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E-Book

Meine Familie

AutorNikolaus Harnoncourt
VerlagResidenz Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783701745937
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Die persönliche Familienchronik der Harnoncourts. Nikolaus Harnoncourts Kindheit und Jugend war von der Not und den Folgen des Zweiten Weltkriegs, dem Erziehungscodex des adeligen Standes seiner Familie und der Liebe zur Musik geprägt. Eine Welt im Umbruch, eine Ära der politischen und gesellschaftlichen Veränderung. Um seinen Kindern und Enkeln diese Zeit näherzubringen, schrieb er seine Erinnerungen und Reflektionen in dem 'Familienbuch' auf. Wie ging seine Familie mit dem ökonomischen und politischen Wandel um? Wie lebte es sich nach dem Zusammenbruch des bisher Gewesenen? Und welche Traditionen prägten die Familie Harnoncourt? Die persönlichen Aufzeichnungen von Nikolaus Harnoncourt sind eine spannende Spurensuche in die Vergangenheit.

Nikolaus Harnoncourt, geboren 1929 in Berlin, gestorben 2016, gründete 1953 sein Ensemble für Alte Musik, den Concentus Musicus. Als Dirigent erhielt er zahlreiche internationale Auszeichnungen, u. a. den Gramophone Lifetime Achievement Award (2009) und die Goldmedaille der Royal Philharmonic Society (2012). Alice Harnoncourt, geboren in Wien 1930 begann schon sehr früh Klavier zu spielen ehe sie mit 9 Jahren die Liebe zur Geige entdeckte. 30 Jahre lang prägte sie den Concentus Musicus als Konzertmeisterin und Solistin und spielte anschließend am ersten Geigenpult bis zum letzten von Nikolaus Harnoncourt dirigierten Konzert. Ihren Künstlerkollegen war sie Mutter und Herz des Ensembles. Ihr aktuelles Buch beim Residenz Verlag: 'Wir sind eine Entdeckergemeinschaft'.

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Leseprobe

»WECHSELBALG? ICH?«


»Ich gehe in mein Versteck, nehme die Gummischnur und einen kleinen verfaulten Paradeiser und platsch, zerrinnt er schon auf ihrem Decolleté. Es war ein ›wichtiger‹ Besuch, und meine Freude an diesem phantastischen Empfang war entsprechend groß.

Wie kommt so ein Mistbratl wie ich in unsere Familie? Alle waren sie brav und fügsam, gut formbar durch die Erzieher und Fräuleins – natürlich waren das ausgebildete Fachkräfte, christliche Pädagogen, die von ihrer geliehenen Macht Gebrauch machen durften; sie hatten selbstverständlich auch Strafgewalt. Also bei mir bissen sie sich die Zähne aus, ratlos probierten sie eine Methode nach der anderen: Liebe, Überredungskunst, kleine, nach und nach immer größere Essensstrafen, Strafaufgaben schreiben: hundertsiebenundzwanzigmal in Schönschrift ›Ich will nie mehr mein Essen ausspucken, weil es eine Gottesgabe ist‹, und da habe ich schon dreißigmal das ›nie mehr‹ ausgelassen und ›immer‹ geschrieben; was für eine schreckliche Gotteslästerung! Was soll man tun, wenn dieser Wechselbalg … ja, das wird es sein: ich bin ein Wechselbalg (Grimm, Wechselbalg: ›bezeichnung eines von einem unhold erzeugten und an stelle eines menschenkindes der wöchnerin untergeschobenen kindes … sie sind bösartig, ungebärdig … sie werden auch für kinder des teufels gehalten‹; oder ›ein aus der art geschlagener, seines geschlechts unwürdiger … überhaupt ein moralisch mißratener‹), eine Herrscherin im Bösen, die wohl das ganze Haus vergiftet.

