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Von Revolution zu Befreiung

Studentenbewegung, Antiimperialismus und Terrorismus in Japan (1968-1975)

AutorTill Knaudt
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl365 Seiten
ISBN9783593433912
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis62,99 EUR
Globalgeschichte Herausgegeben von Sebastian Conrad, Andreas Eckert und Margrit Pernau Anlässlich des 40. Jahrestags von »1968« kam es 2008 in Deutschland zu einem Boom der öffentlichen Verarbeitung der Studentenbewegung. In Japan hingegen blieb die Erinnerung an die damaligen Ereignisse peripher. Dieses Buch erzählt erstmals überhaupt die Geschichte der politischen Theorie und Praxis der japanischen studentischen Neuen Linken in den unmittelbaren Jahren nach dem Ende der Studentenbewegung. Es gewährt Einblicke in einen globalen ideengeschichtlichen Bruch mit dem revolutionären Subjekt der kommunistischen und marxistischen Moderne hin zu der Beschäftigung mit sozialen und ethnischen Minderheiten, deren vermeintliche Befreiung in Japan zu terroristischer Praxis führte.

Till Knaudt, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Japanologie der Universität Heidelberg.

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Leseprobe
1.Einleitung
Im Sommer 2012 wurde ein Video aufgenommen und auf der Internetplattform YouTube online gestellt. Irgendwo im Zentrum von T?ky? unterhält sich ein Mann, der das Gespräch mit seiner Videokamera aufnimmt, mit einem weitaus älteren Mann, der einen Demonstrationsstand für die Abschaffung von Kernenergie in Japan bewacht. Mitten im Gespräch stolpert, aus Zufall, eine Gruppe von Übersetzern mit Bärbel Höhn, der Bundestagsabgeordneten der Partei 'Die Grünen', ins Bild. Ein Übersetzer stellt Höhn einen der älteren Aktivisten mit den Worten vor 'This ojiisan [Opa] is very famous! Japanese Red Army!', worauf hin die sichtlich überraschte Frau Höhn mit 'Aha ... O.K.?!' antwortet. Die darauf folgende Frage von Höhn '... and you are a friend of Baader-Meinhof?' wird beantwortet mit 'Naja, wir hatten schon einigen Austausch mit denen ...'.
Im weiteren Verlauf des Gesprächs stellt der 'Opa', der ehemalige Anführer der 'Ky?sanshugisha d?mei - Sekigunha' (Bund der Kommunisten - Rote Armee Faktion) Shiomi Takaya (geboren 1941), fest, er habe gehört, dass einige von den deutschen Genossen, mit denen er zu tun gehabt habe, bei den Grünen eingetreten seien. Sich so zu integrieren sei den Aktivisten in Japan nicht gelungen. Richtig, bestätigt Frau Höhn, auch Daniel Cohn-Bendit sei bei den Grünen. Auf weitere Theoriediskussionen mit Shiomi über die 'Black Panther Party' lässt sich die Bundestagsabgeordnete jedoch nicht ein. Nach dem Austausch von weiteren Höflichkeiten und einem Erinnerungsfoto stellt Shiomi zum Schluss fest: 'Das ist wirklich gut, dass die vorbeigekommen sind'.
