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E-Book

Traumatisierte Frauen begleiten

Das Praxisbuch für Hebammenarbeit, Geburtshilfe, Frühe Hilfen

AutorMartina Kruse
VerlagHippokrates
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783132409774
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis39,99 EUR
Endlich gibt es ein Buch, das sich mit den Folgen von Gewalterfahrung auf Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett befasst. Die Autorin ist Hebamme mit großer Expertise in der Betreuung betroffener Frauen. Lesen Sie, wie Sie Traumatisierung erkennen und Retraumatisierungen verhindern können. Traumasensible Begleitung bedeutet - Traumatische Belastungen erkennen - Alarmsignale und typische Symptomatiken von Traumafolgen wahrnehmen - Bedürfnisse und Grenzen traumatisierter Frauen erfüllen und einhalten - Sicherheit und stabilisierende Maßnahmen vermitteln und durchführen Mit konkreten Tipps und Fallbeispielen Selbstfürsorge für Hebammen - die Möglichkeiten der Stressreduktion - Erstellen von Netzwerkkarten - eigene Ressourcen sammeln

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Leseprobe

4 Was passiert im Gehirn und im Körper bei einem Trauma?


Wenn wir verstehen, was im Körper und im Gehirn bei einem Trauma ausgelöst wird, können viele Reaktionen, die Betroffene zeigen und die bei anderen Menschen vielleicht zu Irritationen führen, besser verstanden werden.

In einer Situation, in der uns Gefahr droht, sind wir normalerweise in Sekundenschnelle zum Kampf bereit. Das ist ein instinktives Verhalten, das noch aus der Zeit stammt, in der die Menschen in Höhlen lebten und keine anderen Möglichkeiten hatten, als auf Gefahren mit Angriff oder Flucht (Fight-or-flight-Reaktion) zu reagieren. Wenn ihnen beispielsweise ein gefährliches Raubtier begegnete, konnten sie nur auf den nächsten Baum flüchten oder mit den wenigen Mitteln, die ihnen damals zur Verfügung standen, gegen den Angreifer kämpfen, um ihr Leben zu retten. Diese Verhaltensweise hat sich in unserem Gehirn manifestiert und wirkt noch heute. Und unser Gehirn sorgt noch heute dafür, dass sich bei Gefahr sofort unser Blutdruck erhöht und Hormone ausgeschüttet werden, damit der Körper kampf- bzw. fluchtbereit ist. Wenn Sie also heute in eine gefährliche Situation geraten, denken Sie ebenso wenig nach wie ein Höhlenmensch, Sie reagieren instinktiv, es ist Ihnen gar nicht möglich, eine bewusste Entscheidung zu treffen, es sei denn, Sie sind für solche Situationen trainiert.

Der Notfallmechanismus im Gehirn Der Teil des Gehirns, der in einer bedrohlichen Situation aktiv wird, ist die Amygdala. Sie gehört zum limbischen System und wird auch als „Hot Memory“ oder „Feuerwehr“ bezeichnet. Die Amygdala setzt einen Notfallmechanismus in Gang, der dafür sorgt, dass die Hormone Kortisol, Adrenalin, Noradrenalin in großer Menge in unseren Blutkreislauf gelangen. Es erfolgt zudem ein Anstieg von Glucose im Blut, damit dem Körper die nötige Energie für einen Kampf oder eine Flucht zur Verfügung steht. Der gesamte Körper wird in Alarmzustand versetzt. Das Kleinhirn, für die Motorik zuständig, wird aktiviert und ebenso der älteste Teil des Gehirns, das Stammhirn. Dieses übernimmt alles, was mit Rhythmik zu tun hat: Herzschlag und Atemfrequenz beschleunigen sich, sodass die Versorgung mit Sauerstoff verbessert wird.

Zum limbischen System gehört der Hippocampus, der auch „Cool System“ oder „Archivar“ des Gehirns genannt wird. Dieser ist in Zusammenarbeit mit dem Großhirn (Kortex), einem entwicklungsgeschichtlich gesehen jüngeren Teil des Gehirns, zuständig für die richtige Einordung von Erinnerungen im Gedächtnis. Er ist vernetzt mit dem Sprachzentrum des Gehirns (Broca-Areal). In unbelasteten Momenten funktioniert das Zusammenspiel zwischen Amygdala, Hippocampus und Kortex problemlos: Erfahrungen werden integriert, biografisch, episodisch und narrativ richtig eingeordnet – und damit zu Erinnerungen. Das bedeutet, wir können uns an unsere Erfahrungen und Erlebnisse erinnern, wir wissen, wann und wie etwas passiert ist. Wir können uns chronologisch erinnern: Es gibt einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende und wir können über unsere Erinnerung mit Worten berichten ▶ [67].

