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»Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können«

Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945

VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
ReiheDie Zeit des Nationalsozialismus ? »Schwarze Reihe« 
Seitenanzahl400 Seiten
ISBN9783104021157
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Die düstere Kehrseite der deutschen Wiederaufbaujahre für jüdische Intellektuelle. Dieses Buch versammelt 14 Porträts jüdischer Geisteswissenschaftler und Künstler, die nach 1945 nach Deutschland zurückkehrten oder dort wieder publizistisch wirkten. Zu ihnen gehören die Schriftsteller Jean Améry, Arnold Zweig, Paul Celan und der Literaturwissenschaftler Peter Szondi, die Religionshistoriker Hans-Joachim Schoeps und Jacob Taubes, der Staatsrechtler Hans Kelsen, die Politologen Ernst Fraenkel und Hannah Arendt sowie die Philosophen/Soziologen Karl Löwith, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Ernst Bloch. Sie waren verjagt, sie hatten fliehen können - und kamen jetzt in ein Land, das sie nur selten willkommen hieß. Und das sich dennoch mit ihnen schmücken wollte, das sie brauchte bei der geistigen Erneuerung. Dieser Band schreibt ein spannendes Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte im Spannungsfeld von Schuldverdrängung und -leugnung, Wiedergutmachung, Aufarbeitung und gesellschaftlicher Verunsicherung.

Dr. Monika Boll ist Philosophin, Publizistin und Kuratorin. Für das Jüdische Museum Frankfurt kuratierte sie die Ausstellungen »Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland« (2009) und »Für Marcel Reich-Ranicki« (2010). Veröffentlichungen u.a. Nachtprogramm. Intellektuelle Gründungsdebatten in der frühen Bundesrepublik (2004); Zur Kritik des naturalistischen Humanismus. Der Verfall des Politischen bei Hannah Arendt (1997). Prof. Dr. Raphael Gross ist seit 2017 Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum in Berlin. Davor leitete er als Direktor das Leo Baeck Institute in London (2001-2015), das Jüdische Museum in Frankfurt am Main (2006-2015), das Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt am Main (2007-2015) sowie das Simon-Dubnow-Institut für jüdische Kultur und Geschichte in Leipzig, wo er gleichzeitig den Lehrstuhl für jüdische Geschichte an der Universität Leipzig innehatte (2015-2017).

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Leseprobe

Monika Boll, Raphael Gross

Einleitung


»Ich staune, daß Sie in dieser Luft atmen können«, schrieb der jüdische Religionswissenschaftler Gershom Scholem 1949 an seinen konservativen jüdischen Kollegen Hans-Joachim Schoeps.[1] Dieses »Staunen« war mehr als nur Verwunderung. Es war ein erstauntes Unverständnis über eine eigentlich als Skandal empfundene Tatsache: Wie können Sie überhaupt in Deutschland leben? Und obwohl dieses Unverständnis von Juden fast einhellig geteilt wurde, gab es zugleich immer Juden, die nach dem Holocaust in Deutschland lebten. Entweder als Displaced Persons in den Lagern, die auf eine Einreise nach Palästina oder Amerika hofften, oder als Durchreisende mit besonderen Aufgaben, betraut etwa mit der Restitution jüdischen Eigentums oder dem Einklagen von Rentenzahlungen für Überlebende des Holocausts. Das auf Deutschland wie ein Bann lastende Verbot war zwar weithin akzeptiert, aber gleichzeitig nie ganz verwirklicht.

Von den Displaced Persons blieben am Ende jene hier, die zu erschöpft oder zu alt für einen nochmaligen Neuanfang waren. Sie lebten meist in Distanz zur deutschen Gesellschaft, beschränkt auf ihr privates Umfeld und das der kleinen jüdischen Gemeinden. Wie aber wirkte sich der Bann auf jüdische Intellektuelle aus, die in der Öffentlichkeit eine sichtbare Rolle spielten? Wie gingen sie damit um, da sie doch zum einen meist wenig »jüdische« Juden waren, also oft gar keiner Gemeinde mehr angehörten, und zudem oft als universalistisch denkende Menschen jegliche parteiische Behandlung, selbst gegenüber dem ehemals nationalsozialistischen Deutschland, als problematisch empfanden?