Die Szene zwischen Bärbel Höhn und Shiomi Takaya spiegelt sehr anschaulich den Erinnerungshorizont zu '1968' in Deutschland und Japan wider. Während in Deutschland 2008 anlässlich der vierzigsten Jährung von '1968' ein Boom der öffentlichen und der akademischen Verarbeitung der Studentenbewegung stattfand, und gleichzeitig die Aufarbeitung des 'linken Terrorismus', der 'Roten Armee Fraktion' und anderer Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er und 1970er Jahren in einem zunehmend transnationalen Kontext unternommen wurde, blieb die Erinnerung an die japanische Studentenbewegung in Europa peripher. So ist es für die Bundestagsabgeordnete möglich, entspannt ein Erinnerungsfoto vom 'Opa von der Roten Armee Faktion' in Japan aufzunehmen, der immerhin der Vorsitzende einer extrem militanten Gruppe gewesen war, die sich - wie die RAF - dem 'bewaffneten Kampf' verpflichtet gefühlt hatte. Auf der anderen Seite zeigt die Szene auch einen Ausschnitt aus dem Erinnerungshorizont ehemaliger japanischer Aktivisten. Der Feststellung von Shiomi, dass die Aktivisten von 1968 sich nicht in einer linken Partei, wie den Grünen in der Bundesrepublik, hätten etablieren können und deshalb gesellschaftlich isoliert geblieben seien, ist ein Topos in der japanischen Linken, der den gesellschaftspolitischen 'Erfolg' von '1968' in Europa und den Vereinigten Staaten mit der 'Niederlage' in Japan kontrastiert.
Dabei war die japanische Studentenbewegung in Bezug auf ihre unmittelbar gesellschaftliche Wirkung mit der im Westen vergleichbar, oder, besser gesagt, sie war ein Teil der globalen Studentenbewegung. Von ihren Mobilisierungsmöglichkeiten war sie der in der Bundesrepublik überlegen, in ihrer Länge ausdauernder. Zwischen 1965 und 1970 demonstrierten Studenten an knapp der Hälfte aller japanischen Universitäten zusammen mit über 50.000 Aktivisten (1969) der Parteifaktionen (t?ha) der japanischen Neuen Linken gegen die Diktatur in Südkorea, gegen den Vietnamkrieg, für den Abzug US-amerikanischer Soldaten aus Japan und Okinawa, oder für die Demokratisierung der Universitäten, um nur einige der Themenfelder zu nennen. Aus dieser massiven Bewegung entstanden 1969 Gruppen, die sich der Praxis des 'bewaffneten Kampfs' zuwandten, ganz ähnlich wie in Europa und den Vereinigten Staaten.
Dementsprechend stellt Oguma Eiji zu Beginn seiner umfangreichen mentalitätsgeschichtlichen Arbeit '1968' die Frage, 'warum diese Revolte stattfand' und stellt fest, dass es 'keine zusammenfassende Untersuchung darüber [gibt], was für eine Bedeutung sie für die japanische Gesellschaft und die Welt hatte, sowie was davon übrig geblieben ist' (Oguma Eiji 2009b: 12). So ist nach Oguma eine historische Einordnung der studentischen Revolte Japans in die globale Studentenbewegung genauso nötig wie, umgedreht, eine Einordnung der globalen Revolte in die japanische Studentenbewegung. Die Studentenbewegung in Japan ist aus einer Perspektive zu untersuchen, die eine Vergleichbarkeit und Verknüpfung zwischen ihr und den Bewegungen im Westen voraussetzt und nicht a priori davon ausgeht, dass die japanische Studentenbewegung aufgrund der 'Andersartigkeit' einer vermeintlich spezifisch japanischen Mentalität bereits 'anders' verfasst sei.
Dies ist im Falle der Entstehung von antiimperialistischer und antijapanischer Theorie in der Studentenbewegung noch offensichtlicher. Zwischen 1968 und 1970 entstanden weltweit Gruppen, die sich entweder aus ehemaligen Studenten oder Aktivisten zusammensetzten, die mit der Studentenbewegung politisch sympathisierten. In der Bundesrepublik Deutschland waren dies die 'Tupamaros Westberlin', die 'Rote Armee Fraktion', die 'Bewegung 2. Juni' und andere, in Frankreich die kurzlebige 'Gauche Proletarienne' (Proletarische Linke), in Italien die 'Brigate Rosse' (Roten Brigaden), in den Vereinigten Staaten die 'Students for a Democratic Society - Weathermen', und - nicht zuletzt - in Japan seit September 1969 die 'Ky?sanshugisha d?mei - Sekigunha (Bund der Kommunisten - Rote Armee Faktion) und 1971 die 'Higashi Ajia hannichi bus? sensen' (Ostasiatische Antijapanische Bewaffnete Front).
