Einleitung: Mythos Afghanistan
Die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 rückten Afghanistan, einen längst vergessenen Krisenherd, plötzlich in das Rampenlicht des Weltgeschehens. Die Bilder, die seitdem regelmäßig über den Bildschirm flackern, zeichnen ein archaisches und anarchisches Bild dieses Landes: Grimmig aussehende, Turban tragende Krieger bekämpfen sich bis aufs Blut, fanatische Muslime gehen gegen Schulbildung und Gleichstellung von Frauen auf die Barrikaden, und der Anbau von Opium stellt den einzigen florierenden Wirtschaftszweig dar. Zur Erklärung dieser chronischen Krisensituation bemühen Journalisten wie Landesexperten immer wieder die für Afghanistan typischen Werte- und Verhaltensmuster, die sich der Logik des westlich geprägten Menschen entziehen. Eine Beschreibung der Verhältnisse in Afghanistan erfolgt daher oftmals mit Begriffen wie «Stämme», «steinzeitlich», «mittelalterlich», «Anarchie» oder «Blutrache» – also Begriffen, die einer vergangenen Welt angehören, von der die westliche Zivilisation glaubt, sie längst hinter sich gelassen zu haben. Afghanistan avancierte daher in der öffentlichen Wahrnehmung zur «Schattenseite der Globalisierung» (Robert Kaplan), zum «Herz der Finsternis» (Ahmed Rashid) und zum «Gegenpol der zivilisierten Welt»: Alles, was die moderne Gesellschaft für zivilisatorische Errungenschaften hält, ist in Afghanistan Mangelware; alles, was die moderne Gesellschaft verabscheut, findet sich in Afghanistan. Besonders die Taliban entsprachen diesem Negativbild und wurden zu den Dämonen und Monstern der aufgeklärten Welt.
Jedoch gerade die Tatsache, dass die moderne Gesellschaft in Afghanistan ein Land sieht, das all ihre Werte und Normen zu verneinen scheint, übt eine magische Faszination, Sehnsucht und Bewunderung aus. Viele Besucher des Landes erblicken in den Afghanen die «edlen Wilden», die über authentische, unverdorbene Werte und Normen verfügen und noch nicht der Dekadenz der modernen Welt anheimgefallen sind. Die afghanische Gastfreundschaft gilt als sprichwörtlich. Gerade diese positive Wertung der Afghanen bedingte, dass das Land in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zum Ziel von Reisenden wurde, die nach dem Ursprünglichen, dem Wahren suchten. So bildete Kabul neben Katmandu und Kuta (Bali) eines der drei großen «Ks» auf der Hippieroute zwischen Europa und Australien.
Diese immer wiederkehrende Verachtung bzw. Romantisierung Afghanistans als ein dem Stillstand preisgegebenes, vormodernes Land übersieht, dass es auch ein modernes Afghanistan gibt, das stets bemüht war, die traditionellen Verhältnisse im Land zu überwinden. Dieser Gegensatz von Moderne und Tradition prägte die afghanische Geschichte im 20. Jahrhundert und bildete die wesentliche Ursache des Afghanistankriegs, der 1979 ausbrach. Diese «Kleine Geschichte Afghanistans» will zeigen, dass man dem Land mit einfachen Klassifizierungen nicht gerecht wird. Wenn man aus der Geschichte eines Landes auch nicht dessen Zukunft herauslesen kann, so kann Geschichtsschreibung dennoch gewisse Strukturen aufzeigen, die historisch gewachsen sind und die die Zukunft zumindest beeinflussen werden. In diesem Sinne ist dieses Buch über Afghanistan zu verstehen.
Geschichtliche Annäherung
Wo liegt Afghanistan, und seit wann gibt es Afghanistan? Der Begriff «Afghanistan» war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Herrschaftsbezeichnung noch nicht etabliert, stattdessen wurde vom «Königreich Kabul» gesprochen. Unter Afghanistan verstand man damals recht verschwommen die Stammesgebiete der Paschtunen, die gegenwärtig im Süden und Osten des Landes sowie im Nordwesten Pakistans liegen. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich der Begriff «Afghanistan» als Landesbezeichnung durch. Allerdings lag die Region, die nun als Afghanistan verstanden wurde, weiter nördlich als noch Anfang des 19. Jahrhunderts. Denn mit dem Vordringen britisch-indischer Truppen in die östlichen paschtunischen Stammesgebiete war eine Abgrenzung zum Nachbarn Afghanistan über tribale oder ethnische Grenzen obsolet geworden. Unter der Landesbezeichnung «Afghanistan» wurde nun nicht mehr das Stammesgebiet der Paschtunen, sondern die herrschaftslose Pufferzone zwischen Russland, Britisch-Indien und Persien verstanden.
