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E-Book

Konterrevolution

Der Rückzug des liberalen Europa

AutorJan Zielonka
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl206 Seiten
ISBN9783593440583
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
In vielen europäischen Ländern sind rechte Bewegungen im Aufwind. Oder mit den Worten Jan Zielonkas: Eine Konterrevolution ist in Gang gekommen. Im Jahr 1990 sah das noch ganz anders aus. Der Eiserne Vorhang war gefallen und Zielonkas Lehrer Ralf Dahrendorf begrüßte eine Revolution in Europa; es herrschten Euphorie und Aufbruchsstimmung. Mittlerweile liegt die Europäische Union in Scherben, weil die politischen Eliten marktradikalen Ideen nachgelaufen sind und die liberale Demokratie verraten haben. Zielonka unterzieht die Entwicklungen einer unerbittlichen Analyse und formuliert ein starkes Plädoyer für eine offene Gesellschaft und eine Neuerfindung Europas. 'Zielonkas Buch spitzt eine Debatte zu.' FAZJan Zielonka, 1955 in Polen geboren, ist Professor für Europäische Politik und Ralf Dahrendorf Fellow an der Oxford University. Er schreibt unter anderem für Die Zeit.

Jan Zielonka, 1955 in Polen geboren, ist Professor für Europäische Politik und Ralf Dahrendorf Fellow an der Oxford University. Er schreibt unter anderem für Die Zeit.

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Leseprobe

Kapitel 1
Von der Revolution zur Konterrevolution


Lieber Ralf,

einige Stunden, nachdem das Ergebnis des Brexit-Referendums bekannt gegeben wurde, versammelten sich Studierende und Lehrkräfte deines St Antonyʼs College im European Studies Centre. Die meisten der Anwesenden, eine recht internationale Schar, waren deprimiert, manche hatten sogar Tränen in den Augen. Sie konnten nicht fassen, dass die Mehrheit der britischen Wähler für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt hatte. Sie konnten nicht begreifen, warum ein Berg rationaler Argumente für den Verbleib in der Union auf taube Ohren gestoßen war. Wieso wurden umfangreiche statistische Belege für die Kosten des EU-Austritts ignoriert? Wie konnten die scheinbar doch so pragmatischen Briten sich weigern, den Akademikern, Journalisten, Experten zu vertrauen? Und warum hatten dubiose Politiker wie Nigel Farage, Andrea Leadsom und Michael Grove die Oberhand über die Sieger der letzten Parlamentswahlen, David Cameron und George Osborn, gewonnen? Die meisten dieser Fragen blieben unbeantwortet.

Kurz vor dem Brexit-Referendum war ich in Italien, wo die Fünf-Sterne-Bewegung unter der Führung des Comedian Beppe Grillo bei den Kommunalwahlen gerade den Bürgermeisterposten in Rom und Turin errungen hatte. In Rom warf die Fünf-Sterne-Bewegung der sozialdemokratischen Verwaltung Vetternwirtschaft, Inkompetenz und Korruption vor. Die Wahlergebnisse waren ein unerwarteter Schlag für den Vorsitzenden der Partito Democratico, Premierminister Matteo Renzi. Grillo erklärte den verblüfften italienischen Kommentatoren rundheraus: »Sie sind unfähig, die Geburt und den Aufstieg meiner Bewegung zu begreifen, weil Sie alles in Ihre eigene Sprache übersetzen. Sie sind schlichtweg von der Realität abgeschnitten.«1 Einige Monate später trat Matteo Renzi als Ministerpräsident zurück, nachdem er beim Referendum keine Mehrheit für seine Verfassungsreform hatte gewinnen können.

Nach dem Brexit-Referendum flog ich nach Polen, wo die Oppositionsparteien den Gewinnern der Wahlen im vorangegangenen Jahr vorwarfen, einen Verfassungscoup zu inszenieren, die Justiz lahmzulegen und die öffentlichen Medien von Kritikern zu säubern. »Ich bin kein Diktator«, erklärte Jarosław Kaczyński der Tageszeitung Rzeczpospolita. »Polen ist eine musterhafte Demokratie und eine Insel der Freiheit in einer Welt, in der Freiheit selten ist.«2

Was geht da vor? Wer hat recht, wer unrecht? Wie etabliert man Wahrheit in dieser Ära der Postwahrheit? Sind die europäischen Wähler verrückt geworden? Sind Nigel Farage, Beppe Grillo und Jarosław Kaczyński Propheten oder Scharlatane? Haben diese oben erwähnten politischen Erfahrungen etwas gemeinsam? Zeigen sie eine neue Entwicklung der europäischen Politik auf, und wenn ja, wie benennen wir sie?3 Wir leben eindeutig in turbulenten Zeiten mit ungewissem Ausgang. Seit Langem bestehende Annahmen gelten nicht mehr. Symbolpolitik ist an die Stelle von Realpolitik getreten. Gegenwärtig scheint alles möglich. Und doch müssen wir versuchen, die Geschichte zu begreifen, die mit einer Kraft und Geschwindigkeit über Europa rollt, wie wir sie nicht erlebt haben, seit du vor annähernd dreißig Jahren deine Betrachtungen über die Revolution in Europa geschrieben hast.

Lass mich auf deine Befürchtungen zurückkommen und die gegenwärtigen Entwicklungen in den Kontext der von dir untersuchten Revolution von 1989 einordnen. Ich tue dies, weil ich glaube, dass wir einen konzertierten Versuch erleben, das nach dem Fall der Berliner Mauer geschaffene System abzuschaffen. Wir erleben eine Konterrevolution.