Der Schwerpunkt dieser Arbeit soll auf diesen beiden Gruppen liegen, das heißt erstens auf der Ky?sanshugisha d?mei - Sekigunha zwischen 1968 und 1970 und zweitens die Higashi Ajia hannichi bus? sensen , die zwischen 1971 und 1975 operierte. Beide Gruppen stehen als Fallbeispiele für eine globale ideengeschichtliche Diskontinuität, in der sich zwischen 1968 und der ersten Hälfte der 1970er Jahre die modern-kommunistischen Revolutionstheorien in postkolonial-antiimperialistische Theorien und Praktiken der Befreiung von Minderheiten veränderten.
1.1Vom Zentrum in die Peripherie: Gang der Untersuchung
Im Jahr 1967 begann die Studentenbewegung in Japan ihren Höhepunkt zu erreichen. Als Premierminister Sat? Eisaku (1901-1975) sich Anfang Oktober auf den Weg auf eine Reise durch Südostasien machen wollte, die auch Südvietnam mit einschloss, versuchten Studenten den internationalen Flughafen von T?ky?-Haneda zu besetzen und lieferten sich massive Straßenschlachten mit der Bereitschaftspolizei, bei denen ein Student ums Leben kam. Kurz bevor die noch vereinzelten Besetzungen an Universitäten in T?ky? auf das ganze Land übergriffen, lebte der spätere Anführer der Sekigun Shiomi Takaya in einer Wohngemeinschaft in der Kansai-Region, und war für die Kontakte zwischen den Studenten und seiner Studentenfaktion 'Ky?sanshugisha d?mei' (Bund der Kommunisten, kurz: Bunto) verantwortlich. Eines Morgens - so erinnert sich Shiomi in einem autobiographischen Interview - sei er aufgewacht und habe unter seinem Kopfkissen ein Pamphlet seines Mitbewohners gefunden. Das Pamphlet mit dem Titel 'Ein Aufruf von Guevara' hinterließ bei Shiomi einen derart bleibenden Eindruck, dass die Sekigun zwei Jahre später plante, ein Flugzeug nach Kuba zu entführen, um dort einen 'internationalen Guerilla-Stützpunkt' aufzubauen (Shiomi Takaya 2003: 61).
18 Jahre später fand ein Interview zwischen dem Roman- und Sachbuchautor Matsushita Ry?ichi (1937-2004) und dem zum Tode verurteilten ehemaligen Anführer der Antijapanischen Front Daid?ji Masashi (geboren 1948) statt. Auf die Frage, was für Daid?ji der 'Anlass für die Aufnahme des Kampfs' gewesen sei, in dessen Verlauf die Antijapanische Front zwischen Hochsommer 1974 und Frühjahr 1975 mehrere Bombenanschläge auf Bürogebäude und Fabriken von Unternehmen durchführten, die sie mit dem 'japanischen Imperialismus' (nittei) in Verbindung brachten, antwortete er, eine Cheyenne namens Irene Iron Cloud sei seine Inspiration gewesen (Matsushita Ry?ichi 1993: 75). Die nordamerikanischen Indianer verglich Daid?ji mit den Ainu, der indigenen Bevölkerung auf Hokkaid? und den Kurilen. Die Geschichte der Ainu und Indianer, sowie die Lektüre des postkolonialen Theoretikers Frantz Fanon (1925-1961), hätten ihn stark beeinflusst (Matsushita Ry?ichi 1993: 79).
