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E-Book

Jules Massenet

Sein Leben, sein Werk, seine Zeit

AutorStefan Schmidl
VerlagSchott Music
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783795786137
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Seine 'Méditation' ist beinahe ein »Schlager« geworden, seine Opern 'Manon' und 'Werther' finden sich auf den Spielplänen aller großen Opernhäuser, und doch blieb der Komponist Jules Massenet (1842-1912) bislang eher unbekannt. Das ändert sich nun: Zu seinem 100. Todestag legt Stefan Schmidl erstmals eine deutschsprachige Biografie dieses Grandseigneurs der französischen Oper vor. Er zeigt, dass Massenets Kompositionen vielschichtiger sind, als 'Manon' und 'Werther' es vermuten lassen - und eröffnet einen neuen Blick auf die Musikgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Stefan Schmidl ist Mitarbeiter der Kommission für Musikforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Neben Lehr- und Vortragstätigkeit publizierte er zu musik-, kultur- und medienwissenschaftlichen Themen.

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Leseprobe

Aufstieg zwischen Können und Kalkül (1873 – 1882)

Erotische Heilige: Marie-Magdeleine (1873)

Von den Katastrophen des Deutsch-Französischen Krieges und der versuchten kommunistischen Machtübernahme in Paris war die französische Gesellschaft zutiefst erschüttert worden. Es hatten sich gefährliche Kräfte von »außen« und »innen« gezeigt, mit denen auch nach ihrer unmittelbaren Abwendung zu rechnen war. Als Reaktion auf diese Bedrohungen waren die Jahre nach 1871 geprägt von einem neuen französischen Nationalbewusstsein, einer Emphase auf alles vermeintlich »Französische«. Auch im Musikleben gewann das Element des Nationalen an Bedeutung. Die im Februar 1871 von Camille Saint-Saëns und Romain Bussine begründete Société Nationale de Musique nahm hierbei eine Vorreiterrolle ein. Ihr Ziel war es, vornehmlich Werke französischer Provenienz aufzuführen. Die Tätigkeit der Société Nationale zog eine gesteigerte Zahl an Neukompositionen nach sich.

Keine musikalische Gattung erfuhr dabei eine solche Konjunktur wie die des Oratoriums. Obwohl selbst nicht explizit national,70 konnte hier anschaulich das »alte«, katholische Frankreich zelebriert werden. Wie populär die Gattung war, zeigt sich schon allein daran, dass sich die Zahl der komponierten Werke gegenüber dem Zweiten Kaiserreich verdoppelte.71 Für diesen sprunghaften Anstieg war nicht zuletzt der Durchbruchserfolg Jules Massenets, selbst Mitbegründer der Société Nationale, verantwortlich: Marie-Magdeleine spekulierte gewinnbringend mit den neuen Erwartungshaltungen und inspirierte Kollegen wie Georges Bizet zur Nachahmung.72

Der Text zu Massenets »Drame sacré« stammte von Louis Gallet (1835 – 1898), dem renommierten Direktor des Pariser Krankenhauses Beaujon73 und nebenberuflich nicht weniger erfolgreichen Librettisten,74 der 1872 mit den Opernlibretti zu Bizets Djamileh und Saint-Saëns’ La Princesse jaune hervorgetreten war.75 Das auf Hartmanns Vorschlag hin entstandene Textbuch zu Marie-Magdeleine vertonte Massenet zwischen Herbst 1871 und Januar 1872.76 Da sich der ursprünglich anvisierte Termin der Uraufführung im Rahmen der Concerts populaires nicht verwirklichen ließ, versuchten sich Massenet und Gallet währenddessen noch an einer Operette. L’Adorable Bel’-Boul wurde jedoch nur im privaten Cercle de l’Union artistique inszeniert und nicht veröffentlicht.77

Louis Gallet, 1892

Doch Hartmann ließ nicht locker und rief unter großen Kosten78 eine eigene Konzertreihe im Pariser Théâtre de l’Odéon, das Concert National,79 ins Leben. Als Teil dieser Reihe wurde am Karfreitag des Jahres 1873 Marie-Magdeleine aufgeführt. Die berühmte Diva Pauline Viardot übernahm dabei die Titelpartie der Maria Magdalena (im Werk Méryem benannt) – ein Besetzungscoup, der die Premiere zu einem gesellschaftlichen Ereignis werden ließ und den Erfolg des Werkes besiegelte. Das Feuilleton lobte Massenets Originalität und stellte ihn in eine Reihe mit Berlioz und Gounod.80 Marie-Magdeleine beeindruckte aber nicht nur Kritik und Publikum, sondern auch Komponisten: In herzlichen Grußadressen gratulierten Thomas und Bizet zum Erfolg.81 Gleichfalls ergriffen, besonders vom großen Duett Jésus – Méryem, zeigte sich später Peter Tschaikowsky, der sich intensiv mit der Partitur des Oratoriums beschäftigt hat.82

Der Erfolg von Marie-Magdeleine beruhte auf einer geschickt abgestimmten Mischung aktueller Diskurse: Mit der Geschichte der reuigen Sünderin Maria Magdalena widmete sich Massenets Oratorium nämlich nicht nur einem der volkstümlichsten Charaktere des Neuen Testaments, sondern auch einer besonders in Frankreich verehrten Heiligen, war diese doch nach legendenhafter Überlieferung auf ihrer Flucht aus Judäa im späteren Saintes-Maries-de-la-Mer gelandet und hatte anschließend die Provence bekehrt.83

