„50 Prozent der Wirtschaft sind Psychologie“ [72]
In den vorangegangenen Kapiteln haben wir uns mit den Einflüssen der Umwelt auf die Anlageberatung bei Banken beschäftigt. In diesem Kapitel wird der Einfluss des Menschens selbst auf das Beratungsgespräch analysiert. Mit Hilfe der Verhaltenstheorie, der sog. Behavioral Finance, kann das Verhalten von Marktteilnehmern erklärt werden.
3.1.1 Begriffsbestimmung
Behavioral Finance beschreibt eine verhaltenswissenschaftliche Finanztheorie, die für die Kapitalanlage immer mehr an Bedeutung gewinnt. Die Grundlagen der Behavioral Finance Theory bilden die Arbeiten von DANIEL KAHNE- MAN und Amos Tversky, die mit ihrer „Neuen Erwartungstheorie“ (Prospect Theory) aus psychologischer Sicht eine Widerlegung der bisherigen Annahme formulierten, dass der Mensch rein rational als homo oeconomicus entscheidet. [73]
Einerseits befasst sich die Behavioral Finance mit dem Treffen von Entscheidungen, andererseits mit den Anomalien im menschlichen Verhalten. Diese Abweichungen vom rationalen Handeln sind jedoch nicht auf Einzelfälle wie Masseneuphorien oder Paniken beschränkt, sondern Bestandteil des täglichen Lebens und Handelns. [74]
In der Mitte des 18. Jahrhunderts, dem Zeitalter der klassischen Nationalökonomie, begannen Wirtschaftswissenschaftler, die menschlichen Einflüsse auf die Entscheidungsforschung zu analysieren. Diese Anfänge bildeten die Grundlage für die Entstehung der verhaltensorientierten Kapitalmarkforschung. Man versuchte, den ökonomischen Nutzen des Konsums mit psychologischen Ansätzen zu verbinden.[75]
Abb. 10: Entwicklung der verhaltenswissenschaftlichen Finanzmarktforschung[76]
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde die klassische Nationalökonomie von der neoklassischen Ökonomie abgelöst. In der Folge wurde das Bestreben, das Marktverhalten durch die Psychologie zu erklären, weitgehend zurückgedrängt. Zentrale Annahme der neoklassischen Ökonomie war das Modell des homo oeconomicus, das den Marktteilnehmer als ein rationales, nutzenorientiertes und vollständig informiertes Individuum darstellt.
In der Folgezeit entwickelte sich die Verhaltensökonomie als ein Teilgebiet der Wirtschaftswissenschaften. Diese Richtung, auch als Behavioral Economics bezeichnet, führte maßgeblich dazu, dass naturwissenschaftliche und psychologische Aspekte der Wirtschaftswissenschaften zunehmend an Bedeutung gewannen. Die Verhaltensökonomie untersucht Verhaltensweisen der Marktteilnehmer, die mit dem Konzept des homo oeconomicus nicht übereinstimmen. [77]Durch die weitere Erforschung emotional und kognitiv bestimmter Verhaltensweisen entstand in den 80er Jahren in den USA die verhaltenswissenschaftliche Finanzmarktforschung, die auch als Behavioral Finance bezeichnet wird. Mittlerweile erfreut sich die Theorie auch in Europa einer steigenden Beliebtheit. Durch die Verbindung von Theorie und Praxis können neue Erkenntnisse zu den Kapitalmärkten gewonnen werden. [78]
Seit ADAM SMITH geht man in den ökonomischen Theorien davon aus, dass der Mensch, versinnbildlicht als homo oeconomicus, einen den eigenen Nutzen mehrender, rationaler Entscheider ist. In der Realität wird aber immer wieder beobachtet, dass der Mensch zwar nicht unvernünftig, wohl aber eingeschränkt rational agiert. [79]Begründet wird dies damit, dass das dem homo oeconomicus zugeschriebene Maximierungskalkül, bei dem gegebene wirtschaftliche Präferenzen auf gegebene wirtschaftliche Einschränkungen treffen, in einer komplexen und durch mangelnde Transparenz und Unsicherheit bestimmten Welt die Kapazität eines menschlichen Gehirns bei weitem übersteigt. [80]
Wissenschaftliche Arbeiten haben gezeigt, dass der Mensch nicht über die unterstellten Denk- und Rechenkapazitäten verfügt und daher nicht in der Lage ist, komplexe Entscheidungsprobleme optimal zu lösen. Vielmehr nutzt
der Anleger einfache Daumenregeln oder Vereinfachungshilfen, um Entscheidungen zu treffen.[81]Dadurch wird zumeist die Effizienz von Denkprozessen erhöht. [82]Bei den zu treffenden Entscheidungen wird dann immer nur ein kleiner Ausschnitt der Wirklichkeit betrachtet. Dieser Sachverhalt wird auch als Bounded Rationality, also als begrenzte Rationalität, in der Literatur beschrieben und gilt als zentraler Ausgangspunkt der Behavioral Finance Forschung. [83]
