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E-Book

In Sippenhaft

Negative Klassifikationen in ethnischen Konflikten

AutorFerdinand Sutterlüty
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl295 Seiten
ISBN9783593409030
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Ferdinand Sutterlüty führt mitten in die Probleme des Zusammenlebens unterschiedlicher ethnischer Gruppen in Deutschland. Am Beispiel von zwei ehemaligen Arbeitervierteln zeigt er die vielfältigen Muster »negativer Klassifikationen« auf, mit denen Einheimische und Türkischstämmige ihre wechselseitige Geringschätzung ausdrücken. Beide Seiten sind noch immer von einem sippenhaften Denken durchdrungen. Die türkischen Bewohner stellt dies vor hohe Integrationshürden, da ihnen häufig die Berechtigung zu wirtschaftlicher Teilhabe, politischer Beteiligung und sozialer Zugehörigkeit abgesprochen wird. Erkennbar wird zudem ein seltsames Paradox: Die Migranten, die zu den besten Aspiranten auf Integration zählen, sind bevorzugt Ziel von Stigmatisierung, bedrohen sie doch vermeintlich am stärksten den Status der Einheimischen.

Ferdinand Sutterlüty ist Professor für Soziologie an der Katholischen Hochschule NRW in Paderborn und gehört dem Kollegium des Instituts für Sozialforschung an.

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Leseprobe
4 Ethnischer Verwandtschaftsglaube (S. 177-178)

Weshalb wird also eine so rigorose Scheidelinie zwischen »Türken« und »Deutschen« gezogen, wie es das vorangegangene Kapitel gezeigt hat? Welche Mechanismen und Interpretationsmuster sind für die hartnäckige Persistenz ethnischer Grenzziehung und die Stigmatisierung türkischer Aufsteiger verantwortlich? Diese Fragen soll die folgende Fallstudie beantworten.98 Sie beschäftigt sich mit zwei Blutspendeaktionen, die das Deutsche Rote Kreuz bei der Islamischen Kulturgemeinschaft in Barren-Ost durchgeführt hat.

4.1 Blutspenden in Barren-Ost

In einem Expertengespräch im Juli 2002 erwähnt Herr Latal, Redakteur der Barrener Zeitung, dass die Islamische Kulturgemeinschaft dem Deutschen Roten Kreuz angeboten habe, eine Blutspendeaktion in den eigenen Räumen an der Essener Straße durchzuführen. Der Moscheeverein, sagt Herr Latal, sei gut durchorganisiert und könne gewiss viele Spender mobilisieren.

Der zuständige Blutspendedienst des Roten Kreuzes wolle sich auf das Angebot jedoch mit etwas undurchsichtigen Argumenten nicht einlassen. Schließlich sollte die Blutspendeaktion doch zustande kommen, und die von Herrn Latal angedeuteten Unregelmäßigkeiten im Vorfeld ließen einen interessanten Fall für die Erforschung interethnischer Beziehungen und Disparitäten erwarten. Schließlich ist Blut, wie alte Redensarten sagen, »ein ganz besonderer Saft«, der »dicker als Wasser« ist.

Als der Verfasser im September 2002 das Gelände der Islamischen Kulturgemeinschaft betritt, begegnet er im Innenhof einer Mitarbeiterin des Rotkreuz-Ordnungsdienstes,99 die ein Schild mit der Aufschrift »Schwester Genoveva« an ihrer Arbeitsuniform trägt. Sie trifft gerade Vorbereitungen für die Blutspendeaktion, während die Mitglieder der Moscheegemeinde im Gebetsraum das Freitagsgebet verrichten. Auf die Frage, wie es dazu gekommen sei, dass das Rote Kreuz bei der Islamischen Kulturgemeinschaft eine Blutspendeaktion durchführt, sagt Schwester Genoveva: »Wir können da nicht nein sagen.

