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Ich sah Königsberg sterben

Aus dem Tagebuch eines Arztes von April 1945 bis März 1948

AutorHans Deichelmann
VerlagLindenbaum Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl400 Seiten
ISBN9783938176603
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Hans Deichelmann arbeitete als Arzt in Königsberg und blieb auch nach der Einkesselung der Stadt durch die Rote Armee im Frühjahr 1945 in der alten Hauptstadt der Provinz Ostpreußen. Hier verfaßte er sein Tagebuch, das das Leiden und Sterben der zurückgebliebenen Bewohner, ihren Überlebenskampf, den täglichen Terror der sowjetischen Besatzungstruppe und das Warten auf die ersehnte Ausreise schildert. Der Leser erlebt voller innerer Erschütterung mit, wie eine deutsche Stadt und ihre Kultur in wenigen Jahren für immer zerstört wurden. Von den über 125 000 Menschen, die sich bei der Eroberung der Stadt durch die russischen Truppen noch in Königsberg befanden, überlebten nur 25 000 die drei Jahre der Gewaltherrschaft, des Hungerns und der Seuchen bis zum März 1948.

Hans Deichelmann (Pseudonym des deutschen Arztes und Hochschullehrers Johann Schubert, geboren am 14. März 1906 in Würzburg, gestorben am 31. August 1951 in Lübeck)

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Leseprobe

Mittwoch, 4. April 1945


Seit rund 10 Wochen liegen die Russen nunmehr um Königsberg. Ein Wunder ist es, daß sie nicht schon damals hereingekommen sind. Nun liegt der Gürtel dicht um die Stadt. Die Außenforts und die Ringstraße sind wohl überall noch deutsch. Genaues erfährt man allerdings nicht darüber. Selbst damals, als wir noch die Präparate, die wir im Gut Friedrichshof II ausgelagert hatten, in höherem Auftrag bergen wollten, war es uns trotz bester Beziehungen zum Oberquartiermeister nicht gelungen, herauszubekommen, ob Friedrichshof schon russisch oder noch deutsch sei. So machten wir uns selber zur Erkundung auf. Während das Auto in der Deckung der letzten Häuser von Schönfließ stehenblieb, gingen wir die Chaussee in Richtung Autobahn. In dicken Strähnen hingen die Telegraphendrähte von den Masten in die Obstbäume hinein. In märzlicher Kahlheit liegt das Land. Auf der platten, völlig unberührten Chaussee einige Leute, mit und ohne Handkarren, die wohl in den leeren Arbeitsdienstbaracken und Verpflegungslagern Nachlese gehalten haben. Deutsche, russische, polnische Laute schnappt man im Vorübergehen auf. Endlich, da vorne, dicht beim Fort, läuft der braune Erdwall quer über die Straße. Da endet für uns Deutschland – und dahinter drohen Hammer und Sichel. Aber es heißt ja immer, daß die Russen gar nicht so schlimm seien.

Freilich, wenn ich so die Front besehe, so kann ich mir nicht vorstellen, wie da jemand durchkommen kann, es sei denn, er werde geschickt. Drüben der russische Graben, nur wenige hundert Meter ab, Gut Friedrichshof liegt hinter der russischen Linie, und tatsächlich, dort fährt ein russisches Auto gerade an dem zerstörten Neubau vorüber aufs Gut. Na, dann brauchen wir uns nicht mehr den Kopf über unser Serum zu zerbrechen. Völlig still ist die Front, beiderseits kein Schuß, und der leichte Märznebel schluckt jedes Geräusch.

