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Landschaften der Metropole des Todes

Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft

AutorOtto Dov Kulka
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783641098957
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Die einzigartigen Betrachtungen eines Mannes über die wiederkehrenden Erinnerungen an seine Kindheit in Auschwitz
Die Metropole des Todes, das ist Auschwitz-Birkenau. Als Kind wird Otto Dov Kulka zusammen mit seiner Mutter erst in das Ghetto Theresienstadt und dann nach Auschwitz deportiert. Er überlebt die zweimalige Liquidierung des sogenannten Familienlagers und verlässt Auschwitz schließlich im Januar 1945 auf einem Todesmarsch. Lange Zeit hat er über seine Erlebnisse geschwiegen, sich als Historiker allein streng wissenschaftlich mit dem Mord an den Juden befasst. In diesem außergewöhnlichen Text erkundet Kulka nun die Fragmente seiner Erinnerung an Auschwitz, die wiederkehrenden Träume und Bilder, die sein Leben begleiten und unauslöschlich prägen. Eine beeindruckende literarische Reflexion, die unsere Wahrnehmung der Vergangenheit verändert.

Otto Dov Kulka wurde 1933 in der Tschechoslowakei geboren und starb 2021 in Jerusalem. Als Kind wurde er mit seiner Mutter 1942 zunächst in das Getto Theresienstadt, dann 1943 nach Auschwitz deportiert. Er überlebte und emigrierte 1949 nach Israel. 1964 sagte er als Zeuge im Frankfurter Auschwitzprozess aus. Er war Professor für die Geschichte des jüdischen Volkes an der Hebräischen Universität in Jerusalem und hat sich zeitlebens mit dem Völkermord an den Juden beschäftigt. 2013 wurde Otto Dov Kulka für sein Buch »Landschaften der Metropole des Todes« mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet.

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Leseprobe

1

Prolog – vielleicht auch
ein Epilog

Der Beginn dieser Reise, von der ich noch nicht weiß, wohin sie mich führen wird, war sehr prosaisch und nichts Ungewöhnliches: ein internationaler Kongress in Polen im Jahr 1978, an dem ich zusammen mit einigen israelischen Wissenschaftlern teilnahm, organisiert von der Sektion für vergleichende Religionsgeschichte des Comité International des Sciences Historiques. Wir waren ein Mediävist, ein Experte für die Frühe Neuzeit und ich als Vertreter für die Moderne. Eigentlich hätte noch ein Historiker an dem Kongress teilnehmen sollen, den die Polen jedoch nicht ins Land ließen, weil er mit seiner Immigration nach Israel gleichsam sein Vaterland verraten hatte. Der Kongress verlief mehr oder weniger so, wie Historikerkongresse verlaufen. Mein Vortrag3 brachte zwar grundlegend neue Ansätze und wurde auch ziemlich beachtet, doch das ging vorüber. Nach der Tagung organisierten die Veranstalter Ausflüge ins ganze Land, nach Lublin, Krakau und an andere schöne Orte, die sich für touristische Ausflüge anboten. Ich sagte meinen Kollegen, dass ich nicht mit ihnen fahren, sondern meine eigene Route wählen und Auschwitz besuchen werde. Gut. Ein Jude fährt Auschwitz besuchen, das ist nichts Außergewöhnliches, obschon es damals nicht so in Mode war, wie es das heute ist.

Einer der Kollegen, der Mediävist – wir kennen uns schon ziemlich lange aus der akademischen Arbeit –, sagte zu mir: »Wenn du nach Auschwitz fährst, dann bleib nicht im Stammlager. Das ist so eine Art Museum. Wenn du schon hinfährst, dann geh nach Birkenau. Das ist das echte Auschwitz.« Er fragte mich nicht, ob ich irgendeine persönliche Verbindung dorthin habe. Wenn er gefragt hätte, hätte ich ihm geantwortet. Ich hätte es nicht geleugnet. Aber er fragte nicht, und so antwortete ich nicht und fuhr hin.