Sonst heißt es, wir seien ausländerfeindlich.« Dann korrigiert sie sich sogleich und stellt in Abrede, dass das Rote Kreuz mit der Aktion lediglich dem Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit entgehen will. »Wir wollen auch nicht nein sagen«, sagt sie und ergänzt: »Wir nehmen alles, was sich anbietet.« Mit diesem Nachsatz gibt Schwester Genoveva unfreiwillig zu erkennen, dass sie durchaus einen Unterschied zwischen verschiedenen Spendergruppen macht. In der Bemerkung kommt eine subtile Abwertung zum Ausdruck, denn sie lässt das Blut der hier zu erwartenden Spender als minderwertige Ware erscheinen. Schließlich bringt Schwester Genoveva nicht näher genannte Dritte ins Spiel und erklärt: »Viele haben etwas gegen die Blutspendeaktion.

Sie sagen: ›Das sind ja Ausländer!‹« Das merkwürdige Changieren der Aussagen Schwester Genovevas ist ein untrüglicher Hinweise darauf, dass eine Blutspendeaktion bei der Islamischen Kulturgemeinschaft für das Rote Kreuz ein – wie auch immer geartetes – Problem darstellt. Als das Freitagsgebet beendet ist und die Spendenaktion pünktlich in Gang kommt, ist von Vorbehalten jedoch nichts zu spüren.

Zwei Männer aus dem Vorstand der Islamischen Kulturgemeinschaft, der Geschäftsführer des örtlichen DRK-Kreisverbandes und je ein Redakteur der beiden großen Lokalzeitungen sitzen einträchtig an einem Tisch im Hof des Vereinsgeländes und beglückwünschen sich gegenseitig zum Zustandekommen der Aktion. Herr Fährmann vom DRK-Kreisverband erklärt, dass es sich im Einzugsgebiet des regionalen Blutspendedienstes, womöglich sogar weit darüber hinaus, um die erste Spendenaktion handle, die bei einem Moscheeverein durchgeführt wird. Geradezu euphorisch spricht er, sich umschauend, von einem »kulturellen Miteinander«.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Vorwort10
Danksagung18
1 Einleitung20
1.1 Soziale Klassifikationen23
1.2 Klassifikationskämpfe24
1.3 »Negative Klassifikationen«29
2 Die empirische Studie32
2.1 Untersuchungsgebiete33
2.1.1 Barren-Ost34
2.1.2 Iderstadt-Süd49
2.1.3 Nachbarschaften64
2.2 Datenbasis66
2.2.1 Erhebungsmethoden, Feldzugang, Sampling66
2.2.2 Auswertungsmethode und Anspruch der Studie71
3 Muster negativer Klassifikationen74
3.1 Graduelle und kategoriale Klassifikationen75
3.2 Zentrale Rolle von Ethnizität79
3.3 Interethnische Klassifikationen des graduellen Typs83
3.3.1 »Protestantische Ethik im türkischen Gewand«84
3.3.2 »Expansiver Übernahmewille«94
3.3.3 »Türkische Überzahl«103
3.4 Interethnische Klassifikationen des kategorialen Typs110
3.4.1 »Deutsche Dissozialität«110
3.4.2 »Gefühlsmigrantentum«123
3.4.3 »Kriminelle Machenschaften«134
3.4.4 »Rationales Schmarotzertum«143
3.4.5 »Dreckigsein«158
3.5 Etablierte und Außenseiter oder ethnische Ordnung sozialer Ungleichheit?172
4 Ethnischer Verwandtschaftsglaube178
4.1 Blutspenden in Barren-Ost178
4.1.1 Geben als Integrationsstrategie180
4.1.2 »Türkisches Blut«183
4.1.3 Universalismus mit partikularem Ziel186
4.1.4 Dynamik des Scheiterns189
4.2 »Verwandtschaft« als generatives Klassifikationsprinzip196
4.2.1 Blutsverwandtschaft197
4.2.2 Gabentausch unter Gleichen200
4.2.3 Ethnische Tiefendimensionen sozialer Ungleichheit203
4.2.4 Erweiterter Nepotismus und negative Klassifikationen208
5 Klassifikationskämpfe und soziale Desintegration212
5.1 Austragungsformen von Klassifikationskämpfen und Integrationsmodi214
5.1.1 Offene Klassifikationskämpfe214
5.1.2 Verdeckte Klassifikationskämpfe224
5.1.3 Zur Bedeutung quantitativer Gruppengrößen236
5.2 Integration und Ausgrenzung in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen238
5.2.1 Wirtschaft238
5.2.2 Politik244
5.2.3 Lebenswelt253
6 Das Paradox ethnischer Gleichheit260
Literatur272

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