Der vorliegende Band versammelt dreizehn Porträts jüdischer Intellektueller, die nach 1945 in Deutschland lebten und arbeiteten oder aber hier publizistisch wirkten. Zu ihnen gehören der Dichter Paul Celan, der Schriftsteller Arnold Zweig, der Essayist Jean Améry und der Literaturwissenschaftler Peter Szondi, die Religionshistoriker Hans-Joachim Schoeps und Jacob Taubes, der Staatsrechtler Hans Kelsen, die Politikwissenschaftler Hannah Arendt und Ernst Fraenkel sowie die Philosophen und Soziologen Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Max Horkheimer und Karl Löwith. Sie alle zählen zu jener ersten Generation von Juden im Nachkriegsdeutschland, deren Status für sie selbst wie für andere nicht leicht zu definieren war. Standen sie doch für eine deutsch-jüdische Kultur, an der festzuhalten nach dem Holocaust mehr als fragwürdig erschien. Der Band geht den Brüchen in der äußeren wie in der Selbstwahrnehmung der Protagonisten nach. Welche Erwartungen hatten sie an die deutsche Nachkriegsgesellschaft? Hielten sie, wie Hannah Arendt es mit Blick auf das Schicksal der Displaced Persons tat, umfassende Hilfe und eine »politische Willenserklärung« für notwendig, nach der »jeder Jude, gleich wo er geboren ist, jederzeit, wenn er will, und allein auf Grund seiner jüdischen Nationalität gleichberechtigter Bürger dieser Republik werden kann, ohne darum aufzuhören, ein Jude zu sein«?[2] Die Realität war bekanntlich weit davon entfernt, eine solche Einladung hat es, von Äußerungen einzelner Politiker abgesehen, nicht gegeben.

Andererseits hieß man einzelne Juden, die als Deutsche mit Deutschen den demokratischen bzw. sozialistischen Aufbau der Gesellschaft vorantrieben, durchaus willkommen. Viele erhielten hohe Auszeichnungen und Ehrungen. So waren Ernst Bloch und Arnold Zweig Träger des Nationalpreises der DDR, Max Horkheimer wurde Ehrenbürger der Stadt Frankfurt am Main, und Hans-Joachim Schoeps erhielt den Konrad-Adenauer-Preis. Dass sie Juden waren, blieb dabei außerhalb eines engen Kreises in der öffentlichen Wahrnehmung meist ausgeblendet. Scheu und Unbehagen bestimmten noch lange den Umgang mit Juden in der Nachkriegszeit. Jürgen Habermas beschrieb seine eigene Wahrnehmung 1961 anlässlich eines Artikels über deutsch-jüdische Philosophen wie folgt: »Es bestand eine deutliche Sperre auch gegen das leiseste Beginnen, Juden von Nichtjuden, Jüdisches von Nichtjüdischem, und sei es nur dem Namen nach, zu unterscheiden: obwohl ich jahrelang Philosophie studiert habe, war mir, bis ich diese Arbeit begonnen habe, nicht bei der Hälfte der genannten Gelehrten überhaupt ihre Herkunft bewußt.«[3] Sehr viel schärfer noch formulierte Gershom Scholem diese asymmetrische Wahrnehmung: »Nachdem sie als Juden ermordet worden sind, werden sie nun in einem posthumen Triumph zu Deutschen ernannt, deren Judentum zu betonen ein Zugeständnis an die antisemitischen Theorien wäre. Welche Perversion im Namen eines Fortschritts, der den Verhältnissen ins Auge zu schauen nach Möglichkeit vermeidet!«[4]

Die beiden Zitate stimmen mit den Erfahrungen überein, die wir bei der Vorbereitung unserer Ausstellung »Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland« am Jüdischen Museum Frankfurt gemacht haben. In den Gesprächen, die wir dazu mit den meist nichtjüdischen Schülern der Frankfurter Schule führten, war uns aufgefallen, dass vielen die Herkunft ihrer Lehrer aus dem Judentum zur Zeit ihres Studiums gar nicht bewusst war oder aber als eine zu vernachlässigende Größe erschien. War diese asymmetrische Wahrnehmung möglicherweise charakteristisch für die besondere Situation im Nachkriegsdeutschland, für die von Verdrängung, Scham und Abwehr geprägte Haltung Juden gegenüber? Und wie wurde aus jüdischer Sicht darüber reflektiert?

