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E-Book

Roland Barthes

Die Biographie

AutorTiphaine Samoyault
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl871 Seiten
ISBN9783518742877
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR


<p>Tiphaine Samoyault, geboren 1968, lebt in Paris und ist Professorin f&uuml;r Komparatistik. Sie hat neben literaturwisssenschaftlichen B&uuml;chern mehrere Romane und Essays publiziert.</p>

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Leseprobe

PROLOG

Der Tod von Roland Barthes

Roland Barthes starb am 26. März 1980. Die Lungenprobleme, die nach seinem Unfall erneut aufgetreten waren, hatten sich aufgrund einer nosokomialen Infektion verschärft, einer jener Infektionen, die man sich immer wieder in Krankenhäusern zuzieht, bisweilen mit fatalem Ausgang. Vermutlich war sie die unmittelbare Todesursache. Häufiger bringt man indes seinen Tod mit dem vorausgegangenen Verkehrsunfall in Verbindung, bei dem ihn der aus Montrouge kommende Lieferwagen einer Kleiderreinigung auf einem Zebrastreifen in der Rue des Ecoles in Paris anfuhr. Auch das trifft zu. Am 25. Februar verlässt Roland Barthes ein von Jack Lang organisiertes Mittagessen, das möglicherweise im Zusammenhang mit den etwas über einem Jahr später stattfindenden Präsidentschaftswahlen steht. Der künftige Kulturminister möchte François Mitterrand im Kreis mit namhaften Intellektuellen und Künstlern sehen. Oder Mitterrand selbst möchte es und überlässt Lang die Organisation regelmäßiger Treffen. Es ist fast vier Uhr nachmittags. Von der Rue des Blancs-Manteaux kommend, hat Barthes den Pont Notre-Dame überquert und ist die Rue de la Montagne-Sainte-Geneviève hochgelaufen. In der Rue des Ecoles, im Abschnitt kurz vor der Ecke Rue Monge, geht er auf dem rechten Bürgersteig, fast bis zur Höhe des Outdoorladens Vieux Campeur. Er will die Straße überqueren, denn er ist auf dem Weg zum Collège de France, nicht zu einer Lehrveranstaltung, sondern um Details für sein nächstes Seminar zu klären, das er Proust und der Fotografie widmen will und für das er einen Projektor benötigt. Ein Wagen mit belgischem Kennzeichen parkt in zweiter Reihe und nimmt ihm teilweise die Sicht. Dennoch betritt er die Fahrbahn, und da geschieht der Unfall. Der Lieferwagen fährt nicht sehr schnell, aber doch zu schnell, und der Aufprall ist heftig. Barthes liegt bewusstlos am Boden. Der Fahrer des Reinigungswagens hält an, die Fahrbahn wird gesperrt, rasch sind Rettungswagen und Polizei zur Stelle (an der Place Maubert befindet sich ein Polizeirevier). Das Opfer trägt keine Papiere bei sich, man findet nur seine Mitgliedskarte vom Collège de France. Man erkundigt sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Jemand (einigen Zeugenaussagen zufolge Michel Foucault, aber es ist Robert Mauzi, Professor an der Sorbonne und seit Jahren eng mit Barthes befreundet) bestätigt die Identität von Roland Barthes. Dessen Bruder Michel Salzedo sowie die Freunde Youssef Baccouche und Jean-Louis Bouttes werden benachrichtigt. Sie fahren zum Hôpital de la Pitié-Salpêtrière, in das Roland Barthes eingeliefert wurde. Barthes steht unter Schock, ist jedoch bei vollem Bewusstsein. Er hat zahlreiche Brüche, offenbar aber keine ernsten. Einigermaßen beruhigt verlassen die Besucher das Krankenhaus.