Freilich, abends knattern überall Maschinengewehre, manchmal kläffen die Granatwerfer dazwischen, mit denen die Russen gut umzugehen wissen, überall spritzen die grünen Garben der Leuchtspurmunition, und der Himmel zuckt in unruhigem bläulichem Flackern. Hier und dort flammt ein roter Feuerschein auf. Da ist wohl wieder ein Gehöft im Niemandsland in Flammen aufgegangen, nachdem der deutsche Landser oder Iwan, wer halt gerade an der Reihe war, das letzte Heu oder Stroh daraus geborgen hatte. Und wie ein Uhrzeiger kreist mit fortschreitendem Abend der russische Propaganda-Lautsprecher um die Peripherie der Stadt; solange schweigen meist auf beiden Seiten die Waffen. Seit Metgethen und die Straße nach Pillau wieder freigekämpft sind, zweifelt auch der Harmloseste an der Wahrheitsliebe des grölenden Ansagers im Feindlautsprecher. Feldmarschall Paulus selbst, der Kämpfer von Stalingrad, will es sein. Und ab und zu meldet sich einer, der von den Russen auf Vorposten gegriffen wurde, und der nun die Herrlichkeiten der russischen Gefangenschaft in lockenden Tönen preist. Man weiß zwar, was das in Wirklichkeit bedeutet, seit man in Metgethen einen solchen armen Teufel einen Volkssturmmann von der KWS (Königsberger Werke und Straßenbahn) mit Genickschuß wiedergefunden hat. Hierdurch und durch die Flugblätter, die jedem Überläufer freie Passage und gute Behandlung zusichern, lassen sich wohl nur wenige verlocken. An diese Töne hat man sich allmählich gewöhnt, man hört gar nicht mehr hin. Nur darüber zerbrechen wir uns im engeren Kreis den Kopf: Was soll das heißen, daß die Russen behaupten, Ribbentrop sei in London? Offenbar ärgert es sie gewaltig. Sollte es doch noch so kurz vor Torschluß zum Frieden kommen? Kaum denkbar.

Die Menschen hier sind ganz verzweifelt. Allerdings traut sich keiner, es laut zu sagen. Hier spricht man offiziell nur von „Endsieg” und „Durchhalten”. Von den Trümmern der Häuser prahlen Spruchzettel „Die Mauern brechen, aber unsere Herzen nicht”, „Königsberg wird das Grab der Bolschewisten”, „Jedes Haus eine Festung” usw. usw. Der Verfasser dieser Angebereien ist ein Student, der ebendeshalb jetzt in brauner statt in grauer Uniform einherstolziert und im Luftschutzkeller statt im Graben hausen darf.

Innerlich ist die Einstellung bestenfalls skeptisch, meist aber spürt man die innere Gewißheit des sicheren Unterganges. Belustigend war das Ergebnis der Spinnstoffsammlung, die innerhalb der „Festung” veranstaltet wurde. Da gaben die „gebefreudigen Herzen” mit vollen Händen braune Uniformen in Massen ab. Die armen Volksstürmler, die in diese Tracht hineinsteigen müssen, haben natürlich nichts Eiligeres zu tun, als sich feldgraue Sachen zu „organisieren”. Natürlich haben die meisten schon ihre Zivilanzüge zu Hause bereitliegen.

In allen Parteidienststellen fließt der Alkohol in Strömen und jeder saugt dieses Narkosemittel ebenso gierig wie die Parolen, die von den erfinderischen Gehirnen der Kreis- bzw. Gauleitung in die Welt gesetzt werden. Vor allem die neuen Waffen, daneben die Fabelarmeen Himmlers, allgemein als „himmlische Heerscharen” bezeichnet, werden die Situation retten. Daneben „igeln” sich abgesprengte Armeen aus dem Süden Ostpreußens nach Königsberg herauf, in Norwegen hält der Führer noch 55 Divisionen untätig in Reserve, und überhaupt muß die Kurlandarmee jeden Tag eintreffen. Schließlich und letzten Endes ist die Psyche des russischen Frontsoldaten der überlegenen deutschen Lautsprecher-Gegenpropaganda nicht mehr lange gewachsen. Freilich, erwischt man die Herren einzeln, dann können ihre Reden auch anders lauten. „Man kann nicht sehen, wie wir noch siegen können; uns hilft nur noch der Glaube”, sagte neulich der Gesundheitsführer zu mir, der es für seine erste Pflicht hält, die Leute „positiv aufzuladen”, wie sein Lieblingsausdruck lautet. Er scheint von seinen Erfolgen bei mir nicht ganz überzeugt zu sein, denn neulich sagte er: „Deichelmann, Sie scheinen mir kein brauchbarer Nationalsozialist zu sein”. Seither habe ich mich ziemlich zurückgezogen, denn ich habe keine Lust, mit durchschossener Brust und einem Schild um den Hals „Ich wollte nicht kämpfen, aber die Kugel fand mich doch” oder einer ähnlichen passenden Aufschrift tot vor den Pfeilern des Nordbahnhofes zu liegen, wie jene unglückseligen Landser im Januar.

