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E-Book

Magersucht ist kein Zuckerschlecken

AutorMara Schwarz
VerlagPeriplaneta
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl232 Seiten
ISBN9783943876291
FSK1
Altersgruppe11 – 99
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
Zusehen zu mu?ssen, wie junge Menschen sich (fast) zu Tode hungern, ist schwer zu ertragen und kaum zu begreifen, zu fremd scheint die Denkweise bei einer Essstörung. Mara Schwarz öffnet deshalb ihr Tagebuch und bietet faszinierende, mitunter verstörende und erschreckende Einblicke in die fu?r Außenstehende nur schwer nachvollziehbare Gefu?hls- und Gedankenwelt von Magersu?chtigen. Nach einem traumatischen Erlebnis rutscht sie als Teenager in die Essstörung. Selbst als sie nur noch knapp 35 Kilo wiegt, fu?hlt sie sich immer noch viel zu fett. Im ständigen Ringen mit sich selbst und den besorgten Ärzten versucht sie verzweifelt und mit eiserner Disziplin, die Kontrolle u?ber ihr Leben zu bewahren. Mara Schwarz wird mehrfach eingewiesen, zwangsernährt, isoliert und therapiert und begegnet dem Druck von außen mit noch schärferer Selbstkasteiung, mit Depressionen und mit der Flucht in den Alkohol. Erst als Ärzte und Betreuer sie aufgeben und ihr raten, sich an ein Hospiz zu wenden, gelingt ihr der erste Schritt zuru?ck.

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Leseprobe

Vorspeise:


Dass ich existiere, grenzt an ein Wunder. Dieses Wunder beginnt unerwartet vor knapp 29 Jahren, als ich das Licht der Welt viel zu bald und zu leicht erblicke, führt weiter über ein Beinahe-Ertrinken im Kleinkindalter sowie einem gescheiterten Suizidversuch während der Pubertät und erreicht seine Spitze in vielen körperlich kritischen Phasen der Magersucht. Mein (Über)Leben ist so gesehen also ein reines Wunder. Dennoch verläuft es viele Jahre alles andere als wunderbar:

Schon der Start ins Leben ist schwierig. Ich bin ein Zwilling und ein sogenanntes Frühchen. Acht Wochen vor dem errechneten Geburtstermin kommen mein Bruder und ich zu klein und zu leicht auf die Welt. Wir werden nicht nur aus dem warmen, beschützenden Mutterleib gerissen, sondern auch voneinander getrennt in zwei Inkubatoren gelegt. Während unsere Mutter nach ein paar Tagen aus der Klinik entlassen wird, verbringen mein Bruder und ich die ersten Wochen unseres Lebens überwiegend einsam hinter Glaswänden isoliert, zwischen Kabeln und Schläuchen. Ich bin heute davon überzeugt, dass meiner Seele in dieser Zeit – wenn auch ungewollt – ihre ersten Wunden zugefügt wurden.

Im Abstand von jeweils zwei Jahren bekommen wir noch zwei Geschwisterchen, wobei ich das einzige Mädchen bleibe. Weil unsere Stadtwohnung zu klein geworden ist, bauen meine Eltern ein Haus weit draußen am Stadtrand. Dort wachsen wir in einem räumlichen Umfeld auf, wie man es seinen Kindern nur wünschen kann: idyllisch gelegen, umgeben von freier Natur, fernab vom Lärm, Dreck und den Autoabgasen der Stadt. Es soll uns an nichts fehlen. Jeder hat sein eigenes Kinderzimmer, wir dürfen Klavier- und Gitarrenunterricht nehmen, haben eine zugelaufene Katze sowie zwei Meerschweinchen, später einen Hund. Unsere Wäsche wird gewaschen, es steht immer ein gesundes Essen auf dem Tisch und wir fahren jedes Jahr in den Sommerurlaub.

Doch mir fehlt etwas: Mir fehlt Liebe, Zuwendung und Aufmerksamkeit. Ich bin „die Große“. Die, die vieles alleine schaffen muss, weil die kleineren Geschwister, sowie häufig auch mein Zwillingsbruder, der mir in seiner Entwicklung immer ein wenig hinterher ist, mehr Unterstützung benötigen als ich.