Am Morgen des Unfalls begab sich Barthes zum oben erwähnten Mittagessen, Jack Langs Einladung folgend. Wie an den anderen Vormittagen hat er sich am Schreibtisch zu Hause seine Arbeit vorgenommen, in diesem Fall einen Vortrag, den er eine Woche später anlässlich eines Kolloquiums in Mailand halten soll. Unter dem Titel »Das ständige Scheitern des Sprechens über das Geliebte« wird es darin um Stendhal und Italien gehen. Das Thema steht im Zusammenhang mit der kürzlich beendeten Vorlesung am Collège de France über die »Vorbereitung des Romans«, in dem er sich mit dem Übergang vom Tagebuch zum Roman bei Stendhal befasst hat. Diesem war es nicht gelungen, seine Italienleidenschaft im Tagebuch festzuhalten, dafür aber in der Kartause von Parma. »Im Grunde hat zwischen dem Reisetagebuch und der Kartause das Schreiben stattgefunden, sich eingefunden. Was ist das Schreiben? Eine Macht, die wahrscheinliche Frucht einer langen Initiation, die die sterile Immobilität des Imaginären der Liebe aufhebt und ihrem Abenteuer eine symbolische Allgemeinheit verleiht.«1 Barthes tippt die erste Seite und den Anfang der zweiten in die Maschine. Dann macht er sich fertig, obwohl er nicht so genau weiß, was ihn eigentlich bewogen hat, die Einladung zu diesem Mittagessen anzunehmen. Aus Interesse an den Zeichen und den menschlichen Verhaltensweisen hat er bereits im Dezember 1976 an einem ähnlichen Mittagessen mit Valéry Giscard d’Estaing bei Edgar und Lucie Faure teilgenommen, was einige Freunde ihm vorgeworfen haben, da sie darin eine Anbiederung an die Rechten sahen. Angesichts der eigenen Sympathie und der seines Freundeskreises erscheint seine Zusage diesmal verständlicher. Philippe Rebeyrol, zu diesem Zeitpunkt Botschafter in Tunesien, vertraut er indes an, er habe den Eindruck, gegen seinen Willen in Mitterrands Wahlkampagne hineingezogen zu werden. Wer sind seine Tischgenossen? Philippe Serre, ein ehemaliger Abgeordneter des Front populaire, ist selbst nicht dabei, hat aber für den Anlass seine Wohnung zur Verfügung gestellt, da Mitterrands Wohnung in der Rue de Bièvre für derartige Zusammenkünfte zu klein ist und inzwischen faktisch eher Danielle Mitterrand als dem künftigen Staatspräsidenten gehört. Anwesend sind der Komponist Pierre Henry, die Schauspielerin Danièle Delorme, Rolf Liebermann, der Direktor der Pariser Oper, die Historiker Jacques Berque und Hélène Parmelin, Jack Lang und François Mitterrand. Möglicherweise sind noch weitere Gäste zugegen, an die sich aber keiner eindeutig erinnert. Wie nicht anders zu erwarten, ist Mitterrand ein großer Fan der Mythen des Alltags, hat vermutlich aber nichts anderes von dem Intellektuellen gelesen, der an diesem Tag mit an seiner Tafel sitzt. Das Essen verläuft in heiterer Atmosphäre, gewürzt mit subtilen Bonmots zur Geschichte Frankreichs und Witzen, die offenes Gelächter auslösen. Barthes ergreift nur selten das Wort. Gegen fünfzehn Uhr löst sich die Runde auf. Barthes beschließt, zu Fuß zum Collège de France zu gehen. Zeit hat er genug, da er erst am späten Nachmittag mit Rebeyrol verabredet ist, der tags zuvor aus Tunis angereist ist. Und am Ende des Weges geschieht der Unfall.