Die Tragweite dieser Erinnerungen für eine historische Analyse der terroristischen Praxis, die in der Spätphase der japanischen Studentenbewegung von Gruppen wie der Sekigun und der Antijapanischen Front entwickelt wurden, ist schwer zu unterschätzen. Sie zeigen, dass die beiden Anführer, zumindest in der Retrospektive, ihre Gruppen als Teil einer globalen Bewegung begriffen. Wie sich zeigen wird, traf dies auch auf die Gruppen selbst zu. Die Sekigun (siehe Kapitel 3) fühlte sich mit den postkolonialen Befreiungsbewegungen stark verbunden, wie mit Kuba, wo 1959 eine Revolution gegen die Militärjunta von Fulgencio Batista erfolgreich zu Ende gegangen war. Vor allem Ernesto 'Che' Guevara wurde zu dem Gesicht des Exportversuchs der Praxis der kubanischen Revolution, die als eine 'antiimperialistische' Alternative zur Sowjetunion unter Nikita Sergejewitsch Chruschtschow gedeutet werden konnte. Diese globale Ausrichtung auf Kuba äußerte sich bei der Sekigun nicht nur in internen Theoriedebatten, die sich um ein Für und Wider von antiimperialistischer Theorie hätten drehen können. Ganz praktisch orientierte sich die Sekigun in ihren Operationen an dem Versuch, nach kubanischem Vorbild einen 'revolutionären Fokus' zu bilden, einen Auslöser für einen erhofften Aufstand zu schaffen, und folglich eine antiimperialistische Revolution des japanischen Proletariats gegen den 'US-Imperialismus' und den japanischen Staat, als Verbündeten der Vereinigten Staaten, durchzuführen.
Der Urmoment der Antijapanischen Front - ebenso global - war die Projektion des Völkermords an den amerikanischen Indianern im Zuge der Westexpansion US-amerikanischer Siedler auf dem nordamerikanischen Kontinent (siehe Kapitel 5). Im Unterschied zur Sekigun wollte die Antijapanische Front unter Daid?ji Masashi nicht mehr nur mit, sondern für die durch den Kolonialismus unterdrückten Minderheiten kämpfen.
Die Antijapanische Front projizierte so ihr Verständnis der Kolonialgeschichte der Indianer Nordamerikas auf die auf Hokkaid? indigenen Ainu, und begann einen Kampf der terroristischen Praxis als Krieg gegen den 'japanischen Imperialismus' und seine Konzerne. Die Konzerne waren für die Antijapanische Front die Stellvertreter des japanischen Kolonialismus (bis 1945) und japanischen 'Neo-Kolonialismus' (ab 1945) und profitierten nach wie vor von der kolonialen Ausbeutung des 'Prekariats' der
(Neo-)Kolonien. Diese Projektion hatte unmittelbare Auswirkung auf die Praxis der Gruppe und resultierte in einem geplanten Anschlag gegen den japanischen Kaiser (Sh?wa Tenn?) und mehreren großangelegten Bombenanschlägen.
Beide Gruppen, Sekigun und Antijapanische Front, waren in eine globale Studentenbewegung eingebunden, entwickelten ideengeschichtlich und organisationshistorisch auf Weltmaßstab vergleichbar zunächst einen militanten, dann terroristischen Modus der politischen Ideen und ihrer praktischen Umsetzungen und nahmen im selben Maßstab eine weitreichende Umdeutung des 'revolutionären Subjekts' vor - so die Arbeitsthese.