Abb. 11: Sichtweisen der Finanzmarktforschung[84]
Den Sachverhalt der Bounded Rationality hat Herbert Simon in seinem wegweisenden Werk „Models of Man“ im Jahr 1977 beschrieben. Simon vertritt die Ansicht, dass bei den meisten Entscheidungen die Menschen einer Satis- ficing-Strategie folgen. Das bedeutet, dass der Mensch nicht nach den besten Alternativen sucht, sondern einfach nach einer, die gewisse Mindestan forderungen erfüllt. Diese Strategie macht eine wesentlich geringere kognitive Belastung und einen geringen Aufwand bei der Informationssuche notwendig. [85]Hierbei kann eine Entscheidung objektiv rational genannt werden, wenn sie tatsächlich das richtigen Verhalten zur Maximierung gegebener Werte in einer gegebenen Situation ist. Sie ist subjektiv rational, wenn sie die Erreichung in Bezug auf das aktuellen Wissen der handelnden Person maximiert. Nach der begrenzten Rationalität treffen Marktteilnehmer Entscheidungen, die schlechter sind, als es unter theoretischer Bedingung möglich wäre. Sie sind jedoch nach der Maxime des begrenzt rationalen Verhaltens genügend gut, um die Suche nach Alternativen zu beenden, wenn man eine zufrieden stellende Lösung gefunden hat. Mit diesem Konzept sind subjektiv rationale Entscheidungen möglich und ein vollständig rationales Verhalten wird äußerst unwahrscheinlich. [86]
Je nach dem aus welchem Blickwinkel man Verhaltenweisen betrachtet, können Sie als rational oder auch irrational wahrgenommen werden. Eine einheitliche Definition von Rationalität fällt daher schwer. ).[87]
Die Forschungsergebnisse der Behavioral Finance basieren vornehmlich auf den Erkenntnissen der Verhaltensforschung. Diese werden verwendet, um Aussagen über die Kapitalmärkte zu treffen und das Marktgeschehen zu erklären. Grundsätzlich können Forschungsprojekte auf den zwei folgenden Aspekten aufbauen.
1. Es wird von Marktphänomenen ausgegangen und versucht, diese mit individuellen Verhalten zu erklären. Bei diesem Vorgehen werden Marktphänomene in den Vordergrund gestellt, die durch die modernen Kapitalmarkttheorien noch nicht zu erklären sind. Zu Beginn der Behavioral Finance Forschung wurden hierzu Befragungsinstrumente genutzt, um bestimmte Muster ökonomischen Verhaltens erkennen zu können. Im weiteren Verlauf wurden Experimente genutzt, um tatsächliche Verhaltensweisen von Menschen zu erforschen. In den Experimenten werden bestimmte Spiele von den Teilnehmern nachgespielt, wobei es häufig um reales Geld geht.
2. Es werden Erkenntnisse der psychologischen Forschung herangezogen und deren Auswirkungen auf das reale Marktgeschehen untersucht. Diese Vorgehensweise ist der Denkweise der modernen Finanzierungstheorie ähnlich. Es werden Annahmen über das Entscheidungsverhalten von Individuen getroffen und daraus Modelle für relevante Marktgrößen abgeleitet. [88]
Die folgenden Ausführungen folgen dem zweiten Forschungsansatz, bei dem die Erkenntnisse der psychologischen Forschung auf konkrete Verhaltensphänomene in Kundengesprächen und daher an Kapitalmärkten bezogen und erklärt werden. Unterstützt werden diese durch Beispiele aus der Spieltheorie, die dem zuerst genannten Forschungsansatz entsprechen. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die Darstellung der Anomalien im Verhalten nur einen kleinen Ausschnitt aus der Behavioral Finance Theory darstellen, die für die vorliegende Arbeit als besonders bedeutungsvoll erscheinen.
Die grundlegenden Ausführungen zur Behavioral Finance Forschung zeigen, dass der Kunde im Beratungsgespräch nicht als Nutzenmaximierer agiert, sondern als begrenzt rationaler Entscheider auftritt, der sich an anderen sozialen Wesen und deren Meinung und Verhalten orientiert. Gleichwohl wird beim Versuch einer Definition von Rationalität klar, dass es keine eindeutige Beschreibung hierzu gibt. Zum einen scheint es irrational, wenn der Anleger im Beratungsgespräch nicht die objektiv gesehen beste Anlage auswählt. Auf der anderen Seite wählt der Kunde subjektiv gesehen wohlmöglich eine An-läge aus, die mit den ihm verfügbaren Informationen als optimal angesehen werden kann. Dieser Forschungszweig ist in Deutschland noch in einem frühen Stadium, sodass in Zukunft die...