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Musik und Revolution

Die Produktion von Identität und Raum durch Musik in Zentraleuropa 1848/49

VerlagHollitzer Wissenschaftsverlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl672 Seiten
ISBN9783990121283
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis49,99 EUR
Keine Revolution kommt ohne Musik aus, und dennoch wird dieser Zusammenhang selten thematisiert. Das gilt insbesondere für das 'tolle Jahr' 1848. Der Bedarf an Revolutionsmusik war groß: jede Kompagnie einer Nationalgarde oder Akademischen Legion wollte ihre eigenen Lieder und Märsche. Diese erklangen bei Aufzügen, Fackelzügen, Fahnenweihen, in den Straßen, auf den Barrikaden, in Konzerten und sogar in den Salons. Auch bekannte Lieder wie das studentische Fuchslied oder die Kaiserhymne wurden in den Dienst der Revolution gestellt. So gut wie alle Komponisten dieser Zeit (darunter auch einige Komponistinnen) beteiligten sich an der Produktion einschlägiger Werke, viele MusikerInnen an deren Ausführung, wenngleich so mancher sich in der nachrevolutionären, neoabsolutistischen Phase wieder davon distanzierte. Auch die Konzert- und Theaterprogramme reagierten musikalisch auf die politischen Ereignisse. Im Zentrum der Untersuchung steht Wien, doch wird der musikalischen Seite der Revolution auch in Graz, Klagenfurt, Triest, Ljubljana, Zagreb, Novi Sad, Budapest, Pressburg, Prag und in Lombardo-Venetien wird nachgegangen.

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Leseprobe

WOLFGANG HÄUSLER


MARSEILLAISE, KATZENMUSIK UND FUCHSLIED ALS MITTEL SOZIALEN UND POLITISCHEN PROTESTS IN DER WIENER REVOLUTION 1848


Carl Wilhelm Ritter von Borkowski, geboren 1829 in Czernowitz, 1848 Student am Wiener Polytechnikum und Mitglied der Akademischen Legion, 1905 als erfolgreicher Architekt des Döblinger Cottageviertels gestorben, hat in Briefen an seinen Vater seine Erlebnisse der Wiener Revolution in Wort, Zeichnung und Karikatur mit großer Eindringlichkeit beschrieben. Am Montag, dem 21. August 1848, patrouillierte Borkowski durch die Vorstädte, um die Unruhe unter den Arbeitern und Arbeiterinnen bei den öffentlichen Arbeiten unter Kontrolle zu halten.

Der Sonntag war gänzlich ruhig. Doch montags bewegte sich ein großer Zug von Arbeiterweibern in die innere Stadt zum Sicherheitsausschuß hin. Sonderbar war der Anblick dieses Zuges, welcher von einer sehr kräftigen Arbeiterfrau, ungefähr 30 Jahre alt, angeführt wurde. Sie hatte langes, braunes Haar und eine große, kräftige Gestalt; ihre Unterarme waren so kräftig wie die eines Mannes, sie hob ihr dunkelblaues Kleid leicht an, um fester voranschreiten zu können. Einige um sie herum führten die Fähnchen ihrer Arbeitsabteilungen mit sich. Um diesen malerischen Anblick noch weiter zu bereichern, stimmten diese Arbeiterinnen das Lied der Französischen Revolution an. Jedoch gaben sie jener berühmten Marseillaise einen neuen Text bei, denn es ist ganz unnötig zu erklären, daß selbige des Französischen nicht mächtig sind. Der neue Text lautete wie folgt:

Für die Freiheit und für gutes Brot

ziehen wir hier gern voran!

Und wir lassen uns nicht schelten

von einem schwarzen Mann!

Doppelt hat man uns geprellet,

um Brot und Freiheit gar!

Hinaus mit doppelt schwarzem,

mit doppelt ledrem Paar!