Dieser Prozess der Umdeutung des revolutionären Subjekts, oder besser, des ideengeschichtlichen Wandels von Konzepten der sozialen Revolution zu Konzepten der Befreiung von Minderheiten, muss im Kontext der historischen Entwicklung der japanischen Linken seit Ende des Zweiten Weltkriegs verstanden werden (siehe Kapitel 2). Im Unterschied zu den europäischen und US-amerikanischen Studenten hatte sich die Bewegung in Japan sehr früh von der Kommunistischen Partei abgespalten, nämlich Mitte der 1950er Jahre. Die Bewegung hatte im Widerstand gegen den amerikanisch-japanischen Sicherheitsvertrag (Anpo) im Juli 1960 ein enormes Mobilisierungspotential bewiesen, sich mehrfach gespalten und zersplittert, um dann ab 1965 mit radikaleren Demonstrationsmethoden auf das japanische '1968' zuzusteuern. Auch unter linken beziehungsweise kommunistischen Intellektuellen hatte eine Diskussion nach dem Subjekt der Revolution schon in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre begonnen. Die Frage nach der Fähigkeit der Intelligenzija, das Proletariat von der Notwendigkeit der Revolution zu überzeugen, löste Debatten um die eigene Subjektivität aus. Diese neomarxistischen Debatten beeinflussten die Studenten der 1960er Jahre wesentlich. Auch Konzepte des Dritte-Welt-Antiimperialismus wurden von den Studenten bereits zur Zeit des Algerienkriegs Mitte der 1950er Jahre rezipiert und zum ersten Mal als Möglichkeit des Entstehens einer Revolution außerhalb der Zentren der kapitalistischen Moderne gedacht.
Diese Debatten in den 1940er und 1950er Jahren wurden zum Ende der Campusproteste der japanischen Studentenbewegung 1968/69 wieder aktuell. Die Revolution war ausgeblieben, das japanische Proletariat der wirtschaftlichen Hochwachstumsphase der 1960er Jahre schien kein Interesse an der Veränderung der Gesellschaft zu haben. So versuchte die Sekigun die Theorie und Praxis ihrer militanten Aktionen zunächst an dem Konzept einer Revolution von Jungarbeitern auszurichten, um später einen revolutionären Rückzugsraum auf Kuba zu suchen (Kapitel 3).
Diese Verschiebung der Bewegung in Rückzugsräume prägte die studentische Neue Linke nach dem Ende von '1968' entscheidend (Kapitel 4). Entweder man beschäftigte sich mit der Befreiung von ethnischen und sozialen Minderheiten in den urbanen Räumen (Burakumin, Chinesen, Koreaner) oder richtete die Aufmerksamkeit auf postkoloniale Peripherien der japanischen Nation. Das waren vor allem Hokkaid? und Okinawa. Auf der Nordinsel Hokkaid? entdeckte die Neue Linke Anfang der 1970er Jahre zusammen mit Aktivisten der gerade im Entstehen begriffenen Ainu-Nationalbewegung das präkoloniale Ezo - so der vormoderne Name für Hokkaid? - als vermeintlich urkommunistischen Rückzugsraum wieder (Kapitel 5). In diesem gedachten Raum hofften die Unterstützer des Antijapanismus nun einen Stützpunkt und Ausgangspunkt der Befreiung Ostasiens von der Herrschaft des Bündnisses zwischen imperialistischem Kapital und 'imperialistischen Arbeitern' gefunden zu haben.
1.2Vorbeiten und Konzepte von '1968' in Japan
Zusammengefasst sind Forschungsarbeiten zur studentischen Neuen Linken, ihrer Theorie und ihrer Entwicklung von militanter und terroristischer Praxis zwischen 1968 und 1975 von drei Ansätzen geprägt: Der vergleichenden globalhistorischen Untersuchung (Frei 2008), der Terrorismusforschung (Hauser und Derichs in Kraushaar 2006), der soziologischen Analyse von Bewegungs- und Gruppenstrukturen, sowie der Ideengeschichte (Steinhoff 2003; Derichs 1995; Oguma Eiji 2009a und 2009b) Diese Arbeit soll in kritischer Auseinandersetzung mit diesen drei Ansätzen folgende Problemfelder untersuchen.
1. Wie lässt sich die Zuwendung der studentischen Neue Linke zu militanter und terroristischer Praxis unter Berücksichtigung transnationaler Zusammenhänge in den späten 1960er und frühen 1970er Jahre erklären? Wie 'rätselhaft' (Frei 2008) war die Gewalt in Form terroristischer Theorie und Praxis in Japan? Dabei ist das Arbeitsziel dieser Fragestellung die kritische Dekonstruktion eines Bildes der Andersartigkeit der japanischen Aktivisten, das vor allem der Unkenntnis der transnationalen Verknüpfung ihrer Theorie und Praxis geschuldet ist.