Heute mutmaße ich, dass die beiden kleineren Brüder mehr Fürsorge erfahren haben, weil sie – im Gegensatz zu uns Zwillingen – Wunschkinder sind.

Mein Vater ist nur selten zu Hause. Lange Zeit reist er berufsbedingt immer wieder rund um den ganzen Globus, um Geld zu verdienen und uns ein schönes Leben bieten zu können. Jedes Mal, wenn wir ihn zum Flughafen begleiten, weine ich, wenn der Airbus in die Wolken abhebt, immer kleiner wird, schließlich ganz verschwindet. Stets habe ich immense Angst davor, dass mein geliebter Papa nicht mehr wiederkommt.

Unsere erst 29-jährige Mutter bleibt mit vier Kindern sowie einem großen Haus und Garten zurück. Sie ist mit der großen Verantwortung, die bei ihr liegt, schlichtweg überfordert und möglicherweise werde ich darum einfach „übersehen“. Unsere Eltern meinen es gewiss stets gut mit uns, wissen Vieles jedoch aufgrund mangelnder Lebenserfahrung – mein Vater ist nur zwei Jahre älter als meine Mutter – vermutlich einfach nicht besser.

Im Kindergartenalter reduziere ich das Sprechen auf das Wesentliche. Aus irgendeinem Grund nämlich – vermutlich wegen des taubstummen Bekannten meines Onkels – bilde ich mir plötzlich ein, dass jeder Mensch nur eine bestimmte Anzahl Töne sprechen könne und wenn diese verbraucht sind, würde man stumm sein. Wenn ich meine Familie heute auf mein Schweigen anspreche, bekomme ich zur Antwort: „Das ist uns damals gar nicht so aufgefallen?!“

Im Grundschulalter beginne ich mich dafür verantwortlich zu fühlen, dass sich in unserem Keller immer genügend Lebensmittelvorräte befinden. Meine Großmutter erzählt oft gruselige Geschichten von Menschen, die nach Operationen nicht mehr erwachten, von Kugelblitzen, Einbrechern oder auch von Kriegserlebnissen. Ich lebe mit der Vorstellung, dass jeden Augenblick Sirenen ertönen können und aus heiterem Himmel Krieg über uns hereinbricht. Darum schleiche ich – obwohl es uns finanziell gut geht – immer wieder heimlich an den Geldbeutel meiner Mutter und stecke mein Taschengeld hinein, damit sie genügend Geld hat, um neue Vorräte einzukaufen.

Während der gesamten Schulzeit spreche ich in den Unterrichtsstunden zunächst kaum ein Wort, später gar nicht mehr, selbst dann nicht, wenn ich dazu aufgefordert werde oder mir ein mündliches „Ungenügend“ droht.

Auf Anraten meines Lehrers, der scherzhaft erwähnte, ich solle, um meine Schüchternheit abzulegen, vor den Tests ein Glas Sekt trinken, mache ich meine erste Erfahrung mit Alkohol, und obwohl das Experiment ungewollt massiver als geplant ausfällt, absolviere ich meine mündliche Abschlussprüfung mit „sehr gut“.

Weil also der Unterricht sehr häufig ins Stocken gerät und somit die Stunde manches Mal länger dauert, bin ich mich bei meinen Mitschülern nicht gerade beliebt. Hinzu kommt, dass ich das, was ich als zerbrechliches Frühchen zu wenig auf den Hüften habe, mit Beginn der Pubertät umso mehr ansetze. Ich bin weiblicher und dicker als meine Klassenkameradinnen, und da ich nicht in den angesagtesten Klamotten zur Schule komme und aufgrund meiner strengen Erziehung weder bei Klassenausflügen noch bei Kinobesuchen und Ähnlichem dabei sein darf, werde ich sehr bald zum Spottobjekt der Klasse. Es bleibt nicht nur bei Hänseleien über mein Äußeres, die Diskriminierung führt auch über das Wegnehmen und Zerreißen der Schulhefte bis hin zum Anzünden meiner Haare. Zu Hause finde ich kein Gehör für diese Probleme. Viel mehr Wert wird darauf gelegt, meine schulischen und musikalischen Leistungen zu verbessern.

