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Technik und musikalische Avantgarde. Transformationen musikalischer Ästhetik durch technisch produzierte und reproduzierbare Kunst

AutorClaas Hanson
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl113 Seiten
ISBN9783638511391
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Musik - Sonstiges, Note: 1,0, Ruhr-Universität Bochum (Geschichtswissenschaft), 168 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Claas Hanson stellt die Bedeutung der Technik für die musikalische Avantgarde, insbesondere die durch Technik ausgelösten oder in ihr verorteten Transformationen musikalischer Ästhetik und künstlerischen Selbstverständnisses ins Zentrum vorliegenden Buches. Technik gerät dabei sowohl auf Seiten der Produktion, Reproduktion und Distribution von Musik als auch als programmatisches Element in den Blick. Hanson zeichnet die Geschichte der Geburt der Kunst aus der Technik, die ästhetischen Gründe ihrer Abwertung und die Re-Etablierung der Technik in der Kunst des 20. Jahrhunderts nach: vom Zukunftsmusiker Wagner über Expressionismus, Futurismus, der Musik am Bauhaus bis hin zu den ästhetischen Konzepten der Neo-Avantgarde. Die Maschine, kybernetisch begriffen als Anordnung von Regeln und Gesetzen der Transformation, wird so auch in der Kunst zum Katalysator der Transformation klassischer Ästhetik. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Technik auf bisher ungekannte Art und Weise in das Lebensumfeld und Lebensgefühl der Menschen eingedrungen. So ist es nicht verwunderlich, daß sie zunehmend auch eine Position in der künstlerischen Auseinandersetzung der Zeit einforderte. Der Umstand aber, daß Technik auch in der Sphäre der Kunst noch als etwas Neues und Fremdes - oftmals sogar als etwas Gefährliches und Bedrohliches - wahrgenommen wurde, ist ein deutliches Indiz dafür, daß Kunst sich als autarke Kategorie inszenierte. Sie war Kunst grade in ihrer Abgeschiedenheit von allem Weltlichen. Der ?überirdische? Wert der Kultur konnte ihr nur durch die Ignoranz aller Verweise auf ihre weltliche, technische Gemachtheit zugesprochen werden. Kunst und Technik können in der Blüte der durch Geniekult und Schöpfungsmythos verklärten, romantischen Ästhetik nur als idealtypische Antagonisten gesehen werden. Die Krise des romantischen Idealismus durch die über die Welt und die Kunst hereinbrechende Technik führte zu einer Stimmung, die heute als ?fin de siècle? zum Sinnbild geworden ist. Einer Mischung von Weltuntergangsdepression und Fortschrittseuphorie, die die Technik mal als Totengräber der Zivilisation, mal als Heilsbringer der Menschheit stilisierte.

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Leseprobe

2. Technik in der Technikphilosophie[7]


 


2.1. Einführung in den Technik- und Maschinenbegriff


 

Um die Bedeutung der Technik zu erfassen, ist es zuerst von Nöten, den Begriff der Technik näher zu betrachten. Technik bezeichnet sowohl Objekte als auch Praxen. Wie bereits erwähnt liegt der Bedeutungsschwerpunkt der Wortwurzel in der Praxis: gr.: téchne bezeichnet den Einsatz eines Mittels zum Zweck. Technik ist damit keine abstrakte Größe, sondern eine menschliche Eigenschaft und Fähigkeit. Im Prinzip ist damit alles absichtsvolle Handeln, auch das nicht-menschliche, Technik. Obwohl Technik damit stets teleologisch ist, verbleibt sie intellektuell doch auf einer recht basalen Stufe. So ist die Abwertung der artes mechanicae vor den artes liberales nicht weiter verwunderlich.

 

Für Aristoteles geht der Begriff der Technik dann über die bloße Praxis hinaus. Sie umfaßt das absichtsvolle Erschaffen von Gegenständen, die ihrem eigenen Zweck gehorchen.

 

»Indem Aristoteles so die poietisch-hervorbringende Funktion der Technik hervorhebt, stellt er sie in ein deutliches Kontrastverhältnis zum natürlichen Entstehen und Vergehen. Menschliche Kunst zielt auf Schaffung und Gestaltung. Vernichtung und Verfall dagegen wird den Naturkräften zugeordnet«.[8]

 

Die Geburtsstunde der Kunst liegt also in der absichtsvollen Entfremdung von der Natur durch die Technik. Bereits an diesem Punkt ist der menschliche Wunsch nach der Befreiung aus dem Joch der ›grausamen‹ Natur spürbar. Diese Wahrnehmung wird sich im Laufe der Geschichte dann mehrfach ins Gegenteil verkehren.

