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Inglorious Basterds: Tarantinos Nazijäger. Die Umerzählung von Geschichte

AutorBritta Wehen, Katharina Ströhl, Marc Backhaus, Yannick Lowin
VerlagScience Factory
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl132 Seiten
ISBN9783656480181
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Was passiert, wenn sich ein Kult-Regisseur wie Quentin Tarantino, dessen Werk für blutige Leinwandspektakel und Racheinszenierungen steht, einem der blutigsten Kapitel der europäischen Geschichte zuwendet - dem Holocaust? Dieser Band zeichnet die Hintergründe des Films 'Inglorious Basterds' und seiner kontrafaktischen Erzählung von der jüdischen Rache an den Nazis nach. Das Buch beleuchtet das Spannungsverhältnis von Geschichte und Fiktion und setzt den Film in den Kontext von Tarantinos Gesamtwerk sowie faktengetreuen Historienverfilmungen. Aus dem Inhalt: Selbstreflexivität in Tarantinos 'Inglourious Basterds'; Dekonstruktionsstrategien bei Tarantino; Vergleich mit Oliver Hirschbiegels 'Der Untergang'; Tarantino und die Postmoderne; 'Inglourious Basterds', 'Reservoir Dogs' und 'Pulp Fiction' im Fokus

Marc Backhaus was born 1990 in Cologne to Peter and Carola Backhaus. Moving houses repeatedly during his childhood, he grew up in Schleswig-Holstein and Marham, England. Finding a love for poetry, theatre, literature and languages he moved to Berlin in 2010 to study English and Media Science at Humboldt University. He is currently completing his BA degree and aspiring to become an author and musician.

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Leseprobe

Selbstreflexivität in „Inglourious Basterds“


Tarantino betont gleich mehrere Konstituenten des Mediums Film in „Inglourious Basterds“ und vereint mehrere Typen selbstreflexiver Filme: Er greift ästhetische Funktionsweisen von Sergio Leone und anderen Größen des Faches auf, stellt die Wahrnehmungsstrukturen von Filmen und ihre Rezeption ins Zentrum, indem er die nationalsozialistische Ästhetik im „Film im Film“ zeigt und doch mit ihr bricht. Außerdem zeigt er in diesem Rahmen auch den Film als Industrie-Produkt, immerhin entwickelt sich ein regelrechter Star-Kult um Fredrick Zoller, den „Helden“ aus „Stolz der Nation“. Ebenfalls wird der Film als politischer Faktor gespiegelt, nicht nur durch den Propagandafilm im Film, sondern auch durch die Handlungsführung, in der ein Film politische Auswirkungen haben kann und zum Ende des „Dritten Reiches“ führt – wenn auch mit einem gehörigen „Kaboooom“.[8]

Selbstreflexivität ist demnach als Prinzip der ästhetischen Selbstbespiegelung zu verstehen und als eine Kategorie, die dem filmischen Illusionismus entgegenwirkt und auf seinen artifiziellen Status aufmerksam macht.

„Inglourious Basterds“ – Ein Titel mit (mehr als) doppeltem Boden


Die Selbstbespiegelung kann bereits am Titel von Tarantinos neuestem Werk verdeutlicht werden: Ein „Bastard“ ist ganz allgemein etwas Unordentliches, das gegen das „Reinrassige“ abzugrenzen ist. In der Rassenideologie der Nationalsozialisten wurde der Begriff auf die jüdische Bevölkerung übertragen, da es sich in Augen der Nazis hierbei um eine minderwertige Rasse handelte. Der historisch Kundige kann also schon anhand des Titels erkennen, dass im Mittelpunkt der Erzählung wahrscheinlich eine jüdische Gruppierung stehen wird. Bastarde, gemischtrassig oder unehelich geboren und insofern nicht anerkannt, sind darüber hinaus auch immer auf der Suche nach ihrer eigenen Identität und streben nach Gerechtigkeit bzw. vielmehr nach Rache an dem Menschen, der das eigene (Familien-)Glück zerstörte. So verstanden verweist der Titel also auch darauf, dass es in dem Film nicht nur um jüdische Opfer gehen wird und deutet das revenge-Motiv an, das als Reaktion auf eine Aktion immer „eine Überbietung, eine maßlose Gegen-Gabe“[9] erfordert. Daher verlangt Lt. Aldo Raine auch von jedem seiner Basterds 100 Nazi-Skalps und Shosanna lässt als Reaktion auf die Ermordung ihrer Familie gleich ein ganzes Kino voller Nazis in Flammen aufgehen. Außerdem ist das revenge-Motiv unter anderem konstituierend für das Western-Genre, insofern reflektiert der Titel ein erhebliches Maß an Kinotraditionen. Weiterhin deutet der Titel auf seine Nähe zum italienischen dirty war movie „Quel maledetto treno blindato“ hin, der 1978 unter dem internationalen Titel „Inglorious Bastards“ bekannt wurde – auch wenn Tarantino ein U zuviel und ein E statt A verwendet und den englischsprachigen Kinogänger dadurch auf sein offensichtliches Spiel mit der Vorlage stößt.