Auch die Gauleitung ist, gelinde gesagt, skeptisch. Freilich beschwatzen sie immer noch viele armselige Frauen und Gutgläubige, denen es sowieso schwerfällt, Hab und Gut, Haus und Familie einfach stehen- und liegenzulassen und in die Kähne zu steigen, welche gelegentlich in langen Schleppzügen die kriegsdienstfreie Zivilbevölkerung nachts an den Russen vorbei durch das Frische Haff nach Peyse oder Pillau schleppen. Und die Zustände in den Lagern dort sind katastrophal. Wenn das schon der Gesundheitsführer selbst zugibt, allerdings gegen den Protest der Kreisleitung, wird man das nicht zu bezweifeln brauchen. Außerdem gibt es dort mehr Beschuß – wenigstens vorläufig.

So bleiben die meisten in der Stadt, wo es noch Keller, Freunde, Kohlen, Lebensmittel – und Alkohol gibt. Braucht man etwas, so holt man es sich aus der nächsten leerstehenden Wohnung. Ist man Parteifunktionär, so „beschlagnahmt” man. Das Telephon geht noch und so hat man bald Freunde und Freundinnen zusammengetrommelt. Nur, das Gas ist alle. Nachdem das Gaswerk lange vergeblich auf das avisierte Kohlenschiff gewartet hatte, mußte es dichtmachen. Noch mit dem letzten Zucken der Flamme haben wir unsere Fabrikate eingeschmolzen um Vorrat zu halten. Ob wir sie durchbringen werden?

Schön sieht Königsberg nicht mehr aus. Die Innenstadt ist ja schon durch die beiden Bombenangriffe im August 1944 weitgehend zerstört. Aber nun tritt Schlimmeres ein: Verwahrlosung. Alle Vorgartenzäune eingedrückt, zerbrochen, die Straßenbahndrähte hängen von schiefen Masten, Pferdekadaver blähen ihre gedunsene Bäuche in die Gegend, soweit sie nicht von herumstreifenden Polen- und Russenweibern ausgeschlachtet werden, überall Scherben, Müll, Granatsplitter oder Blindgänger und zerschossene Fahrzeuge. Das schlimmste aber sind die Barrikaden, die in den ersten Tagen der Einschließung aus allerlei Trümmern und sonstigem verfügbaren Material bis herab zum Reisig völlig sinnlos aufgebaut worden waren. Am Butterberg hatte man sogar eine „Barrikade” aus lauter Kursmikroskopen der anliegenden Universitätsinstitute errichtet. Nun sind die Dinger mit Eisenbohlen versteift, und überall machen Frauentrupps der einzelnen Ortsgruppen unter Aufsicht pistolenbewaffneter „Goldfasanen” neue. „Hier kommt der Iwan niemals durch.” Aber die notwendigen Wasserlöcher werden nicht gegraben. Wie, wenn eines Tages die Wasserleitung versagt? Dafür sitzen die Männer, als sogenannter Volkssturm verkleidet, in dem riesigen Gebäude des Amtsgerichtes am Nordbahnhof tatenlos herum. Nicht einmal die armseligen italienischen Infanteriegewehre mit 5 Schuß konnte man an alle ausgeben. Als Königsberg noch nicht...

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