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E-Book

Nüchtern betrachtet

Mit Erinnerungen von Gisela Ludwig

AutorRolf Ludwig
VerlagDas Neue Berlin
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783360500847
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Rolf Ludwigs Leben verlief nicht ohne Umwege und Schicksalsschläge, war aber auch reich an glänzenden Erfolgen, herausfordernden Aufgaben und Glückszufällen. Unsentimental, mit Augenzwinkern, plauderte er in seiner Autobiografie aus dem Nähkästchen und schüttete mit Schwung einen Sack voller Theateranekdoten, Kantinen- und Stammtischweisheiten aus. So kannte und liebte ihn sein Publikum. Seine Witwe Gisela erinnert sich an die gemeinsamen Jahre. Es war eine Beziehung, die man landläufig wohl als 'spätes Glück' bezeichnet. Er starb 1999, seine vielen Film- und Theaterrollen sind Legende.

Rolf Ludwig (1925-1999) Bühnen- und Filmschauspieler seit 1947. Berühmt wurde er durch DEFA-Filme wie 'Das Feuerzeug' (1959), 'Seine Hoheit - Genosse Prinz' (1969), 'Lotte in Weimar' (1975) und 'Die Grünstein-Variante' (1984). Vielfach ausgezeichnet, so mit dem Fellini-Preis, bekam er 1996 die Goldene Henne für sein Lebenswerk.

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Leseprobe

Für Gisela, Katharina und Andreas

DRINK ’MER NOCH Ä’ DREPPCHEN IM »DREPPCHEN«

Ich stoße die Tür auf. Zwergenland. Alles scheint mir ganz klein, ganz eng. Da steht noch der Tresen, davor das massige Billard. Am Fenster der Vierertisch, und in der Ecke der alte Kachelofen. Ich kneife meine Augen ganz fest zu …

Da erscheint im Türrahmen ein dunkelhaariger, langbeiniger Knabe in kurzen Hosen und Kniestrümpfen (von Mutter ab 17 Grad Celsius gestattet!), eine Bierkanne in der Hand. Das Gesicht des Zehnjährigen besteht nur aus Augen, aufmerksamen, graublauen Augen. Der Wirt weiß schon Bescheid. Vom Hahn zischt das Bier blumig in den Glasbauch der Kruke. Ein angenehmes Geräusch, das der Junge zeitlebens als wohlig empfinden wird. Der Porzellanproppen mit der Gummidichtung wird auf den Kannenhals gepreßt. Bloß nicht zu sehr schütteln, mein Junge! Der nickt. Draußen wird er den Verschluß lösen und probieren, ob beim Herumschleudern der Kanne ein Tropfen Bier entwischt …

Ich halte die Augen noch immer geschlossen und höre direkt dieses leicht dumpfe, hölzerne Aufeinanderprallen der Billardkugeln. Und wie die Männer sagen: »Nu, da had dr Ludewich-Richard widr deschtsch zugelangt!« Der Junge beobachtet die stockbewehrten Männerschatten durch sein Himbeerlimonadenglas. Er ist stolz auf seinen Vaddel, diesen gedrungenen und trinkfesten Steindrucker, der sich mit dem Queue die »Pfenge« für sein Feierabendbier erstößt. Damit spült er den Staub aus dem Schlund, wie es seine Vorfahren getan haben und deren Vorfahren. Der Vater, Steinmetz Wilhelm August Friedrich Siegfried Ludwig; der Großvater, Steinmetz Wolfgang Heinrich Gustav August Ludwig; der Urgroßvater, der – nee, der soff quasi von Berufs wegen. Auf dem Friedhof im niederschlesischen Bunzlau ist wertungsfrei in den Grabstein gemeißelt: »Hier ruht Friedrich Wilhelm August Gustav Heinrich Ludwig, Hochzeitsbitter.« Eine Profession, die ihn nur 36 Jahre alt werden ließ und heute dank Eheanbahnungsinstituten, Kontaktanzeigen und allgemeiner Sittenlosigkeit ausgestorben ist. Als Kuppelbruder zog der Hochzeitsbitter seinerzeit über die Dörfer und brachte die Frau an den Mann oder umgekehrt. Ob das Geschäft klappte oder nicht – ein Grund zum Schnäpschen war es allemal. Dieser Urahn jedenfalls infizierte den Stammbaum der Ludwigs so nachhaltig mit dem bacchantischen Virus, daß es selbst noch mich – den Urururenkel – danach drängte, einen durst-intensiven Beruf zu ergreifen. Ich wurde Schauspieler!