Deutlich ist, dass anhand des Titels wesentliche Elemente des Plots und somit des Films selbst gespiegelt werden. Zumindest dem geneigten Filmkenner ist klar, dass es um ein „dreckiges Dutzend“ gehen wird, dass moralisch zwiespältig hinter den feindlichen Linien operieren wird.

„Ein bisschen Western, ein bisschen dirty war und ganz viel Rache – fertig ist ein Tarantino-Film“


Die Zahl der filmischen Verweise, Zitate und Variationen in „Inglourious Basterds“ ist vermutlich endlos und könnte für sich genommen ganze Bücher füllen, gilt Tarantino doch als „Archivar […] eines lebenden Museums der amerikanischen, europäischen und asiatischen B-Movies“[10]. Bei den „Basterds“ füllt Tarantino dieses lebende Museum mit einem Schuss Western, einer Prise Krieg und dem zentralen Rache-Motiv, das sich durch alle seiner Filme zieht. Er selbst sagt über seinen Film: „Es ist mein Haufen-von-Kerlen-mit-einer-Mission-Film. Es ist meine Version von ‚The dirty dozen’, ‚Where eagles dare’ und ‚The Guns of Navarone’.“[11]

Im Kern des Films steht ein Western, der eng an Sergio Leones Werk angelehnt ist, das Tarantino in jedem seiner Filme mit Anspielungen bedenkt. Doch vielleicht war der Hinweis auf Leone noch nie so deutlich wie in „Inglourious Basterds“, da Tarantino das erste Kapitel mit der Überschrift “Once upon a Time in Nazi-Occupied France” beginnen lässt. Hierbei handelt es sich nicht nur um eine märchenhafte Eingangsformel, sondern auf einen deutlichen Hinweis auf Leones “Once upon a time in the west”. Tarantinos Märchen beginnt folgerichtig mit einer klassischen Western-Szene, in deren Zentrum ein kleiner, einsamer Bauernhof steht, der in raumschaffenden Einstellungen gezeigt wird, die ebenfalls typisch für Leone sind. Zudem gehört diese Szene SS-Oberst Hans Landa, der das absolut Böse und den „Ober-Nazi“ verkörpert und vergleichbar mit der Einführung Franks (Henry Fonda) in „C’era una volta il west“ ist.

Das zentrale Western-Motiv der Rache wird in Kapitel zwei ebenfalls aufgegriffen, die Basterds schulden ihrem Lt. Aldo Raine, der den für sich sprechenden Beinamen „Aldo, der Apache“ trägt, je hundert Nazi-Skalps. Das Schuld- und Blut-Ritual des Westerns wird also aufgegriffen und von Tarantino auf gute (jüdische) amerikanische Jungs beim (ernst gewordenen) Indianerspiel übertragen. Exemplarisch für den Western-Bezug sei noch auf den Mexican-Standoff in der Keller-Taverne im vierten Kapitel hingewiesen, schließlich stammt das Urbild des Mexican-Standoff aus dem Italo-Western.