 

Techniken nutzen Objekte und schaffen Objekte. Das technische Artefakt wird so zur selbständigen Kategorie. Als Werkzeug oder Instrument[9] wird es in philosophischer (Martin Heidegger) und anthropologischer (Ernst Kapp/ Arnold Gehlen) Hinsicht zum Kriterium der Menschwerdung: der Mensch ist Mensch und vom Tier geschieden durch den Werkzeuggebrauch. Ernst Kapp begreift 1877 im ersten genuin technikphilosophischen Werk das Werkzeug als Externalisierung des menschlichen Selbst, als Organprojektion (gr.: organon – Körperglied, Nachbild, Werkzeug).[10]  Die von ihm geführte Argumentation verquickt Anthropologie mit Sprachwissenschaft:

 

»wenn daher die sprachlichen Spuren der Bezeichnung eines Werkzeugs sich in fernste Zeiten zurückverfolgen lassen bis zur Tätigkeit eines Organs, welche genau mit Gebrauch und Zweck des technischen Produkts stimmt, so liegt in diesem Fall auch der Beweis vor, daß das technische Produkt von der Tätigkeit eines Organs produziert und projiziert ist«.[11]

 

Die Schritte der technischen Entwicklung vollziehen sich

 

»unbewußt nach organischem Muster vor sich gehende Anfertigung, demnächst die Begegnung, das Sichfinden von Original und Abbild nach dem logischen Zwang der Analogie, und dann die im Bewußtsein wie ein Licht aufgehende Übereinstimmung zwischen Organ und künstlichem Werkzeug«.[12]

 

Kapp entwickelt also eine fast metaphysische Vorstellung der impliziten Übertragung von Wissen aus dem Mensch in die Welt. Es geht ihm nicht um die Erkenntnis allgemeiner, physikalischer Phänomene, denen sich der Mensch genauso wie die Natur bedient, sondern um die eigenständige und aktive Externalisierung der Organe durch den passiven Werkzeugmacher Mensch.

 

Denn »das charakteristische Merkmal der Organprojektion [ist] das unbewußte Vorsichgehen«.[13]

 

Der Mensch wird so in letzter Konsequenz autopoietisch konstruiert.[14] Zwar weiß sich Kapp vom technischen Weltbild des 18. Jahrhunderts abzugrenzen, verzichtet aber nicht darauf, ebenso technische Entwicklung als Erklärungs- und Verständnismodell für den Menschen heranzuziehen. Es kann auf anatomisch-funktionale Vorgänge rückgeschlossen werden.

 

Arnold Gehlen übernimmt diesen Ansatz und beschreibt die Evolution der Technik in den drei Stufen: Werkzeug, Maschine und Automat.[15] Der Mensch als ›Mängelwesen‹ benötigt die Technik als Organersatz, Organentlastung und Organverstärkung. So ist es nicht das Wesen der Technik, sondern der ihr auferlegte und eingeschriebene Zweck, der sich zwischen den Mensch und seine Umwelt schiebt. Die zunehmende Angst vor der verselbstständigten Technik zu Beginn des 20. Jahrhunderts geht aber auf eine Entfremdung des Menschen durch die Technik zurück, die schon Hegel beschrieben hat:

 

»die Maschine ist nicht nur Differenz zur Natur, sie erschafft zugleich die Differenz des Subjekts, des Menschen, von seiner Arbeit, von seiner Tätigkeit in der Welt der Dinge«.[16]

 

Diese Entfremdung greift auch Martin Heidegger auf, wenn er Technik als ›Ge-Stell‹ begreift, das nicht nur den Weg zur Natur ›ver-stellt‹, sondern in einem aggressiven Sinne ›zum Kampf stellt‹. So kann Technik konstruktive Potenzen im »Werk-Zeug« und destruktive Potenzen im »Ge-Stell« entfalten.[17]

 