Was am 23. Juni 2016 in Großbritannien passierte, ist nur eine von vielen Episoden, die den Aufstieg einer starken Bewegung ankündigen – einer Bewegung, die darauf abzielt, das Narrativ und die Ordnung zu zerstören, die seit 1989 auf dem gesamten Kontinent herrschen: liberale Demokratie und neoliberale Wirtschaft, Migration und eine multikulturelle Gesellschaft, historische »Wahrheiten« und politische Korrektheit, moderate politische Parteien und Mainstream-Medien, kulturelle Toleranz und religiöse Neutralität. Wie die angeführten Beispiele Italien, Großbritannien und Polen zeigen, gibt es lokale Varianten dieser Bewegung, aber ihr gemeinsamer Nenner ist die Ablehnung jener Personen und Institutionen, die Europa in den vergangenen drei Jahrzehnten regiert haben. Zudem sollten wir uns nichts vormachen, indem wir auf die Wahlergebnisse in den Niederlanden, Frankreich und Großbritannien von 2017 verweisen. Mark Rutte, Emmanuel Macron und Theresa May haben einen Teil der konterrevolutionären Rhetorik übernommen, um Stimmen zu gewinnen. Rutte geißelte Migranten, Macron drosch auf traditionelle Parteien ein und May befürwortete einen harten Brexit. Kann der Liberalismus mit so vielen illiberalen Ornamenten überleben? Sollten Liberale sich freuen, weil »gemäßigte« Populisten die Oberhand über harte Populisten gewonnen haben? Selbst im reichen und stabilen Deutschland zog die rechtsnationalistische Alternative für Deutschland (AfD) nach den Wahlen 2017 mit 94 Sitzen in den Bundestag ein. Angela Merkel führt zwar weiterhin die Regierung, aber die CDU/CSU und die SPD erlitten eine historische Wahlniederlage.

Wir sollten auch den größeren geopolitischen Kontext im Blick behalten. Illiberale Politiker regieren mit dem Segen der Wähler in Europas größten Nachbarstaaten, Türkei und Russland. Die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten hat ebenfalls schwerwiegende Auswirkungen auf den alten Kontinent. Die Vereinigten Staaten mögen zwar durch den Atlantik von Europa getrennt sein, sind aber dennoch eine im Grunde europäische Macht; in Europa wird keine Entscheidung getroffen, ohne Amerika im Blick zu haben. Donald Trump redet wie viele europäische Konterrevolutionäre und während seines Präsidentschaftswahlkampfs erhielt er öffentliche Unterstützung von so prominenten europäischen Aufrührern wie Marine Le Pen und Nigel Farage.

Die Bedeutung von Wandel


Warum handelt es sich hier um eine Konterrevolution? In Europa werden weder Straßenbarrikaden gebaut noch Sitzstreiks in Fabriken abgehalten. Es gibt keine bestimmte Ideologie, die Protestbewegungen inspirieren oder einen würde. Es ist zwar viel von Antipolitik die Rede, aber die führenden Köpfe des Protests gründen Parteien und versuchen, Wahlen zu gewinnen. Es wäre allerdings falsch, anzunehmen, zu Revolution und Konterrevolution gehörten zwangsläufig Massenmobilisierung und an einem bestimmten Datum kulminierende Gewalt. Der Kommunismus ist mit nur wenig oder ganz ohne Gewalteinsatz zusammengebrochen. Polens Solidarność-Bewegung konnte 1980 Massenstreiks organisieren, nicht aber zehn Jahre später. Der Wandel erfolgte hauptsächlich durch Bündnisse zwischen alten und neuen Eliten und durch Wahlen. Und doch lässt sich schwer leugnen, dass dieser relativ friedliche Prozess Europa so weit verändert hat, dass es kaum wiederzuerkennen ist. Es war zwar nicht das Ende der Geschichte, aber nach und nach wurde die alte Ordnung durch eine neue ersetzt. Manche der alten Kommunisten konnten sich an der Macht halten, allerdings nur, nachdem sie sich zur neuen liberalen Ordnung bekannt hatten. Aus diesem Grund nanntest du es trotz aller Vorbehalte eine Revolution. Und seit 1990, als du dein Buch geschrieben hast, hat diese Revolution erhebliche Fortschritte gemacht.

Die Sowjetunion und Jugoslawien sind zerfallen, Deutschland ist wiedervereinigt und die Europäische Union und die NATO sind erheblich erweitert worden. Westliche Armeen, Unternehmen und Sitten drangen nach Osten vor. Viele begrüßten begeistert neue Regime auf ihrem Staatsgebiet, aber manche fühlten sich benachteiligt, weil sie anderer ethnischer Herkunft waren als die Mehrheit (zum Beispiel Russen in Lettland, Serben in Bosnien-Herzegowina) oder weil ihnen die entsprechenden beruflichen Qualifikationen für die neue Wettbewerbsumgebung fehlten. Seit Langem in Europa bestehende Machtverhältnisse wurden umgewälzt. Schon bald empfand Russland sich als Underdog, aber auch Frankreich sah sich gegenüber Deutschland in einer schwächeren Position als zuvor.

Der geopolitischen Revolution folgte die ökonomische. Mit dem Sturz des Kommunismus gerieten einige seiner universelleren Ideale unter Beschuss: Kollektivismus, Umverteilung, soziale Absicherung und staatliche Interventionen in die Wirtschaft. Das ebnete neoliberalen Wirtschaftslehren den Weg zu einer dominanten Stellung auf dem gesamten Kontinent und nicht nur in Großbritannien. Deregulierung, marktwirtschaftliche Orientierung und...

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