Die Situation der Juden in Deutschland war jedoch noch aus einem anderen Grund problematisch. Nach Ansicht internationaler jüdischer Organisationen sollte es ein Wiederaufleben jüdischer Kultur in Deutschland nicht mehr geben. Und diese Sicht wurde auch von den meisten Juden in und außerhalb Europas geteilt. So erklärte der Jüdische Weltkongress 1948 auf einer Tagung in Montreux, Juden sollten sich »nie wieder auf dem blutgetränkten deutschen Boden ansiedeln«.[5] Übereinstimmend damit sahen Organisationen wie die Jewish Cultural Reconstruction und die Jewish Restitution Successor Organization ihre Aufgabe darin, verbliebene jüdische Kulturgüter in die Vereinigten Staaten und nach Israel zu überführen. Sie galten auch als erste Ansprechpartner für die Bundesregierung. Der 1950 gegründete Zentralrat der Juden in Deutschland musste sich zunächst einmal eine eigenständige politische Position erobern, nachdem er bei Verhandlungen um Wiedergutmachung von der Jewish Claims Conference finanziell übergangen worden war. Dem Legitimationsdruck von außen begegnend, erklärte der Rat seine Anwesenheit in Deutschland als eine im Namen der Opfer notwendige mahnende Erinnerung auf dem Weg in die neue Demokratie. Seine Distanz zur früheren nationalen deutsch-jüdischen Identität drückte er jedoch zugleich in der Selbstbezeichnung als »Zentralrat der Juden in Deutschland« aus. Insofern war der Zentralrat selbst ambivalent, was die Anwesenheit von Juden in Deutschland nach dem Holocaust betraf, die er gleichzeitig repräsentieren sollte.

Nicht nur aus israelischer Sicht galten Juden, die wieder in Deutschland lebten, als Verräter; sie »schwächen und entwerten das Ehrgefühl unseres Volkes«, hieß es dazu etwa in einer Debatte des israelischen Parlaments von 1950.[6] Die ersten israelischen Reisepässe führten einen eingestempelten Vermerk: gültig für »alle Länder – mit Ausnahme Deutschlands«. Rückkehrer, die Mitte der fünfziger Jahre im Zuge der Wiedergutmachungszahlungen nach Deutschland gingen, berichten von israelischen Freunden, die »nie wieder ein Wort mit mir geredet haben, nachdem ich ihnen meine Entscheidung mitgeteilt hatte«.[7]

Leben und Werk der hier porträtierten Intellektuellen blieben vom Legitimationsdruck und den verschiedenen Erwartungshaltungen nicht unberührt. Obgleich in der Öffentlichkeit hochangesehen, haderten viele von ihnen mit der Entscheidung, in Deutschland zu leben. Denn anders als es der äußere Anschein oft nahelegte, war dies für sie nicht selbstverständlich. Als Deutscher und Jude nach 1945 in Deutschland zu leben stellte – das verbindende »und« mitbedacht – oft eine dreifache Herausforderung dar. Viele der hier versammelten Aufsätze präsentieren dazu Einsichten in bislang unveröffentlichte Quellen, etwa in private Korrespondenz und Aufzeichnungen, die von den Ambivalenzen der Nachkriegsjahre zeugen. Der Band möchte einen Beitrag zur Erforschung der Geschichte der Juden in der Nachkriegszeit leisten, einer Epoche, die unter dem Stichwort Remigration meist von einer äußeren Perspektive, selten aber aus der jüdischen Binnenperspektive in den Blick genommen wird.[8]

Die ersten beiden Porträts sind zwei sehr unterschiedlichen Vertretern der Judaistik gewidmet. Kaum einer der Rückkehrer hat sich so eindeutig positiv über Deutschland geäußert wie der Religionshistoriker Hans-Joachim Schoeps. Auf kritische, auch spitze Nachfragen wie das eingangs zitierte Erstaunen von Gershom Scholem bekannte sich Schoeps insistierend zu Deutschland, »das ich nicht aufgeben kann, in dem ich leben und in dem ich begraben liegen will. Auch die Untaten seiner Bewohner können daran nichts ändern […].«[9] Das ist umso bemerkenswerter, als er eine Profession vertrat, an die wiederanzuknüpfen namhafte Vertreter des Fachs wie Leo Baeck und Martin Buber sich weigerten. Michael Brenners Beitrag beschäftigt sich mit der Lage der Wissenschaft des Judentums in Deutschland nach dem Krieg, den Gründen ihres verzögerten Wiederaufbaus und...

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