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Lütten Klein

Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft

AutorSteffen Mau
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl284 Seiten
ISBN9783518762967
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Steffen Mau wächst in den siebziger Jahren im Rostocker Neubauviertel Lütten Klein auf. 1989 dient er bei der NVA, nach der Wende studiert er, wird schließlich Professor. 30 Jahre nach dem Mauerfall zieht Mau eine persönliche und sozialwissenschaftliche Bilanz. Er nimmt die gesellschaftlichen Brüche in den Blick, an denen sich Verbitterung und Unmut entzünden. Er spricht mit Weggezogenen und Dagebliebenen, schaut zurück auf das Leben in einem Staat, den es nicht mehr gibt. Wie wurde aus der Stadt, in der er gemeinsam mit Kindern aller Schichten seine Jugend verbrachte, ein Ort sozialer Spaltung? Was sind die Ursachen für Unzufriedenheit und politische Entfremdung in den neuen Ländern?

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<p>Steffen Mau, geboren 1968 in Rostock, ist Professor f&uuml;r Makrosoziologie an der Humboldt-Universit&auml;t zu Berlin. Nach seinem Studium der Soziologie und Politikwissenschaft an der Freien Universit&auml;t Berlin und der University of Bristol wurde er am Europ&auml;ischen Hochschulinstitut Florenz zum Dr. rer. pol. promoviert. Als Professor f&uuml;r Politische Soziologie war Mau 11 Jahre lang an der Universit&auml;t Bremen t&auml;tig. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Soziologie der sozialen Ungleichheit, Transnationalisierung, europ&auml;ische Integration und Migration. Von 2012 bis 2018 war er Mitglied der wissenschaftlichen Kommission des Wissenschaftsrats, au&szlig;erdem ist er Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Als einer der produktivsten Soziologen der Gegenwart f&uuml;hrten ihn zahlreiche Gastprofessuren und Fellowships u. a. an das Centre d&rsquo;&eacute;tudes europ&eacute;ennes et de politique compar&eacute;e Science Po in Paris, an die schwedische Universit&auml;t Ume&aring; und die London School of Economics. 2018 war Steffen Mau Fellow am Center for European Studies an der Harvard University.</p>

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Leseprobe

1. Neubau


Die Wohnungsfrage


Lütten Klein, der Stadtteil meiner Kindheit und Jugend, liegt auf halbem Weg zwischen dem Rostocker Stadtzentrum und dem Fischer- und Touristenort Warnemünde. Lütten Klein wurde zwischen Mitte der sechziger und Mitte der siebziger Jahre als Teil des Wohnungsbauprogramms der DDR im Plattenbaustil hochgezogen: Mehr als 10 ‌000 Wohnungen entstanden hier in nur einem Jahrzehnt. Rostock, die alte Hansestadt an der Ostsee, war im Zweiten Weltkrieg zu weiten Teilen zerstört worden, über achtzig Prozent der Wohngebäude waren beschädigt. In der Innenstadt wurde repariert, manche Perle der Backsteingotik durch Neues ersetzt; nach und nach erweiterte sich die Stadt aber auf die umliegenden Äcker. Auch dank der sozialistischen Plattenbauten stieg die Einwohnerzahl von unter 70 ‌000 zum Ende des Krieges auf über 250 ‌000 im Jahr 1989, womit Rostock zu den zehn größten Städten der DDR zählte.

Zu DDR-Zeiten war Rostock Bezirksstadt, verlor dann aber nach der Wiedervereinigung den Wettstreit um den Sitz der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommerns an das kleinere Schwerin. Für die DDR war Rostock das »Tor zur Welt«, über seine Häfen lief ein Großteil des Außenhandels, die Stadt war Zentrum des Schiffbaus, hier wurden Dieselmotoren und Fischkonserven produziert, die Staatsreederei hatte hier ihren Sitz. Hansa Rostock, in der DDR eine typische Fahrstuhlmannschaft mit Auf- und Abstiegen sowie einer unerschütterlichen Anhängerschaft, wurde 1991 mit dem Westtrainer Uwe Reinders letzter Meister der DDR-Oberliga. Stolz war man in Rostock schon immer darauf, eine der ältesten Universitäten Deutschlands zu haben. Das Studentenleben prägt bis heute die gründerzeitliche Kröpeliner-Tor-Vorstadt. Walter Kempowski, der große Chronist der Stadt, erzählt in seinen Büchern eindrucksvoll vom Leben der Rostocker Generationen: von der Wilhelminischen Zeit bis in die sechziger Jahre, vom Rostock der verwinkelten Gassen, des Kopfsteinpflasters und der bürgerlichen Familienbande, das allerdings so ganz anders war als das Rostock der Neubauviertel.

