Ein Kennzeichen evangelikaler Frömmigkeit ist das Schwanken zwischen Weltzuwendung und Weltabwendung, dem Lavieren zwischen Gemeinde und Welt, ja zwischen Weltveränderung und Weltflucht. Quietismus und Aktivismus können sich auch in Intervallen ablösen. So hat etwa die Abtreibungsdebatte viele Evangelikale aus ihren frommen, introvertierten Zirkeln heraustreten lassen und sie zu öffentlichen Initiativen und sogar zu eigenen Parteigründungen veranlasst. Daneben sind aktive Evangelikale müde und verdrossen geworden, da ihre Anliegen keine breite Resonanz fanden und haben daraufhin das kontemplative Leben vorgezogen und den öffentlichen Raum wieder verlassen. Die politischen Aktionen sind nicht auf Dauer und Zähigkeit angelegt. Ebenso verführt die erkannte ‘Wahrheit’ zu Schnellschüssen, zur Hoffnung auf schnelle, umfassende Reaktionen. Deshalb finden wir kaum Langzeitstrategien, etwa im kontinuierlichen Aufbau einer politischen Abgeordnetenkarriere in einer aussichtsreichen Partei. Es werden traditionell persönliche Beziehungen genutzt, Verbindungen, die über Seminare oder Konferenzen entstanden sind ausgebaut. Das politisch-taktische Agieren, das auch (und gerade) im demokratisch-parlamentarischen Leben zum „Spiel“ gehört, ist den aufrechten Evangelikalen noch weitgehend fremd. Dass Politik sich kaum von moralisch erhöhten Denkschriften beeinflussen lässt, müssen auch Evangelikale noch lernen.
Durch ihre Einbindung in internationale evangelikale Organisationen werden deutsche Evangelikale ermuntert, politisch aktiv zu werden. Die angelsächsischen Evangelikalen und die neu entstandenen, evangelikal geprägten Gemeinden in der Dritten Welt waren von Anfang an stark politisch engagiert und erwarteten dies nun auch von ihren Kollegen in Deutschland.
Die Neigung, sich ganz der spirituellen Erbauung, dem Gebet hinzugeben, ist sicher weit verbreitet. Zwar finden sich vielfältige diakonische Initiativen, dennoch wird das Politische als Betätigungsfeld selten gesehen, eher als weltlich, dem geistlichen hintangestellt, wenn nicht gar abgelehnt. Politik ist die Angelegenheit derer, die dazu berufen sind. Dem Christen ist zuerst aufgetragen, zu missionieren und sichtbar ein gottgefälliges Leben zu führen. Das sei wichtiger als die aktive Teilnahme am politischen Prozess. So klagt einer dem württembergischen Pietismus entstammender Landtagsabgeordneter, Rudolf Decker (CDU), „[v]iele haben gedankliche Hemmungen, sich mit der Welt der Politik und der Obrigkeit zu befassen.”[372] Evangelikal geprägten Christen ist immer ein innerlicher Zug eigen. Es kann vorkommen, dass gerade die Einübung in die Frömmigkeit fordert, sich von der Welt zurückzuziehen. Das beinhaltet dann auch, sich politisch weder zu engagieren, noch sich überhaupt für die Gestaltung des Sozialwesens außerhalb der eigenen Gemeinde zu interessieren, sagt doch Jesus, ‘Mein Reich ist nicht von dieser Welt’ (Joh.18,36). Als konsequente Jesus-Nachfolger ergibt sich, dass eben zuerst nach dem jenseitigen Reich Gottes gestrebt werden muss und die vorfindliche Realität einfach hingenommen, aber nicht der aktiven Gestaltung der Christen bedarf. Das Gelingen des Christenlebens vor Gott und den Nächsten eröffnet sich nicht zuerst in politischer Existenz, sondern in der Gottesbeziehung, also im Glauben.[373] „Damals wie heute geht es darum: Wie kann ich als Mensch vor Gott bestehen? Und nicht um die Frage: Wie kann ich die Welt verbessern.”[374] Tatsächlich ermöglicht eine gesiebte Bibellektüre den Eindruck der weltabgewandten Intention für christliches Dasein. ‘Stellt euch nicht der Welt gleich’ (Rö. 12,2), ‘Wir haben nicht den Geist der Welt empfangen’ (1.Kor.2,12). Auch die Forderung, sich von der ‘Welt unbefleckt [zu] erhalten (Jak.1,27), bzw. die Weisung, ‘habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist’ (1.Joh.2,15), wird vielfach als Legitimierung zur Zurückhaltung in allen diesseitigen Belangen angeführt. Der Schriftleiter des Informationsbriefes der Bekenntnisbewegung, Hansfrieder Hellenschmidt, mahnt: ”Nur ideologische Schwärmer sehen die Welt als ihre Aufgabe. [...] Glaube, Liebe und Hoffnung sind keine politischen Tugenden, sondern Gaben Christi an seine Jünger.”[375]