Die Popos schmerzten, immer wieder übersah man die Gurte mit Reißnägeln auf den Sesseln. Zum Unterricht kam ich nur, wenn ich gerade Lust hatte, das Fräulein Seyffert oder die Miß O’Shean aufs Blut zu sekkieren. Ach ja, morgen will ich Fischleim in die Handarbeitstasche schütten, da wird die Wolle schön zusammenpicken, und gestern, das war überhaupt das Köstlichste! Wir haben doch einen umlaufenden Balkon in der Bibliothek, mit einer Leiter; da oben war ich genau zu Beginn der Englischstunde mit einer Tintenflasche in der Hand. Die Miß wartet verzweifelt, ruft: ›Come along, child!‹, schließlich schreit sie wie wild, rennt suchend herum; lächerlich mit ihren Zappelschritten! Kaum ist sie in der Bibliothek unter mir, ziehe ich die Leiter ein und lache, meckernd wie ein höllischer Ziegenbock. ›You naughty girl‹ – und schon floß ihr die Tinte über den Kopf und das drapfarbene Kleid. Da meckert es noch viel lauter …«

Noch immer ein bißchen stolz, hat sie etwa 40 Jahre später ihrem Jüngsten, Franzi, erzählt, daß sie sich gerne im Klavierzimmer auf einen Kasten gesetzt hat und wenn die bucklige Lehrerin sie suchte, auf ihren Rücken gesprungen ist, um sie zu schrecken … Sie hat auch Lily von ihren Klavierstunden erzählt: »Zweimal pro Woche, einmal von Noten, einmal auswendig.« Das Notenspielen haßte sie, so stieg sie aufs Fensterbrett im 2. Stock: »Auswendig oder ich springe!« … Die Klavierlehrerin erstarrt vor Angst – sie erreicht fast immer triumphierend ihr Ziel … Hilflosigkeit im ganzen Haus angesichts dieses Kindes. Die Hauslehrer schlagen in ihren Büchern nach: keine Präzedenzfälle. Die Eltern beraten sich und sehen sich ohnmächtig: der totale Autoritätsausfall. Was sollte man mit ihr noch machen? Strafen, strafen, das ganze Repertoire durch; keine Wirkung, nur immer wieder dieses Lachen! Sie steckt ja noch die Geschwister an mit ihrer unerschöpflichen Bosheitsphantasie! Die Mama (Großmama) weint, damit erreicht sie nichts, nur immer wieder dieses Lachen … nach und nach breitet sich lähmende Desperation aus im Palais. Die letzte Hoffnung: der Papa (Großpapa). Den hatte man von solchen Schwierigkeiten stets ferngehalten, sein Haus mußte ja funktionieren mit all dem Spezialpersonal. Probleme hatte er schon im ›Reichsrat‹, dem er als Enkel Erzherzog Johanns angehörte, genug. Er war also die letzte Rettung, die allerletzte.

»So wurde ich vor ihn gebracht, ich lachte. Meine schon sehr lange und vielfältige Sündenliste wurde ihm vorgetragen. Auch sein strenger Blick und sein sprachloses Knurren erreichten mich nicht – ich lachte. Dann knöpfelte er seine Lederhosenträger los, die Miß mußte meinen Popo freilegen und er haute knurrend drauflos. Die Miß wandte sich schluchzend ab und Mama schaute streng … ich lachte, lachte, lachte … ›Hol mir den neuen Roßknecht, den wilden Klachl‹, brummelte er seinen Diener an. Zehn Minuten eisiger Stille, keine Miene bewegt sich, man hört nur das leise Knurren Papas und mein jetzt ebenfalls leises Meckern. Der Knecht stampft herein, Pferdedunst breitet sich aus, wieder mußte die Miß meinen Popo freilegen. ›Da‹, sagte Papa und zeigte hin, ›aber fest‹, und der drosch mit dem Zaumzeug auf mich ein. Mama und die Miß heulten auf. ›So‹ – der Knecht geht zurück in den Stall. Das Kleid fällt über meinen blutigen Popo – ich kann nicht mehr lachen, es tut weh. Alles das konnte mich nicht zur Umkehr bewegen. Die Verlockung war einfach zu groß: ich beherrschte das ganze Haus, meine große, ehrwürdige Familie und sogar die Dienstbotenschar. Was geschieht als nächstes? Meine Phantasie wucherte ständig, ich schwamm direkt in köstlichen, stets neuen Ideen – wenn das Schlimmheit war oder gar böse und sündhaft, dann war es herrliche, köstliche Schlimmheit, tausendmal schöner als die lahme Bravheit der Geschwister. Dieses elementare Vergnügen war unheilbar und trieb mich an, allen Strafen und Martern zum Trotz.