Roland Barthes erwacht im Hôpital de La Pitié-Salpêtrière. Sein Bruder und seine Freunde sind da. Um 20 Uhr 58 erfolgt eine erste Meldung der Nachrichtenagentur AFP: »Der vierundsechzigjährige Universitätsprofessor, Essayist und Kritiker Roland Barthes wurde am Montagnachmittag in der Rue des Ecoles im 5. Arrondissement Opfer eines Verkehrsunfalls. Roland Barthes wurde ins Hôpital de La Pitié-Salpêtrière eingeliefert. Dies teilte die Krankenhausleitung mit, die jedoch um zwanzig Uhr dreißig noch nichts Näheres über den Zustand des Schriftstellers bekanntgab.« Am nächsten Tag folgt um 12 Uhr 37 eine deutlich beruhigendere Meldung: »Roland Barthes befindet sich noch immer in der Salpêtrière und steht laut Auskunft des Krankenhauses weiter unter Beobachtung. Seine Verfassung ist unverändert. Barthes’ Verleger teilt mit, der Gesundheitszustand des Schriftstellers gebe keinen Anlass zur Besorgnis.« Hat François Wahl die Situation bewusst verharmlost, wie Romaric Sulger-Büel damals glaubte und Philippe Sollers noch heute behauptet?2 Hat Barthes’ Zustand sich überraschend und anhaltend verschlechtert? Aus den Berichten geht hervor, dass wohl beides eine Rolle spielte. Anfangs machen die Ärzte sich keine größeren Sorgen, beachten aber möglicherweise den ernsten Zustand der Lunge ihres Patienten zu wenig. Eine Ateminsuffizienz macht eine Intubation notwendig. Es folgt ein Luftröhrenschnitt, der den Kranken zusätzlich schwächt. In seinem Roman Femmes gibt Sollers eine dramatischere Schilderung des Geschehens. Dort lässt er Barthes als Werth auftreten und beschreibt ihn unmittelbar nach dem Unfall, von der Heftigkeit des Aufpralls gezeichnet, inmitten der gesamten Reanimationsapparatur: »Die ineinander verschlungenen Kabel. Die Schläuche. Die Knöpfe. Das rote und gelbe Blinken …«3 Viele der Besucher empfinden neben dem Entsetzen über das schlimme Ereignis ein Gefühl der Unumgänglichkeit. Als habe Barthes sich seit dem Tod seiner Mutter langsam fallenlassen. »Ich sehe Werth wieder vor mir, am Ende seines Lebens, kurz vor seinem Unfall … Zwei Jahre zuvor war seine Mutter gestorben, seine große Liebe … Die einzige … Er ließ sich mehr und mehr auf komplizierte Geschichten mit Jungen ein, das war sein Abstieg, der sich plötzlich beschleunigt hatte … Er dachte nur noch daran, während er zugleich von Bruch, von Askese, von einem neuen Leben träumte, von Büchern, die er schreiben wollte, von Neubeginn.«4 Er wirkte, als könne er nicht mehr, als sei er nicht länger in der Lage, den an ihn gestellten Anforderungen zu genügen. Auch die Freunde und Verwandten, die seine Abhängigkeit von jungen Männern aus Taktgefühl nicht erwähnen, sprechen davon, wie sehr ihn die Last der Anfragen, Briefe, Telefonate erdrückte … »Er konnte nicht nein sagen. Je lästiger ihm die Dinge waren, umso mehr fühlte er sich verpflichtet, sie zu erledigen«, fasst Michel Salzedo nüchtern zusammen. Die von manchen geäußerte Vermutung, er habe sich in seiner tiefen Trauer um die Mutter dem allmählichen Sterben preisgegeben, klingt zu psychologistisch, mag aber andererseits auch dem Bedürfnis nachkommen, das Leben zu einer abgerundeten Erzählung zu machen. Dass seine Erschöpfung auch von seinem Kummer herrührt und Anzeichen einer Depression aufweist, ist nicht unwahrscheinlich. Fest steht jedoch, dass Barthes nicht an einen wie auch immer gearteten Himmel glaubt, in dem er seine Mutter wiedersehen wird. In diesen Tagen sucht er nicht bewusst den Tod, selbst wenn er seinen Freund Eric Marty mit einer solchen Verzweiflung anschaut,...

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