Eine weitere Komplexitätssteigerung erfährt der Begriff der Technik durch die zusammengesetzten technischen Artefakte: Maschinen. Der Leibnizianer Christian Wolff definiert die Maschine 1719 als »ein zusammengesetztes Werck, dessen Bewegungen in der Art der Zusammensetzung gegründet sind.«[18] Die Einfachheit dieser Definition zeugt von einen Maschinenbegriff, der sich fast unbegrenzt übertragen läßt. Jedes regelhafte und aus Teilen zusammengesetzte System ist demnach als eine Maschine zu begreifen. Die barocke Übertragung des Uhrwerks auf den Weltenlauf – die ›macchina mundi‹ – muß auf und in den Menschen und das Zusammenspiel aller seiner Werke ausgedehnt werden. So wird bereits im 17. Jahrhundert, vorangetrieben durch die Mathematik, jedes Zeichensystem (und damit jede Sprache) als abstrakte Maschine begriffen.[19] Der Maschinenbegriff koppelt sich so zunehmend von seinen physischen Wurzeln ab und wird zu einer rein informatorischen Kategorie. Die Kybernetik des 20. Jahrhunderts definiert eine Maschine lediglich noch als »Anordnung von Regeln und Gesetzen, durch die gewisse Tatbestände in andere transformiert werden.«[20]

 

In der Evolution der technischen Apparatur steht der Automat an letzter Position. Als Maschine mit eigenem ›Antrieb‹ integriert die Technik hier (scheinbar) die eigene Teleologie und emanzipiert sich vom Menschen. Die große Anzahl barocker Lese-, Schreib-, Musik-[21] und Spielautomaten simuliert dank ausgeklügelter Feinmechanik und Uhrmachertechnik lediglich die Unabhängigkeit vom Programmierer. Die komplexen Systeme zweiter Ordnung der Kybernetik (zelluläre Automaten) haben heute den autopoietischen Zustand verselbständigter Technik erreicht.

 

2.2. Einführung in die Techno-Ästhetik[22]


 

Die philosophische Disziplin der Ästhetik umfasst ein frei definiertes Begriffssystem, in dem Kategorien von Begriffen in Ordnungs-, Abhängigkeits- und Wertehierarchien gesetzt werden. Die Formulierung einer ästhetischen Theorie bedarf einer bestimmten Menge isomorpher Merkmale aus einer kontingenten Anzahl exemplarischer Werke. Der Phase der Formulierung eines ästhetischen Wertesystems folgt die Phase der Anwendung. Der semantische Raum einer expliziten, ästhetischen Theorie wird auf ein neues Werk übertragen, das nicht zum Kanon der exemplarischen Werke ihrer Formulierung gehörte. Es wird deutlich, daß es sich um ein historisch beschränktes System handelt: die Semantik einer ästhetischen Theorie ist stets durch ›veraltete‹ Werke determiniert.

 

Erscheinen diese Begriffe und Bezüge einer ästhetischen Theorie auf philosophischer und kunsttheoretischer Ebene diskutabel und verhandelbar, so zeigt sich doch, daß ihre realen, (kultur-) politischen Machtimplikationen nicht frei zur Disposition stehen. Die Definitionsmacht über zentrale Begriffe wie Sinn, Wahrheit und Schönheit rührt an die Grundfesten menschlichen Seins. Ästhetische Systeme setzen Begriffe in Verbindung und Abhängigkeit und erschaffen damit Arten und Weisen, Welt zu denken. Sich der manipulativen Macht gesellschaftlich gültiger Ästhetik zu entziehen erscheint genauso unmöglich, wie sie individuell auszuüben.[23]

 

Der Ansatz von Peter Weibel zur Beschreibung der Transformation von ästhetischen Systemen basiert auf einem marxistischen Modell.[24] Seine klare und strukturierte Darstellung der Transformation klassischer Ästhetik krankt meiner Meinung nach lediglich an der Vorstellung, Macht ließe sich überwinden.[25] Die bleibende Dominanz klassischer Ästhetik liegt seiner Auffassung nach im Klassenkampf begründet. Sie basiert auf der Ontologie des statischen Bildes und negiert Dynamik, Immaterialität und Zeitform. Technisch produzierte Kunst basiert dagegen nicht auf einem statischen Seins-, sondern auf einem dynamischen Zustandsbegriff. Das gesellschaftlich dominante Interesse der Besitzstandswahrung aber verhindert die Durchsetzung einer prozessualen Ästhetik. So haben sich Wissensmonopol und Bürgerkultur unbeeinflußt von der ersten,...

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