Die Anspielung mittels der Wörter „schwarz“ und „doppelt“ sollte die Minister Schwarzer und Doblhoff meinen, denn selbige haben auf ein Bittgesuch der Arbeiterfrauen mit bloßer Ablehnung reagiert. Als man dann noch die Reduzierung der Arbeitslöhne für Männer veranschlagte, ist die Stimmung ins äußerst Hitzige aufgestiegen, und so strömten auch Arbeiter und Kinder durch die Tore in die Stadt. So leicht hätte man diese Situation abwenden können, und mit einem kleinen Versprechen wäre dieser Amazonenaufzug eine romantische Erscheinung geblieben, welchem sich nur mehr findige Maler und Poeten angenommen hätten. […] In Wien war an diesem Tag die Stimmung äußerst gefährlich geworden, und man verspürte die Gefahr einer ungeheuer losbrechenden Proletarierwut gegen alle Obrigkeiten.1

Nach den Barrikadentagen Ende Mai, in denen Arbeiter und Studenten vereint die Auflösung der Akademischen Legion und die nach der Entfernung Kaiser Ferdinands und des Hofes nach Innsbruck drohende Beschneidung der demokratischen Errungenschaften der März- und Mairevolution verhindert hatten, proklamierten Ministerium und der neu zusammengetretene Sicherheitsausschuss (volle Bezeichnung: Ausschuss der Bürger, Nationalgarde und Studenten zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit und für Wahrung der Volksrechte) das „Recht auf Arbeit“. Schon am 6. Mai war ein Ministerium für öffentliche Arbeiten gebildet worden, das Freiherr Andreas von Baumgartner (übrigens das Vorbild für den Freiherrn von Risach in Stifters Nachsommer) leitete; Baumgartner wurde am 18. Juli durch den Journalisten Ernst von Schwarzer abgelöst.

Die bei den öffentlichen Erdarbeiten Beschäftigten, deren Zahl bald über 20.000 stieg, setzten sich aus arbeitslos gewordenen Fabriks- und Gewerbsarbeitern (v. a. aus dem Textilsektor), Taglöhnern und Zuzüglern zusammen, die namentlich aus den böhmischen Notstandsgebieten nach Wien strömten. 40 Prozent der Erdarbeiter waren Frauen, die auch ihre Kinder auf die Baustellen mitnahmen. Der Versuch, die Zahl dieser Arbeiter durch Freiwilligenwerbung für die Italienarmee Radetzkys zu verringern, scheiterte: Aufgebrachte Arbeiter zertrümmerten die Werbehütten und vertrieben die Offiziere. Die seit Mitte Juni erhobenen Forderungen der vielfach obdachlosen Arbeiter nach Lohnerhöhung und Bezahlung der Regen- und Feiertage wurden vom Sicherheitsausschuss, der die politischen und ökonomischen Interessen des Kleinbürgertums vertrat, mit Abmahnungen, bald aber mit der Drohung von Gewaltanwendung zurückgewiesen. Auswärtige Arbeiter – namentlich die Tschechen wurden als „Aufwiegler“ bezeichnet – sollten abgeschoben werden. Gegen die protestierenden Arbeiter wurde scharfe Munition ausgegeben – der Aufmarsch der Nationalgarde am 19. Juni demonstrierte den Erdarbeitern die Entschlossenheit des Bürgertums, „Ordnung und Ruhe“ herzustellen. Das im Mai geschlossene Bündnis im Namen der demokratischen Revolution war brüchig geworden. Der am 27. Juni gefasste Beschluss zum Bau der Semmeringbahn nach Ghegas Plänen entsprang nicht zuletzt der Absicht, die Zahl der Erdarbeiter in Wien drastisch zu reduzieren – die „Nomaden der Arbeit“ (Ferdinand von Saar, Die Steinklopfer) wurden mobilisiert. Am 19. August – wir werden hören, wie sich an diesem Tag die Respektlosigkeit der Akademischen Legion gegenüber Kaiser Ferdinand dem Gütigen im Fuchslied äußerte – verfügte Minister Schwarzer die Reduzierung des Taglohnes der Frauen von 20 auf 15 Kreuzer, den der Jugendlichen unter 15 Jahren von 12 auf 10 Kreuzer – ein Pfundlaib Brot kostete 6 Kreuzer. Eine Lohnreduktion bei den Männern war angekündigt; Schwarzer drohte überdies mit dem Beispiel der Niederwerfung des Pariser Juniaufstandes der Arbeiter der Nationalwerkstätten.