An die räumliche Lage knüpft sich die Frage an, wann die afghanische Geschichte eigentlich begann. Afghanische Historiker sind stets bemüht, diese Geschichte als eine sehr alte darzustellen, die bis in die frühe Antike zurückreicht: Das antike Aryana, das mittelalterliche Khorassan und das neuzeitliche Afghanistan werden in einer kontinuierlichen Linie dargestellt und zu einer historischen Einheit verschmolzen. Die Entstehung des modernen afghanischen Nationalstaats datiert die afghanische Geschichtsschreibung auf das Jahr 1747, als Ahmad Schah Durrani ein dynastisches Imperium gründete. Da dieses Reich jedoch nicht einmal Afghanistan genannt wurde und auch keine Institutionen der modernen Staatlichkeit hervorbrachte, kann in diesem Zeitpunkt kaum die Gründung eines modernen afghanischen Staats gesehen werden. Als Datum für den Beginn der afghanischen Nationalgeschichte bietet sich viel eher die Regierungszeit ʿAbdur Rahmans im ausgehenden 19. Jahrhundert an. Damals versahen die Kolonialmächte Britisch-Indien und Russland den halbautonomen Staat Afghanistan mit festen politisch-geographischen Grenzen und baute ʿAbdur Rahman staatliche Strukturen auf. Sehr selten wird dagegen der Beginn der afghanischen Nationalgeschichte auf das Jahr 1923 datiert, als Amanullah die völlige Souveränität von Britisch-Indien erreichte, die konstitutionelle Monarchie einrichtete und seine Herrschaft verfassungsrechtlich mit dem Willen der afghanischen Nation legitimierte. Obwohl sich frühestens seit ʿAbdur Rahman von einem Staat Afghanistan sprechen lässt, beschäftigt sich dieses Buch auch mit dessen historischen Vorläufern.
In der Geschichte Afghanistans lassen sich vor allem im 19. und 20. Jahrhundert fünf Grundzüge erkennen, die bis heute die Entwicklung des Landes prägen:
Erstens war der raue, abweisende Naturraum eine ungünstige Voraussetzung für die Etablierung von Herrschaft. Aufgrund der kargen landwirtschaftlichen Erträge war allein der Überlandhandel zwischen China, Indien und Persien eine prosperierende Wirtschaftsform. Alle Reiche, die sich in dieser Region herausbildeten, waren daher stets bemüht, eine der drei umliegenden fruchtbaren Regionen, also Khorassan, Punjab oder Transoxanien, einzuschließen, um einen wirtschaftlichen Überschuss zu erwirtschaften. Sobald ein Reich nur auf das Gebiet des heutigen Afghanistan beschränkt war, reichten die Überschüsse aus der Landwirtschaft nicht aus, um eine dauerhafte Herrschaft abzusichern. Dies hatte zur Folge, dass seit dem 19. Jahrhundert jeder Herrscher von ausländischer Hilfe abhängig war, um sich an der Macht zu halten; im 19. Jahrhundert war es die finanzielle Unterstützung der Briten und im 20. Jahrhundert die Entwicklungshilfe der USA, der Sowjetunion und Deutschlands. Seit 1957 stammten über 40 Prozent der Staatseinnahmen von auswärts, namentlich aus der Entwicklungszusammenarbeit. Gleichzeitig führte die karge wirtschaftliche Ausstattung Afghanistans dazu, dass die afghanische Bevölkerung stets durch eine hohe Mobilität geprägt war – ob in Form des traditionellen Nomadismus, ob durch Raubzüge nach Indien (vor allem im 18. Jahrhundert) oder durch Arbeitsmigration und Flucht seit den 1970er-Jahren.
Zweitens ist der eklatante Gegensatz zwischen Stadt und Land zu nennen. Die wenigen Städte bildeten die wesentlichen Stationen an den Karawanenwegen und waren Teil des kosmopolitischen Handelsnetzwerks der Seidenstraße, während die ländlichen Regionen sich weitgehend selbst überlassen blieben und nur in geringem Austausch mit den urbanen Zentren standen. Dieser Gegensatz zwischen Stadt und Land wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts zur beherrschenden Konfliktlinie. Die Städte, allen voran Kabul, bildeten die Entwicklungsmotoren von Staat und Modernisierung, während im ländlichen Raum traditionelle Gesellschaftsstrukturen bestehen blieben.
Drittens ist die afghanische Gesellschaft durch einen extremen Partikularismus gekennzeichnet. Dörfer, Talschaften, Clans, Stammesgruppen und religiöse Gemeinschaften stellten in Afghanistan die wichtigsten Identitäts- und Handlungsbezüge dar, auf denen Patronage- und Klientelsysteme aufbauten. Einhergehend mit dieser Gesellschaftsstruktur konnten sich bis heute egalitäre Herrschaftsformen vielerorts erhalten. Hieraus folgt, dass gesellschaftliches Prestige und politische Hierarchien stets infrage gestellt werden und stark umkämpft sind. In vielen Epochen der afghanischen Geschichte zerfielen politische Bündnisse wegen persönlicher Rivalitäten und wurden Thronstreitigkeiten zwischen den potentiellen Nachfolgern blutig ausgetragen. Symptomatisch hierfür ist, dass abgesehen von Dost Mohammad, ʿAbdur Rahman und Hamid Karzai jeder Herrscher des Landes in den letzten 200 Jahren entweder vom Thron vertrieben...