Zur quietistischen Versuchung trägt auch bei, dass der Staat, die weltliche Ordnung für Christen zum überwundenen, nach der Wiedergeburt abgestorbenen Bereich gehört. „Das Sein des Christen wurzelt nicht in der weltlichen ‘Polis’, nicht in Politik, Staat und Gesellschaft.”[376] Nichts irdisch Geschaffenes ist die „wahre Heimat der Christen. [...] Das Vaterland der Christen [...] ist Gottes kommende, neue, todfreie Welt.”[377] Als ‘Wiedergeborene’, als ‘Kinder Gottes’ gehörten sie zuerst Gottes Reich an und repräsentierten sichtbar „die Gegenwart des Reiches Gottes mitten in der konkreten Wirklichkeit des Staates.”[378]
2.1. Die Forderungen der evangelikalen Wortführer
Gegenüber der latent vorhandenen quietistischen Neigung an der ‘Basis’ wenden sich deutlich und verstärkt die evangelikalen Wortführer. Die Aufrufe der publizistisch engagierten Evangelikalen zur politischen Beteiligung sind vehement und immens, sie alle leiden darunter, dass es nur selten und partiell gelingt, politische Erkenntnisse der theologischen Lehrer in die Gemeinden wirksam weiterzugeben.[379] Das Wort von den ‘Stillen im Lande’ aufnehmend äußert Peter Hahne, dass diese ‘Stillen’ endlich öffentlich „laut werden”[380] müssen. Christen sind für eine gerechte Ordnung mitverantwortlich und sollen sich nicht aus der Welt davon stehlen. Ein unpolitisches Christsein gibt es demnach gar nicht, da Christen, indem sie auf Gott und seinen Willen hinwiesen, eine unverzichtbare gesellschaftspolitische Funktion im Staat erfüllten.[381] „So haben wir der Politik zu geben, was ihr von Gott zusteht: menschlichen Respekt, menschliche Unterstützung, vorletzte Hingabe, menschenwürdige Offenheit und Kritik.”[382]
Die Verantwortung soll dabei in erster Linie über gesellschaftliche Funktionen in Parteien, Verbänden und im Beruf wahrgenommen werden.[383] „Politik verdirbt nicht den Charakter, sie offenbart ihn”[384] mahnt der Theologe Thomas Schirrmacher. Und er warnt die seinen, denn wenn „sich alle gottesfürchtigen Menschen aus der Politik zurückziehen, müssen sie sich nicht wundern, dass andere in die Politik gehen und ihre Politik machen.”[385]
Der Präses des Gnadauer Verbandes, Christoph Morgner, hält seinen Anhängern den Apostel Paulus und den Propheten Jeremias vor Augen, die sich beide um ihre jeweiligen Gemeinwesen kümmerten. „Wie könnten Christen die Welt und ihre Angelegenheiten gering achten, wo doch Gott diese Welt unendlich liebt?! Eine Demokratie lebt davon, dass sich alle Gruppierungen zu Wort melden und einbringen. Es wäre schlimm, wenn wir als Leute Jesu ‘stumme Hunde’ bleiben würden.”[386]Der langjährige Abgeordnete im Stuttgarter Landtag, Rudolf Decker (CDU), mahnt seine Klientel: ”Als Bürger des Reiches Gottes haben wir die hohe Pflicht, hineinzuwirken in die Welt der Nationen und der Mächtigen und zur Lösung von Gegenwartsproblemen beizutragen.”[387] Christen ist es grundsätzlich verwehrt, sich an Versuchen zu beteiligen, die darauf abzielen, den Auftrag des Staates, Gottes Dienerin zu sein, die das Schwert nicht umsonst trägt, in Frage zu stellen oder gar zu boykottieren.[388]
Die politische Mitwirkung der Christen „geschieht im Wissen um die Unvollkommenheit dieser Ordnung, demokratisch und bescheiden.”[389] Grundsätzlich gilt: „Die Gesetze werden beachtet, die Obrigkeit wird im Gebet getragen, im Geist der Dankbarkeit und nicht des Neides. Handeln Christen so, dann werden sie selbst geheimer Teil von ‘Obrigkeit’, weil sie sich eingliedern lassen in Gottes welterhaltendes Tun.”[390] Das angemahnte Gebet für die Regierenden, die Überzeugung, dass wer „für die politische Arbeit in Bonn betet” damit „die Gegenwart und Zukunft unserer Demokratie”[391] bewegt, darf nicht mit Billigung und Freifahrtschein für staatliches Tun verwechselt werden. „Das Gebet beinhaltet ja gerade die Kritik, dass die Regierung ihre Macht missbrauchen und ein unruhiges und friedloses Leben herbeiführen könnte.” Wenn Christen beten, dann immer „im Sinne Gottes,[...] also immer auch gegen Machtmissbrauch der Regierung und gegen die Aushöhlung der Gebote Gottes durch die Regierung.”[392]
Christen sollten sich im politischen Geschäft zwar als Christen zu erkennen geben, dennoch, „konkrete Politik betreibt der Christ in unserem Staat in seiner Eigenschaft und aus...