So steht das von Borkowski festgehaltene Bild der protestierenden, singenden Arbeiterinnen in einer großen revolutionären Tradition. Es ist anzunehmen, dass der Student vom Zug der Weiber nach Versailles am 5./6. Oktober 1789 gehört hatte und wohl auch Kenntnis von Delacroix’ von Heine gerühmtem Gemälde Die Freiheit führt das Volk aus der Pariser Julirevolution 1830 hatte. Die Marianne mit der Jakobinermütze wurde vollends seit 1848 zur Symbolgestalt der revolutionär begründeten Französischen Republik bis zum heutigen Tag, verkörpert in attraktiven Büsten von Brigitte Bardot, Mireille Mathieux, Cathérine Deneuve und Laetitia Casta.

Die Augustunruhen stehen an der Peripetie des Wiener Sturmjahres und bezeichnen die Ambivalenz der bürgerlich-demokratischen Revolution. In ihrem Prozess wurden die außerhalb der ständisch verfassten, monarchisch-bürokratisch regierten, polizeilich und militärisch kontrollierten Gesellschaft stehenden Unterschichten vom Objekt der Disziplinierung zum geschichtsmächtigen Subjekt, zur Klasse für sich. Der Strukturabbau herrschaftlicher Bindungen des Feudalismus, das historische Werk des auf Besitz und Bildung beruhenden Bürgertums, schlug im 19. Jahrhundert in die gleichzeitige Aufrichtung neuer Abhängigkeiten, Ausbeutungsverhältnisse und Entfremdung um – Widersprüche, welche die bürgerliche Gesellschaft und den modernen Staat, deren Werte seit 1789 in den Kategorien der politischen Freiheit und der Gleichheit der Rechte definiert waren, nicht zur Ruhe kommen ließen. Das Bewusstwerden der Antagonismen der neuen, eben erst die Fesseln des Feudalismus abstreifenden Gesellschaftsordnung wurde selbst zum revolutionierenden Moment im Prozess der modernen Welt der Technik und des Industriekapitalismus. Der historische Ort sozialen Protests in der bürgerlichen Revolution ist so in der Dialektik systemimmanenter Krisen, gesellschaftlichen Wandels und der Erweiterung der politischen Partizipation zu suchen. Die historische Definition von Liberalismus und Demokratie bedarf der Analyse des Verhältnisses des aufsteigenden Bürgertums zum Sozialprotest, der 1848 in der beschleunigten Entwicklung vom Pöbel zum Proletariat in die frühe Arbeiterbewegung als Klassenbildung und in die Anfänge des Sozialismus und Kommunismus mündete. Diesen Übergang bezeichnet in Wien der Wandel der politischen Terminologie von der „demokratischen Monarchie“ zur „socialen Demokratie“.

Exakt an diesem Wendepunkt steht die von Borkowski überlieferte Umformung der Marseillaise, der Hymne der politischen, sozialen und nationalen Revolution Frankreichs in der Auseinandersetzung mit den monarchischen Mächten. Es kann hier nicht diskutiert werden, inwieweit österreichische Musiktradition mit der in ihrer Bedeutung erst spät gewürdigten Person des Niederösterreichers Ignaz Pleyel auf die mitreißende Kampfhymne Rouget de Lisles eingewirkt hat – dass Pleyel im musikalischen Milieu Straßburgs in einer aufgewühlten Zeit eine wichtige, vermittelnde und integrierende Gestalt war, steht wohl außer Zweifel. Die Transformierung vom Kampflied gegen den äußeren Feind zu Beginn des Krieges der konservativen Mächte gegen das revolutionäre Frankreich (25./26. April 1792) zur republikanischen Hymne darf als bekannt vorausgesetzt werden. Zur Marseillaise war der „Chant de guerre pour l’armée du Rhin“ durch das Bündnis der radikalen bürgerlichen Revolutionäre mit den Sansculotten oder Bras nus geworden. Am 25. Juni 1792 bei einem Fest der Jakobiner in Marseille gesungen, trugen es die Freiwilligen aus dem Süden nach dem bedrohten Paris – als „Chant des Marseillais“ feuerte das Lied den Sturm auf die Tuilerien (10. August 1792), den Sturz des Königtums, an. Dass die übrigens von Napoleon als Kaiser zurückgedrängte Revolutionshymne (sie wurde durch den „Chant du Départ“ von Chénier und Méhul ersetzt) in Österreich während der Reaktionszeit verpönt war, versteht sich von selbst. Versteckt in der Melodie von Spieluhren oder in ein paar Takten des Schumannschen Faschingsschwankes...

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