Als ich 13 Jahre alt bin, kommt der Tag, an dem tatsächlich eine Person Interesse an mir zeigt. Es ist der Tag, an dem ich mich neugierig und unerfahren (Sexualität ist in unserer Familie ein Tabuthema) heimlich mit einem wesentlich älteren Jungen, genau genommen einem erwachsenen Mann, treffe. Wissend, dass man es mir verbieten würde. Möglich, dass das ein Grund dafür ist, warum ich mir später die Schuld an dem gebe, was damals geschieht. Denn dieser Mann meint es keineswegs gut mit mir. Ich mache die schlimmste Erfahrung, die ein Mensch auf sexueller Ebene überhaupt machen kann.

Nach diesem Treffen ist nichts mehr wie vorher. Aus Angst und Scham erzähle ich zunächst niemandem, was passiert ist. Es scheint geradezu so, als würde ich versuchen, das Geschehene ungeschehen zu machen, indem ich es totschweige. Später sende ich zwar ab und an versteckte Hilferufe an meine Umwelt, doch werde ich tatsächlich darauf angesprochen, erfinde ich aus Furcht vor Konsequenzen eine etwas andere Geschichte, die mir niemand glaubt.

Stück für Stück isoliere ich mich von meiner Umwelt, ziehe mich in mich selbst zurück.

Weil ich immer häufiger neben mir stehe, vergesslich bin oder mich mit verheult glasigen Augen in mein Zimmer verkrieche, kommt der Verdacht auf, dass ich Drogen konsumieren würde, was sich nach einer Blutuntersuchung des Hausarztes nicht bestätigt.

Aufgrund der Hänseleien in der Schule und den sich häufenden Aussagen meiner Familie über mein zu hohes Körpergewicht esse ich zunächst weniger und entwickle schon bald anorektische Verhaltensweisen. Ich möchte nicht weiblich sein, will mich aus diesem Körper, in dem ich mich nun gefangen fühle, der mich zutiefst anwidert, befreien. Und ich möchte mich auch aus meiner Situation, aus meinem Umfeld befreien. Aber ich weiß absolut nicht, wohin ich flüchten kann. So ziehe ich mich immer weiter in mich selbst zurück, fliehe Stück für Stück mehr in die magersüchtige Welt – mit dem Ziel, in eine Klinik eingewiesen zu werden. Jeder Bissen, den ich esse, jeder Schluck, den ich trinke, lässt mein Ziel weiter in die Ferne rücken.

Sechs Monate später wiege ich knapp 20 Kilo weniger und werde nach einem Suizidversuch zum ersten Mal stationär in einem Krankenhaus aufgenommen. Doch damit bin ich nicht am Ziel, denn ich befürchte, in mein altes Umfeld entlassen zu werden, sobald ich essen und zunehmen werde. So manifestiert sich mein magersüchtiges Verhalten. Ich sage: „Ich möchte nicht dick werden!“, aber meine: „Ich möchte nicht nach Hause zurück!“

Nach fünf Wochen kommt trotzdem die Entlassung und der Kreislauf schließt sich: Mein verzweifeltes Ziel ist es, so schnell wie möglich erneut in eine Klinik aufgenommen zu werden. Zu diesem Zeitpunkt hält mich der Gedanke an eine Einweisung sogar mehr davon ab, zu essen, als der Wunsch danach, dünner zu werden.

Meine Familie macht sich große Sorgen um mich, ist aber im Umgang mit meiner Krankheit völlig überfordert. Meine Eltern reagieren mal auf einfühlsame, mal auf strenge Art, einmal locken sie mit Belohnungen, dann wieder drohen sie mit Sanktionen. Beides bleibt wirkungslos. Da meine 12-saitige Gitarre mit nur 6 Saiten bespannt ist, probiert meine Mutter mich einmal mit dem Angebot „Wenn du auf 50 Kilo zunimmst, bekommst du 12 Gitarrensaiten!“ dazu zu bewegen, wieder zu essen.

„Dann habe ich lieber keine neuen Saiten!“, antworte ich trotzig.

Immer stärker belastet die Magersucht das Familienleben. Meine Geschwister müssen mit Fortschreiten meiner Krankheit oft hintenanstehen und können...

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