Nun hocke ich 1994 wieder im »Dreppchen«, in der Dobritzer Straße, draußen in Dresden-Leuben. Das hat nischt mit einer Treppe zu tun. Es ist Babbelsächsisch. Die Kneipe hieß und heißt »Das Tröpfchen«. Die Erinnerungen überfallen mich jäh. Ist das alles wirklich schon sechzig Jahre her …?

Da gibt es einen in dem Billardquartett, der sagt, er sei ein Zauberkünstler. Er könne die Kugel spurlos verschwinden lassen! Darauf stopft er sich das rote Ding in den Mund, verrenkt sich den Kiefer – und bekommt die Kugel nicht mehr raus. Er würgt, keucht, läuft schon blau an und bringt das verdammte Ding nicht raus. Das Mitgefühl seiner Sportsfreunde erschöpft sich in der Aufforderung: »Mach geen Geiggel, gib de Guchel naus!« Das ist meine erste Begegnung mit dem menschlichen Spieltrieb, der offenbar stärker ist als der Rettungstrieb.

Vom »Dreppchen« sind es rund anderthalb Kilometer bis zur Siedlung, bis zu unserer Wohnung in der Lilienthalstraße 17. Rundherum heißen alle Straßen nach irgendwelchen Erfindern: Aber weder Reis, Stevenson noch Guericke sollen einmal einen solchen Einfluß auf mein Leben gewinnen wie dieser Lilienthal, der tollkühne Otto mit seinem Gleitflugzeug. Zunächst aber sitze ich noch mit der Bierkanne auf meinem Fahrrad, das wie Karl Mays feuriger Mustang »Gavina« heißt. Neben mir reitet verwegen mein Schulfreund im Fahrradsattel von »Ri«, dem Gaul aus einem der unzähligen Orientfilme, die wir Sonntag für Sonntag zum Preis von zwanzig Pfennigen gierig in uns aufsaugen. Tom Mix. Dick und Doof. Charlie Chaplin. Und später Rühmann, Lingen, Moser, na klar, – und Louis Trenker. Den rufenden Berg – ich hab nie verstanden, wieso ein Berg rufen kann – sehe ich zigmal. Wie sich der Trenker in den Fels krallt, mit den knochigen Fingern …

Wir radeln mit der Bierkanne am Lenker an unserem Gartenparadies vorbei, einer mickrigen Klitsche mit Holzlaube. Hier erntet meine Mutter auf eigener Scholle Kartoffeln, Erdbeeren und Wachsbohnen. Ich hasse dieses Schreberland aus voller Seele mitsamt seinem Unkraut, das zu jäten ist, und seinen Beeten, die ständig zu gießen sind. Versöhnlich mit dem Laubenpieperdasein stimmen mich nur unsere sommerlichen Familienfeste mit Napfkuchen, echtem Bohnenkaffee, reichlich Bier und Brause. Zu Geburtstagen versammeln sich bis zu dreißig und fünfzig Leute. Vater hat allein schon sieben Geschwister. Sie saufen, rauchen und politisieren, sie sind Linke und Rote, manche auch bloß Rosarote. In Erinnerung ist mir nachhaltig bis heute nur Onkel Gust, ein parteiloser Kommunist wie mein Vater, der immer was zum Besten gibt und auch ganz passabel dichtet – für den Hausgebrauch. Sehr beeindruckt hat mich das strophenreiche Epos »Dreizehn Kinder und kein Weihnachtsbaum!« Das sagt schon ein bißchen was über die sozialen Verhältnisse im Ludwigschen Clan. Wenn mein Vater einen in der Krone hat, dann parodiert er Hans Moser fast perfekt. Die Männer dreschen Skat, die Damen spielen manchmal Karten. Meine Mutter siegt häufig, denn sie trainiert wöchentlich als ordentliches Mitglied in einem Doppelkopf-Verein. Sonst meiden meine Eltern Vereine und Parteien, eine Weisheit, die ich mir auch aneigne. Was nicht heißt, daß man politisch ohne Standpunkt bleiben sollte. Und schon gar nicht, daß ich mich raushalte!