2. Welche Rolle spielten Ideen- und Theorieproduktion in der Entwicklung zum 'bewaffneten Kampf'? Diente die Theorieproduktion nur als Quelle einer obligatorischen 'Begleittheorie', die ex post facto den Führungsanspruch bestimmter studentischer Aktivisten oder Gruppen legitimierte oder nachträglich terroristische Praxis begründete? Musste Theorieproduktion hinter der politischen Praxis zurückstehen? Hier soll als Arbeitsthese gelten, dass globale ideengeschichtliche Entwicklungen durchaus Einfluss auf die Taktik des 'bewaffneten Kampfs' hatten. So soll hinterfragt werden, ob die 'Gewaltspirale' in 'noch mehr Gewalt', also terroristische Praxis führen musste, oder ob nicht eine spezifische globalhistorische und ideengeschichtliche Entwicklung - losgelöst von der Gewaltfrage - zur Bildung von Sekigun und Antijapanischer Front geführt hat.
3. Was für Brüche und Krisen lassen sich in der Entwicklung von antiimperialistischer Theorie und Praxis ausmachen? Was für ein Wandel der Erinnerung an das japanische Kolonialreich und die Kriege in China, Südostasien und dem Pazifik zwischen 1937 und 1945 lassen sich in der Theorie von Studentenbewegung, Sekigun und Antijapanischer Front finden? Die Arbeitsthese soll sein, dass der paradigmatische Bruch, den Suga und Oguma für die frühen 1970er Jahren ausmachen, die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit bestimmte, die wiederum in der Umdeutung revolutionärer Theorie resultierte, die Teil einer Krise und eines weltweiten ideengeschichtlichen Bruchs mit der marxistischen und kommunistischen Moderne war. Dieser Bruch war aber nicht nur ein Wandel der politischen Theorie der Neuen Linken an sich, sondern ein Teil eines weitreichenden weltanschaulichen Bruchs durch Intellektuelle mit Konzepten von Moderne. Ein Bruch, den wir heute als Postmodernismus verstehen.
Diese Fragestellung beruht auf der Voraussetzung, dass es einen Unterschied in der Qualität von Theorie und Praxis in Bezug auf ihren terroristischen Modus zwischen der Sekigun und der Antijapanischen Front gab: Die Sekigun war keine terroristische Organisation, die Antijapanische Front war es.
1.2.1Soziale Bewegungen und ihre Ideengeschichte
Die japanische studentische Neue Linke zwischen 1969 und 1975 war zweifellos ein gesellschaftliches Phänomen, das unter dem Begriff 'soziale Bewegung' und 'neue soziale Bewegung' zusammengefasst werden kann. Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit ist allerdings nicht die Entstehungsmöglichkeiten der Neuen Linken, die sich aus einem Wandel der Sozialstrukturen im Japan der 1960er Jahre ergaben, sondern Brüche in der Bewegungspraxis der Bewegung selbst, die sich auch aus einem Wandel der politischen Theorie ergab.
Es ist wichtig festzustellen, dass die japanische studentische Neue Linke sich selbst nicht als 'soziale Bewegung' bezeichnet und verstanden hat. Zwar finden sich in Texten im Umfeld der militanten Studentenfaktionen regelmäßig verschiedene 'Bewegungen' (und?), wie zum Beispiel die 'Arbeiterbewegung' (r?d? und?), die 'revolutionäre Bewegung' (kakumei und?) oder die 'Befreiungsbewegung' (kaih? und?), die Subjekte der Bewegung wurden jedoch entweder als Träger einer gesamtgesellschaftlichen Revolution verstanden, bei dem sich der Begriff 'sozial' erübrigte, oder als partikuläre Bewegungen der 'Befreiung', bei der sich die Bewegung von der Mehrheitsgesellschaft dezidiert absetzte.
