit niedrigeren Wesenselementen gebildet werden.

 

Und zwar zunächst darum, weil nur diese mit relativer Sicherheit in einem jeden vorhanden sind.

 

Wenn nämlich die Organismenwelt eine allmähliche Entwicklung durch die niedrigsten Formen hindurch zu den höheren durchmacht, so sind die niedrigeren und primitiveren Eigenschaften jedenfalls die älteren; sind es aber die älteren, so sind es auch die verbreiteteren, weil die Gattungserbschaft um so sicherer jedem Individuum überliefert wird, je länger sie sich schon erhalten und gefestigt hat.

 

Kürzlich erworbene Organe, wie die höheren und komplizierteren es in höherem Grade sind, erscheinen stets variabler, und man kann nicht mit Bestimmtheit sagen, dass jedes Exemplar der Gattung schon an ihnen teilhaben wird.

 

Das Alter der Vererbung einer Eigenschaft ist das Band, das zwischen der Niedrigkeit und der Verbreitung derselben eine reale Beziehung knüpft.

 

Aber es steht nicht nur die Vererbung im rein biologischen Sinne in Frage.

 

Auch die in Worten und Erkenntnissen, in Gefühlsrichtungen und Willens- und Urteilsnormen objektiv gewordenen geistigen Elemente, die als Traditionen, bewusste und unbewusste, in die Einzelnen eingehen, tun das um so sicherer, um so allgemeiner, je fester und selbstverständlicher sie in die Geistigkeit einer sich zeitlich entwickelnden Gesellschaft eingewachsen sind, d. h. je älter sie sind.

 

In demselben Maße aber sind sie auch unkomplizierter, gewissermaßen grobkörniger, den unmittelbaren Äußerungen und Notwendigkeiten des Lebens näherliegend.

 

Sobald seelische Inhalte in das Verfeinerte, Differenzierte aufsteigen, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich in jedermanns Besitz finden, und rücken sie in das andere Gebiet: das - mehr oder weniger - individuelle, dasjenige, das der Einzelne nur zufällig noch mit andern teilt.

 

Wir verstehen aus diesem Grundverhältnis das die ganze Kulturgeschichte durchziehende Phänomen: dass einerseits das Alte als solches eine besondere Schätzung genießt, andrerseits aber gerade das Neue und Seltene als solches.

 

Über das erstere bedarf es nicht vieler Worte.

 

Vielleicht indes verdankt das von jeher Bestehende und Überlieferte seine Schätzung nicht nur der Patina des Alters und ihrem mystisch-romantischen Reize, sondern gerade dem hier betonten Umstande, dass es zugleich das am allgemeinsten Verbreitete, am sichersten in jedem Individuum Wurzelnde ist; innerhalb eines jeden wohnt es in oder nahe der Schicht, in der die instinktiven, unbeweisbaren und unwiderleglichen Wertungen entstehen.

 

Wenn im frühen Mittelalter über einen vor Gericht strittigen Gegenstand zwei einander widersprechende Königsurkunden vorgezeigt wurden und allgemein dann die ältere Kraft haben sollte, so wirkte dabei wohl weniger die Überzeugung von der größeren Gerechtigkeit der älteren, als das Gefühl, dass sie durch ihr längeres Bestehen die Bestimmung, was denn gerecht sei, in einem weiteren Bezirk verbreitet und gefestigt hat, als die jüngere es schon vermochte; sie wird höher geschätzt, weil dieses längere Bestehen die...

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