… Da kommt schon der Redakteur von diesem Fernsehsender ins »Dreppchen«. Er pocht auf die Uhr. »Wir müssen, Herr Ludwig.« Weiter, weiter. Sie drehen das umfassende Porträt eines Volksschauspielers. Zunächst Kindheit und Jugend. Um die Ecke ist noch das rote Backsteingebäude mit Kasernencharme, eine achtklassige Volksschule für Knaben war das mal, die 66. Dresdens. Damals erschien der Schulweg mir endlos, heute ist es nur ein Katzensprung von der Siedlung in Dresden-Leuben. Mein Klassenzimmer. Ich betrat es damals mit einem Jahr Verspätung, denn ich sprach kein Wort Deutsch, nicht mal Sächsisch … Wie beginne ich meine Erinnerungen? Vielleicht mit den Worten: Und alles begann so …

ICH BIN EIN DREIMONATSKIND

Spielzeug besitze ich kaum. Statt eines Kuscheltiers aus Plüsch knuddele ich eine schmutzigrosafarbene Wolldecke, die ich »fine filten« nenne. Das ist schwedisch. Bis zu meinem vierten Lebensjahr verstehe ich nur diese Sprache, denn das vielgerühmte Licht der Welt erblickte ich als Sonntagskind am 28. Juli 1925 in Stockholm. Legitim werde ich sozusagen auf den letzten Drücker, denn die Eheurkunde meiner Eltern ist auf Ende April datiert. Da hat es das »Fröken Emmi ­Martens«, meine Mutter, endlich geschafft, den Richard Hermann Heinrich Ludewig aufs entsprechende Amt zu bugsieren und ihm das Ja-Wort abzutrotzen. So komme ich denn auch als ein Ludewig auf die Welt, Ludewig mit »e«, denn Vater ist der Meinung, daß ein Vorname kein Nachname sein könne, und in Schweden nimmt man das alles wohl nicht so genau. Ich habe später enorme Mühe, dieses hinzugeschummelte »e« wieder loszuwerden.

Vater betreibt damals unten im anrüchigen Hafenviertel eine kleine Pension mit Restaurantbetrieb. Er ist zwar Inhaber des Etablissements, aber er zapft am Bierhahn sozusagen in höherem Klassenauftrag und für eine gute Sache, die man später mal »die gerechteste der Welt« nennen sollte … Bezahlt wird die Kneipenmiete von der Dresdener Kommunistischen Partei Deutschlands, die den nichteingeschriebenen Genossen Ludewig in geheimer Mission nach Skandinavien entsandt hat. Die Anwohner des Quartiers – Nutten, Zuhälter, Dockarbeiter, kleine Kaufleute, Fischhändler – ahnen nicht, daß der untersetzte, kurzbeinige Deutsche nur als Gastwirt getarnt ist. Er hat einen schwedischen Koch angeheuert, versteht es, gesellig mit den Kneipenbesuchern umzugehen und ist im übrigen sein bester Gast. Was Vater in seinen ersten Schwedenjahren in Stockholm erledigte, hab ich nie erfahren. Es ging wohl um Geld, das über die Inflationsjahre gerettet werden sollte. Irgendwelche Kontakte knüpft er jedenfalls, schließt auch bedeutende ­Bekanntschaften. Fast dreißig Jahre später, ich bin schon am Berliner Metropol-Theater engagiert, tauche ich mal überraschend bei den Eltern in Leuben auf, da macht Mutter ein enorm wichtiges Gesicht. »Besuch!« Sie schiebt mich ins Wohnzimmer. Der Raum ist völlig verqualmt. Als sich meine Augen an den Rauch gewöhnt haben, erblicke ich wie im Nebel auf unserem Sofa – Herbert Wehner. »’n oller Bekannter!« brubbelt mein Vater.

Der zwei Jahre alte Rolf Erik in einem Stockholmer Park

Je näher das Jahr 1930 jedoch rückt, desto mehr verändert sich das Äußere der Logiergäste unserer Familienpension. Die Herren und Ehepaare werden eleganter, tragen feine Tuchanzüge, pelzbesetzte Mäntel, Schmuck und bildreiche Familiennamen wie Rosenzweig, Goldstein oder Mandelstam. In Vaters hafennahen Fremdenzimmern warten sie auf ihre Schiffspassage nach Übersee – manchmal auch auf schwedische Reisepässe. Ich liebe die Amerika-Reisenden sehr. Sie haben dicke Brieftaschen, zahlen reichlich Trinkgelder und schenken mir Bonbons.

Abends, wenn sie mit Vater ordentlich einen gekümmelt haben, sagen sie: »Richard, hol mal deinen Kleinen. Wir wollen das Sechs-Tage-Rennen sehen.«...

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