Diese Einschätzung teilt auch Raschke im Falle der sich als sozialistische Alternative verstehenden Studentenbewegung in der Bundesrepublik der 1960er Jahre, die er als soziale Bewegung der 'nachindustriellem Phase' der modernen deutschen Geschichte versteht. Im Verlauf der Verwandlung der westdeutschen Gesellschaft in eine 'industrielle Dienstleistungsgesellschaft' bildeten sich drei Bereiche der Intelligenz: neben dem Status quo-orientierten und dem reformistischen Flügel bildete sich schließlich ein drittes Element, ein 'gegenüber Traditionalismus und Modernismus kritisches Element, das um Autonomie gegenüber dem linksmonopolistischen Anspruch der SPD bemüht' war (Raschke 1988: 69).
So stand die deutsche Studentenbewegung auf der einen Seite noch in der Tradition der sozialistisch geprägten sozialen Bewegungen, auf der anderen Seite schon im Übergang zu dem Phänomen der 'neuen sozialen Bewegungen'.
'Die Studentenbewegung repräsentiert den allmählichen Übergang zur nachindustriellen Gesellschaft. Sie ist zugleich ein früher Vorbote der nachindustriellen wie ein später Nachgesandter der industriellen Gesellschaft' (Raschke 1988: 70)
Diese Definition ist auch auf die japanische Gesellschaft der 1960er Jahre übertragbar. Grob vereinfacht lässt sich dort auch eine Dreiteilung auffinden, die aus der Liberaldemokratischen Partei (Status quo), der Sozialistischen und Kommunistischen Partei (Reformisten) und dem 'kritischen Element' der postmarxistischen Intellektuellen und der Neuen Linken bestand. Vor allem die Intellektuellen der studentischen Neuen Linken (in Japan wie in der BRD) machten nach 1968 einen Wandel in einen Typus der neuen sozialen Bewegung durch, durch den ihr Selbstverständnis in zunehmenden Maße an 'Identität' geknüpft wurde, in Differenz von sozialen Bewegungen, deren Ziele noch gesamtgesellschaftlich sozial-revolutionär verstanden wurden:
'Doch sind revolutionäre Bewegungen linker Provenienz kraftlos und randständig geworden. Den heutigen progressiven Bewegungen geht es um Reformen, etwa die weitere Durchsetzung von Inklusions- und Partizipationsansprüchen, sowie die Beseitigung negativer Folgen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. [...] Es geht nicht mehr ums das Ganze. Die gesamtgesellschaftlichen Utopien sind verblasst' (Recht 1999: 18, 19).
In diesem Sinne ist die in dieser Arbeit untersuchte Zeitspanne zwischen 1969 und 1975 in Japan genau die Zeit des Umschlagens von sozialen Bewegungen alten 'utopischen' Typs zu sozialen Bewegungen neuen Typs, deren Bewegungsstruktur Raschke wie folgt bestimmt:
1.Hohe Autonomie vielfältiger Teilbewegungen mit (a) breit streuenden Einzelthemen mit einer identitätsbezogenen Lebensweise, (b) einem postmaterialistischen Werthorizont, und (c) einem Muster personenbezogener spontaner Vernetzung.
2.Rekrutierungsbasis der Akteure in nicht-industriellen Sektoren.
3.Kritik und Wunsch nach einem besseren Leben mit Problem des 'Lavierens' zwischen Macht- und Kulturorientierung (Raschke 1988: 74, 75).
Die japanische Studentenbewegung ist durch die japanbezogene soziologische Bewegungsforschung im Regelfall als Vorgeschichte für die Entstehung der neuen sozialen Bewegungen dieses Typs in Japan untersucht worden. Dieser Sachverhalt spiegelt sich auch in der nicht-japanischen Forschungsliteratur wider, in der es wenig Arbeiten gibt, die sich direkt auf die Studentenbewegung beziehen.
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