Doch Tarantino bezieht sich nicht nur in selbstreferentieller Manier auf das System Film, sondern überführt die Western-Anleihen in einen Film über den Zweiten Weltkrieg und stellt die Anleihen betont deutlich heraus. Auf den ersten Blick passen Western und Weltkrieg nicht zusammen und durch das Zusammenfügen dieser beiden unpassenden Teile bricht Tarantino mit den Genrekonventionen und entlarvt sie dadurch als statisch – es ist eben ein (selbstreflexiver) Film über Kino-Klischees und deren Wirkungen

Noch deutlicher kann dieses Vorgehen in Bezug auf Horrorfilme herausgearbeitet werden. Der „Bärenjude“, Sgt. Donny Donowitz (Eli Roth), wird im zweiten Kapitel dem gefangenen Feldwebel Rachtman angekündigt, der dem Tod lieber heldenhaft ins Auge sehen will als seine Kameraden zu verraten. Sergeant Donowitz ist dafür bekannt, den deutschen Soldaten mit einem Baseballschläger den Schädel zu zertrümmern, daher hört man nach seiner Ankündigung auch das unheildrohende Schlagen des Baseballschlägers an die Tunnelwand – eine klassische Horrorfilm-Situation zur Vorbereitung des Auftritts des Monsters. Doch überraschenderweise tritt mit Sgt. Donowitz ein relativ normaler Mensch aus dem Tunnel und nicht etwa ein Golem, wie von vielen Deutschen gerüchteweise verbreitet. Zunächst hat es den Anschein, dass der Auftritt des Bärenjuden verschenkt ist, es hat sogar einen leichten Anflug von Ironie, wenn statt des jüdischen Racheengels ein einfacher Sergeant das Bild betritt, doch genau dies zeichnet Tarantino aus. Durch die verweigerte Spannung ergibt sich eine völlig neue Pointe: Tarantino zeigt erneut etwas, das nicht im Kino, sondern mit dem Kino spielt. Eine weitere Ebene erhält die Szene dadurch, dass Eli Roth – der „Bärenjude“ in dieser Szene – im wahren Leben Regisseur von Horrorfilmen (wie „Hostel“, 2005) ist und auch die Regie beim Film-im-Film „Stolz der Nation“ führte. Wenn nun ausgerechnet ein Horrorfilm-Regisseur einen klassischen Horrorfilm-Auftritt „verschenkt“, ist Tarantinos Spiel mit dem Kino noch eindrucksvoller.

Neben dem Western ist Tarantinos Film eine deutliche Anspielung auf die „Haufen-von-Kerlen-mit-einer-Mission-Filme“, die in den 1960er und 1970er als dirty war movies bekannt wurden. Schon in den späten 1950ern gab es in Hollywood-Filmen vermehrt feige Offiziere, Neurotiker und Verbrecher an der Front. Dies wurde wenig später zu einem eigenen Subgenre ausgebaut, das sich auf subjektive Schilderungen konzentrierte, einzelne Missionen verfolgte und in sich höchst widersprüchlich ist. Es zeigt sowohl, dass der Krieg Spaß macht und ein Männervergnügen ist, als auch, dass Krieg keinen Sinn ergibt. Die „Verschmutzung“ der Kriegsfilme betraf insbesondere die Moral der Helden. Die Guten waren nicht mehr wirklich gut und die Bösen ihrerseits moralisch zwiespältig. Robert Aldrichs „The dirty dozen“ aus dem Jahre 1967 stellt die vielleicht gelungenste Mischung aus Action und Grauen im und am Krieg dar und wurde von Tarantino selbst als Referenz für seinen Film genannt.[12] Demzufolge sind die Parallelen auch recht offensichtlich: In „The dirty dozen“ setzt sich das Kommando aus Gangstern und Psychopathen zusammen und auch bei Tarantino finden wir mit Hugo Stiglitz und dem „Bärenjuden“ Charaktere, die an gewalttätige Psychopathen erinnern (wobei ihr Motiv, das der Rache, verständlich erscheint). Aldo Raine offenbart durch eine Strangulierungs-Narbe am Hals schon rein äußerlich, dass er wahrscheinlich für ein Verbrechen gehenkt werden sollte. Auch er verhält sich moralisch zwiespältig, dem Abkommen mit Landa entzieht er sich, allerdings nur, um Landa für immer als Nazi zu kennzeichnen und ihm so die Möglichkeit zu nehmen, als US-Bürger auf Nantucket unterzutauchen. Ebenfalls quält er Bridget von Hammersmark und legt ihr im wahrsten Sinne des Wortes die Finger in die Wunde...

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