Auf dem Weg entlang des Flusses der Zeit

Ich wollte mit dem Zug fahren, konnte aber keine Fahrkarte bekommen. Deshalb nahm ich einen Flug nach Krakau und von dort ein Taxi, ein klappriges, ziemlich antikes Modell. Ich bat den Fahrer, nach Auschwitz zu fahren. Es war für ihn nicht das erste Mal; er hatte schon öfter ausländische Touristen dort hingefahren. Ich sprach Polnisch, und das gar nicht mal so schlecht, zum Teil noch von damals, zum anderen Teil bestand es aus dem, was ich in der Universität gelernt hatte, und auch meine tschechische Grundlage half mir dabei. Wir fuhren los, und der Fahrer plapperte in einem fort, erzählte, dass ihm sein Wagen gestohlen worden sei und er ihn wiederbekommen habe. Wir fuhren an dem Fluss Wisła entlang, und er erzählte von der »Wisła zła«, der »bösen Wisła«, die über die Ufer tritt, das Land überschwemmt und Mensch und Tier mit sich reißt. Wir fahren über mehr oder weniger asphaltierte Straßen, über Schlaglöcher, und nach und nach reagiere ich nicht mehr auf seine Worte. Ich nehme nicht mehr auf, was er sagt. Ich nehme vielmehr diesen Weg auf. Spüre plötzlich, dass ich an diesen Orten schon einmal gewesen bin. Ich kenne die Schilder. Diese Häuser.

Obwohl es eine andere Landschaft gewesen war, eine nächtliche Winterlandschaft, vor allem in der ersten Nacht, aber dann auch eine Landschaft bei Tag, und ich verstand etwas, worauf ich nicht vorbereitet gewesen war: dass ich in der Gegenrichtung auf jener Straße fuhr, auf der man uns am 18. Januar 1945 und in den darauffolgenden Tagen hinausgeführt hatte, hinaus aus diesem unheimlichen Getriebe, aus dem, da war ich mir sicher, da waren wir uns alle sicher, es kein Entrinnen gab.

Die nächtliche Reise vom 18. Januar 1945

Jene Reise hat viele Facetten, doch vor allem eine Facette, vielleicht eine Farbe, eine nächtliche Farbe, die sich stärker als alles andere erhalten hat und alles andere übertrifft. Diese Intensität oder vielleicht besser diese nächtliche Farbe, die sich stärker als alles andere erhalten hat und alles andere übertrifft, steht für diese Reise, die man später »Todesmarsch« nannte. Es war ein Weg in die Freiheit, der uns aus jenen Toren hinausführte, von denen keiner zu denken gewagt hatte, dass wir dort je einmal herauskommen würden.

Woran ich mich erinnere – im Grunde erinnere ich mich an alles von jener Reise –, aber das Eindrücklichste ist eben diese Farbe, diese nächtliche Farbe des um uns herum liegenden Schnees, die Farbe einer sehr langen, schwarzen Kolonne, die nur langsam vorankommt, und plötzlich – schwarze Flecken am Rand des Weges:

Abb. 1

Ein großer schwarzer Fleck und noch ein großer schwarzer Fleck und noch ein Fleck – erst war ich wie trunken von diesem blendenden Weiß, von dieser Freiheit, davon, dass wir das Terrain der Stacheldrahtzäune verlassen hatten, von der offenen nächtlichen Landschaft, von den Dörfern, an denen wir vorbeikamen. Ich schaue auf einen solchen schwarzen Fleck – und es ist die Leiche eines Menschen, und noch ein schwarzer Fleck, und ich verstand, was das war, und diese Flecken wurden immer häufiger, die Toten immer mehr.

Ich achtete darauf, denn je länger der Marsch dauerte, umso schwächer wurde ich, und ich geriet immer weiter zurück, ans Ende des Zuges, in die letzten Reihen, und wer in den letzten Reihen stolperte, wer zurückblieb, der wurde erschossen und wurde zu einem schwarzen Fleck am Rand des Weges. Die Schüsse fielen immer häufiger, die Flecken wurden immer mehr, bis, wie durch ein Wunder, zumindest für uns völlig unerwartet, der Zug am ersten Morgen Halt machte.

Ich werde jetzt nicht diesen Todesmarsch beschreiben, auch nicht die Flucht von dort und alles andere. Ich beschreibe hier nur eine Assoziation, die mir bei dem Gerede des Fahrers aus Krakau über die »Wisła zła« kam. Die wand sich entlang jener Straßen, die uns immer näher an Orte brachten, die ich erkannte. Ich erkannte sie gleichsam wie im Traum. Vielleicht habe ich sie auch gar nicht erkannt und nur gemeint, ich würde sie erkennen, aber das ist hier nicht von Belang. Ich verstummte, und schließlich bat ich auch den Fahrer zu schweigen.