Massenets Marie-Magdeleine profitierte zudem von der Popularität des viel diskutierten Buches Vie de Jésus (1863) des Altphilologen Ernest Renan. Dieser hatte darin versucht, ein Verständnis für Jesus und seine Welt mehr aus der historischen, denn aus der theologischen Perspektive zu vermitteln. Renans atmosphärischen, gefühlsbetonten84 Beschreibungen des antiken Palästinas entsprach Massenet einerseits mit orientalisierenden Wendungen (etwa in der Auftrittsarie Méryems), andererseits mit einer opernhaften Dramaturgie, die Jesus und Maria Magdalena als beinahe weltliches Liebespaar porträtiert.

Maria Magdalena in der Grotte.
Gemälde von Jules-Joseph Lefebvre, 1876

An die Pariser Premiere von Marie-Magdeleine schlossen sich zahlreiche Aufführungen im ganzen Land an. Das Oratorium wurde Teil des Repertoires geistlicher Konzerte. Seine latente Opernhaftigkeit ließ bald den Gedanken entstehen, es auch als Musiktheater zu inszenieren. Dies wurde aber erst 1903 in Nizza, später in Paris, Brüssel und Algier gewagt.85

Konzertant erklang Marie-Magdeleine bereits im März 1874 in der Pariser Opéra Comique.86 Bei dieser Gelegenheit bekannte Massenet gegenüber dem verblüfften Vincent d’Indy, der bei dieser Aufführung die zweite Pauke bediente, dass sich die hier demonstrierte bondieuserie (sinngemäß übersetzt: »Frömmlerei«) keineswegs mit seinen persönlichen Überzeugungen decken würde, dass sie aber dem Geschmack des Publikums verpflichtet sei, dem er unbedingt entsprechen wolle.87

Etablierung: Scènes pittoresques, Scènes dramatiques, Phèdre-Ouvertüre und Ève (1873 – 1875)

Auf Massenets Marie-Magdeleine folgten zunächst zwei orchestrale Suiten, die Scènes pittoresques und die Scènes dramatiques, die 1874 bzw. 1875 ihre Premiere erlebten. Erstere gliedert sich in die Sätze Marche, Air de ballet (die aus Don César de Bazan stammte88 und später mit Versen Gallets zur populären Nuit d’Espagne wurde89), Angélus (einer musikalisch-historistischen Schilderung des Angelusläutens) und die ausgelassene Fête bohème. Die Scènes dramatiques basieren hingegen auf Vorlagen von William Shakespeare, auf Der Sturm (Ariel et les esprits – Ariel und die Geister), Othello (Le Sommeil de Desdémone  – Desdemonas Schlaf) und schließlich Macbeth (dessen schaurige Handlung Massenet mit schumannesker Romantik beschwört).

Im Herbst 1873 entstand außerdem die Ouvertüre zu Phèdre. Dieses von Jean Racines Drama (1677) inspirierte Gelegenheitswerk für die Concerts populaires erwies sich bald als zugkräftig und blieb lange im Repertoire französischer Orchester. Dem um klassizistische Symmetrie bemühten Stück ist das berühmte Zitat »Ce n’est plus une ardeur dans mes veines cachée: C’est Vénus tout entière à sa proie attachée« (in Friedrich Schillers Übersetzung: »Kein heimlich schleichend Feuer ist es mehr, mit voller Wuth treibt mich der Venus Zorn«) vorangestellt.90 Es ist vor allem die breit ausschwingende, von charakteristischen Doppelschlägen durchzogene Liebesmelodie, die Massenets Phèdre-Ouvertüre so eindrucksvoll macht.

Nach dem Anklang dieser Orchesterwerke und der großen Resonanz der Marie-Magdeleine begann Massenet, sich ernsthaft mit der Komposition des Roi de Lahore, dem ehrgeizigen Grand-opéra-Entwurf Gallets, zu beschäftigen. Da die von ihm selbst losgetretene Konjunktur geistlicher Werke aber einen schnelleren Erfolg verhieß, stellte er den Roi de Lahore bald wieder zugunsten eines neuen Oratoriums zurück. Ève hieß Gallets zügig verfasstes dreiteiliges »Mystère«, das die Geschichte des ersten Menschenpaares Adam und Eva samt ihres Sündenfalles erzählt, die vor dem Hintergrund der Diskussionen, die Charles Darwins Bücher The Origin of Species (1859) und The Descent of Man (1871) ausgelöst hatten, besonders pikant war.

Es mag Massenet zudem gereizt haben, Joseph Haydns Schöpfung (1798) eine alternative, eher auf den französischen Markt zugeschnittene Lesart des alttestamentarischen Mythos zur Seite zu stellen. So ist hier, im Gegensatz zu Haydns Oratorium, nicht die Vermittlung von aufklärerischen Ideen zentrales Anliegen, sondern die Gestaltung von Stimmungswerten. Zwar werden in Ève – anders als in der Schöpfung – auch der Sündenfall und die darauf folgende...

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