Schließlich kam der letzte, schlagende, vernichtende Trumpf. Die gütige Mama hatte ihn gefunden: die Erste Heilige Kommunion wurde mir verwehrt. ›Zuerst mußt du den Teufel (den ›Luzifer‹, den ›Lichtbringer‹ – so sagte sie) austreiben.‹ Das war hart, das war bitter, ich war ja fromm und gläubig. Nie hätte ich gedacht, daß der Teufel in mir wohnt, daß meine Untaten die Welt in ihren Grundfesten erschüttern konnten. Es waren doch meine ganz persönlichen Geschichten, die waren doch, samt all den Strafen, nur einfach lustig, ein tolles Theater, das mein Temperament unbedingt haben mußte, immer fiel mir noch etwas ein, das ganze Haus mußte mitspielen, ob sie wollten oder nicht, getrieben von meiner wilden und immer wilderen Phantasie! Das soll also der Luzifer in mir anrichten?! Ja, ich mußte das glauben und dann glaubte ich es. Es war schrecklich, schlimmer als die ärgsten Strafen. Der Teufel also – das war die letzte verzweifelte Reaktion auf mein Wesen. Und sie traf mich ins Mark. Ich sehnte mich ja so nach der Heiligen Kommunion, und ich war auch so gut vorbereitet von Pater Benedict. War es wirklich der Teufel, dem ich verfallen war, war ich wirklich ein Wechselbalg? Zwei ganze Jahre ging es hin und her. Alle meine Freundinnen durften schon das Sakrament empfangen – seit zwei Jahren! War wirklich so etwas Schreckliches in mir?

Schließlich fand ich – hart genug – den Weg: die Heilige Kommunion verwandelte mich … Ich mußte Mama (Großmama) versprechen, ›ein neuer Mensch zu werden‹, denn ›so lang der Teufel in deinem Herzen wohnt, kannst du den Heiland nicht empfangen‹. Wirklich: an diesem so heiß ersehnten Tag wurde ich für alle, die mich kannten, ein anderer Mensch. Wirklich! Das meckernde Lachen hatte sich in ein brodelndes Kochen verwandelt, ich spürte es in meinem Inneren, niemand hörte es, und niemand durfte es je bemerken.«

Mama wurde ja dann ganz ›brav‹, nur noch ›ein Bündel Disziplin‹ – die ruhigste unter ihren Geschwistern … solange alles normal verlief. Innerlich war es wohl oft oder vielleicht sogar immer auf des Messers Schneide, und vor dem ›Umkippen‹ hatte sie selbst am meisten Angst. Einmal nahm Großpapa sie nach Monte Carlo mit – das war eine große Ehre für sie und ein Beweis, daß die Eltern ihr jetzt einwandfreies Benehmen zutrauten. Er fuhr gelegentlich dorthin und ging auch in den Spielsalon, immer mit einem abgezählten Geldbetrag. Er ließ sich nie zu Geldabenteuern hinreißen, er verlor oder gewann, und Schluß. Natürlich nahm er einmal auch Mama/Laja dorthin mit, das Casino war ja die Sensation von Monte Carlo. Er gab ihr sogar Geld (natürlich nicht viel) und vernünftige Ermahnungen und Ratschläge. So spielte sie dann auch und geriet in den Strudel der Leidenschaft. Sie verlor, und dann gewann sie und schließlich konnte sie nicht aufhören … Da man Großpapa kannte, ließ man sie ohne weiteres überziehen, noch und noch – sie war schon so in Rage, außer Kontrolle, in einer Art Trance – schließlich mußte Großpapa sie auslösen. Sie wußte, sie durfte nie wieder da hineingeraten, sie war eine ›Spielerin‹, mehr noch, hatte eine wohl unheilbare Spielsucht. Auch in Schloß Glanegg bei Onkel Fritz ist’s beim Roulette passiert: die Spielleidenschaft riß sie fort und Großpapa...

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