Wir kamen dort an. Ich bat ihn, nicht zu den Museen zu fahren, nicht nach Auschwitz I, sondern, wenn er den Weg wisse, nach Birkenau.

Das Ziegelsteintor der Metropole. Die Landschaften des Schweigens und der Verödung von Horizont zu Horizont. Das Begräbnis von Auschwitz

Wir erreichten das Tor, jenes Tor aus roten Ziegelsteinen mit dem Turm, durch das die Züge gerollt waren und das ich so gut kannte. Ich bat ihn, vor dem Tor zu warten. Wollte nicht, dass er hineinfuhr. Es war ein verregneter Sommertag, nicht besonders kalt, sondern ein ununterbrochenes lästiges Nieseln – eine Mischung aus Nebel und feuchter Sicht und völlig schweigend. Wie ein so lästiger Regen schweigen kann.

Nachdem der Fahrer den Wagen geparkt hatte, ging ich die Schienen entlang, zwischen den Gleisen, dort, wo Gras wuchs, durch das Tor. Zum zweiten Mal, aber diesmal zu Fuß. Selbständig. Ich betrat ein Terrain, auf dem ich genau wusste, wohin ich gehen würde: in eines der Lager, das dort sein musste. Doch statt des Lagers erstreckten sich – von einem Horizont zum andern – Reihen, ein ganzer Wald von gemauerten Schornsteinen, die von den abgerissenen und verschwundenen Baracken übrig geblieben waren, und Betonpfosten, die einzustürzen drohten, jeder in eine andere Richtung, und Stücke rostiger Stacheldraht, links und rechts davon, einige noch am Pfosten befestigt, andere krochen im feuchten Gras. Und das feuchte Gras von Horizont zu Horizont, und das Schweigen. Ein unglaubliches Schweigen. Noch nicht einmal die Stimme eines Vogels. Da war Stille. Da war Leere. Da war die Fassungslosigkeit, dass jene Landschaften, in denen so viele Menschen zusammengepfercht gewesen waren, wie Ameisen, in Sklavenarmeen, in langen Reihen von Menschen, die sich auf den Wegen bewegten, dass jene Landschaften – nun schwiegen.

Abb. 2

Sie waren verlassen. Aber alles war da: Diese unzähligen Betonpfosten – man konnte sie fast noch stolz und aufrecht stehen sehen, wie bei unserer Ankunft, mit ihren ausgespannten Stacheldrähten, wie in der Nacht, als unser Zug einrollte, jener Nacht, die von Ketten von Lichtern erhellt wurde, die kurz über unsere Gesichter huschten, als wir in diesen Korridor des Lichts gelangten, den erleuchteten Korridor der Metropole des Todes.

Abb. 3

Aber dies war nicht mehr die Metropole des Todes von früher. Es war eine verödete Landschaft. Aber alles war noch da, nur in einer Art Distanz der Verödung. Und dennoch brennend. Brennend wie an jenem Tag. Nein, diesmal nicht so unschuldig wie damals. Das war jetzt keine Kindheitslandschaft mehr, es war vielmehr eine Landschaft von – ich möchte das Wort nicht benutzen – aber es war eine Gräberlandschaft. Auschwitz begrub sich vor meinen Augen. Auschwitz war begraben, aber es erstreckte sich noch immer, wie ein riesiges Grab, von einem Horizont zum andern. Aber alles war da. Ich zumindest konnte alles erkennen.

Auf den Ruinen des Kinderblocks und des Krankenbaus

Der erste Ort, zu dem ich über dieses Gras ging, waren die Grundmauern des Kinderblocks, das kulturelle Zentrum dieses einzigartigen Lagers, über das ich an anderer Stelle sprechen werde. Ich hob einen vergammelten Ziegelstein auf, das Stück eines Ziegelsteins, und nahm ihn mit. Ich war einer inneren Zählung folgend dorthin gegangen. Denn ich erkannte ihn doch, entsprechend den Barackenreihen, deren Grundmauern da noch in Reihen lagen. Ich wusste, dass es der 31. Block gewesen war.

Von dort aus ging ich in einen anderen Teil, dorthin, wo der Krankenbau gewesen war, zu jener Baracke, in der der berüchtigte Doktor Mengele seine Versuche...

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