Lütten Klein war damals Teil eines ganzen Ensembles neuer Stadtgebiete im Rostocker Nordwesten. Dazu gehören Schmarl, Evershagen, Groß Klein und das durch die fremdenfeindlichen Ausschreitungen im August 1992 zu trauriger Berühmtheit gekommene Lichtenhagen. Wir wohnten in der zentralen Rigaer Straße, die Lütten Klein in eine Nord- und eine Südhälfte teilt. Die drei 18-geschossigen Hochhäuser in dieser Straße gelten als das Wahrzeichen des Viertels: »Windmühlenhäuser« werden sie genannt, weil ihr quadratischer Grundriss kleine Ausbuchtungen hat, die Windmühlenflügeln ähnlich sehen. Die Ausbuchtungen wirken wie Windfänge, die nicht nur die Gebäude schwanken lassen, sondern schon bei kleinerer Windstärke zu Pfeifgeräuschen führen. In unserem Hochhaus gab es auf jeder Etage ein verschachteltes Flursystem, das zu zehn Wohnungen führte; es müssen damals zwischen vier- und fünfhundert Menschen im Haus gewohnt haben. In der Mitte waren zwei Schächte für die Fahrstühle eingebaut, daneben befand sich in einem separaten Raum der Müllschlucker, durch den Abfälle in die Tiefe fielen. Wir, Eltern und drei Kinder, bewohnten eine Vierraumwohnung in der achten Etage und konnten bis nach Warnemünde und zur Kabelkrananlage der Warnowwerft sehen. Aus Sicherheitsgründen waren die Fensterbrüstungen allerdings so hoch, dass man als Kind auf einen Stuhl steigen musste, um hinauszuschauen. Die Ostsee kam nicht in den Blick, nur der Waldsaum auf der Steilküste. Wenn die Schiffe in den Hafen einliefen, sah es daher immer so aus, als führen sie direkt durch die Baumkronen hindurch.

Die DDR war stolz auf ihre Neubaugebiete, so stolz, dass man Postkarten von ihnen herstellte. So mancher Ostseeurlauber aus Sachsen, Thüringen oder Berlin mag sich ein Lütten Kleiner Motiv besorgt haben, um es mit einem kurzen Gruß an die Daheimgebliebenen zu schicken. Die Neubaugebiete – damals sprach niemand von der »Platte« – waren Ausweis sozialistischer Leistungskraft sowie des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und Ort der Verwirklichung einer neuartigen Lebensweise. Sie waren ein »riesiges Freiluft-Experiment«1 und standen Pars pro Toto für das, was die DDR sein wollte. Immerhin galt der Wohnungsbau als Kernstück der seit Anfang der siebziger Jahre proklamierten Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, welche eine »Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus« herbeiführen sollte. Die Bauherrin DDR setzte nicht auf Sanierung und Erhalt, sondern plante mit den Neubaugebieten den Entwurf einer traditionslosen Zukunft. Hier, in den neuen Großsiedlungen, musste nicht auf Bestehendes Rücksicht genommen werden, drängten sich keine Repräsentationen des Alten in den Blick, musste man sich nicht wie andernorts zwischen Bewahren oder Zerstören entscheiden. Wo alle Formen und Funktionen auf dem Reißbrett erschaffen werden konnten, ließen sich Vorstellungen des sozialistischen Miteinanders realisieren, welche die gesamten Lebensumstände erfassten.

Die DDR errichtete zahlreiche neue »Idealstädte«, in denen Arbeit und Leben der sozialistischen Menschengemeinschaft ihren Platz finden sollten. Christoph Weinhold, der 1966 während seines Architekturstudiums als Praktikant nach Rostock kam, blieb und später, nach der Wende, Architekt der Hansestadt werden sollte, war einer der Planer der Neubauten im Nordwesten Rostocks. Lütten Klein hatte, so seine Einschätzung, »eine besondere Position im Kanon der Entwicklung des Städtebaus, gehörte es doch vom Planungsansatz und von der räumlichen Dimension her mit Hoyerswerda, Eisenhüttenstadt und Schwedt zu den ersten großen, durch Arbeitskräftekonzentration hervorgerufenen Stadt- und Stadtteilplanungen«.2 Das Vorhaben wurde auch in den anderen sozialistischen Ländern aufmerksam zur Kenntnis genommen und fand Eingang in zahlreiche Standardwerke zur sozialistischen Baukultur. Im Vergleich zu vielen Altbauten, die auf dem technischen Standard der Jahrhundertwende verharrten, war die Wohnqualität hier von »konkurrenzlose[r] Attraktivität«:3 Die Wohnungen galten als komfortabel, da sie mit Fernwärme und nicht mit Kohleöfen beheizt wurden, warmes Wasser aus den Hähnen kam und alle lebensnotwendigen Infrastrukturen vor Ort vorhanden waren.

Die »Lösung der Wohnungsfrage«, die für die Parteiführung oberste Priorität hatte, wurde mit der Entwicklung eines »Einheitsbausystems« vorangetrieben, eines modularen Systems mit wenigen Bauteilen, aber großer Flexibilität bei der Zahl der Geschosse und den Wohnungsgrößen. Mitte der achtziger Jahre erreichte der industrielle Wohnungsbau in der DDR einen Anteil von über achtzig Prozent.4 Natürlich gab es auch im Westen Großwohnsiedlungen, man denke an das Märkische Viertel in Berlin, Köln-Chorweiler oder die Neue Vahr Bremen, ihr Anteil am gesamten Wohnungsbestand lag jedoch bei gerade einmal zwei Prozent.5 Zunächst als »Entlastungsstädte« gedacht, galten sie schon nach kurzer Karenzzeit als Orte, an denen sich soziale Probleme verdichteten. In der DDR hingegen wohnte fast ein Viertel der Bevölkerung in der »Platte«, in Rostock damals sogar siebzig Prozent.6 Die populärste Variante war die Wohnbauserie (kurz WBS) 70, die maßgeblich von dem Architekten und Stadtplaner Wilfried Stallknecht entwickelt wurde, der dann selbst viele Jahrzehnte in einem elfgeschossigen Plattenbau in Berlin-Lichtenberg lebte – der Prototyp von 1970 steht heute in Neubrandenburg unter Denkmalschutz. Stallknecht ersann eine Vielzahl gestalterischer Lösungen, die im Hinblick auf Materialaufwand und Effektivität Maßstäbe setzten und manch innovative Züge trugen. Es lassen sich sogar Verbindungen zwischen den Plattenbauten der...

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