Bei einem traumatischen Erlebnis ist die Verbindung zum Kortex, der Großhirnrinde, jedoch unterbrochen – und wir können unser Verhalten nicht kraft unseres Denkens steuern, sondern handeln instinktiv. Zwischen Kortex, Broca-Areal und Hippocampus findet keine „Zusammenarbeit“ mehr statt, die Verbindung ist blockiert. Kampf oder Flucht ist nicht möglich – der Mensch friert emotional und mental ein, er erstarrt innerlich und sieht keine Handlungsoptionen mehr (Freeze). Ohnmacht ist in diesem Moment das bestimmende Gefühl. Es ist, als stelle sich der Körper tot, in der Hoffnung, dadurch sein Leben zu retten. Erinnerungen werden in einem Moment höchster Not nur in Bruchstücken – fragmentiert – abgespeichert: Gerüche, ein visueller Eindruck, eine Stimme, ein Wort, eine Farbe, aber unter Umständen keine zusammenhängenden Abläufe mehr (Fragment). Diese Reaktionen im Gehirn erklären auch, warum Opfer von Gewaltverbrechen häufig nicht chronologisch über das Tatgeschehen berichten können ▶ [67].

Merke

In traumatischen Stresssituationen bereitet sich der Körper in Sekundenbruchteilen auf eine Fight-or-flight-Reaktion vor. Ist weder Kampf noch Flucht möglich, reagiert das Gehirn mit Freeze and Fragment. Dieses Geschehen wird auch als Trauma-Zange bezeichnet.

4.1 Dissoziationen


Alltagsdissoziation Im eigentlichen Wortsinn bedeutet Dissoziation „Trennung“ oder „Abspaltung“. Uns allen ist dieses Phänomen sehr vertraut. So fahre ich beispielsweise fast jeden Tag den gleichen Weg zur Arbeit mit dem Auto. Auf dem Heimweg lasse ich den Tag gedanklich Revue passieren und überlege, was ich am Abend noch vorhabe. Was dabei um mich herum passiert, nehme ich zwar automatisch noch wahr, aber da mir das Autofahren und die Strecke vollständig vertraut sind, ist meine Aufmerksamkeit nur teilweise auf diese Vorgänge gerichtet. Gelegentlich passiert es mir daher, dass ich an der richtigen Ausfahrt vorbeifahre. Kinder sind oft so in ihr Spiel vertieft, dass sie nicht einmal wahrnehmen, wenn sie jemand anspricht. Während ich am Schreibtisch sitze und arbeite, konzentriere ich mich in erster Linie auf den Bildschirm meines Computers – und nehme nicht wahr, wer am Fenster vorbeiläuft oder was sonst um mich herum passiert. Diese Formen von Dissoziation sind nicht beängstigend und kein Grund zur Sorge. In der Tat assoziieren wir selten alles, was zusammengehört. Es gibt kaum einen Moment, in dem wir alle Körperempfindungen, Geräusche, Gefühle, Gedanken und Umwelteinflüsse gleichzeitig wahrnehmen, denn das würde uns überfordern. Die Fülle an Informationen, die damit verbunden sind, könnten wir nur schwerlich alle gleichzeitig verarbeiten. Deshalb selektieren wir danach, was uns wichtig erscheint und unsere Aufmerksamkeit bindet. Diese Form der Trennung bzw. Abspaltung von Wahrnehmung wird Alltagsdissoziation genannt. Im Gehirn passiert dabei im Prinzip das Gleiche wie bei der Aktivierung des in Kap. ▶ 4 beschriebenen Notfallmechanismus. Auch bei einer Dissoziation ist die Verbindung zwischen Großhirnrinde und Hippocampus unterbrochen.

Neben der Alltagsdissoziation gibt es auch verschiedene Formen von dissoziativen Störungen, die infolge eines traumatischen Ereignisses eintreten können ▶ [67],​ ▶ [100].

Dissoziative Amnesie Erinnerungen und Wissen sind nicht mehr willentlich zugänglich, es kann zu Lücken in der eigenen Biografie kommen. Die wenigsten Menschen erinnern sich an Ereignisse aus den ersten drei Lebensjahren, da die Gehirnentwicklung bis dahin noch nicht abgeschlossen ist. Fehlen jedoch aus der späteren Kindheit oder Adoleszenz ganze Episoden, obwohl physiologische Ursachen ausgeschlossen werden können, deutet das auf ein traumatisches Erlebnis hin.

Depersonalisierung In diesem Fall betrifft die Dissoziation die eigene Person. Betroffene fühlen sich von sich selbst entfremdet, sie haben das Gefühl, neben sich zu stehen und sich selbst zu beobachten. Es kann sein, dass sie dabei Teile ihres Körpers nicht mehr wahrnehmen und demzufolge auch keinen Schmerz an dieser Stelle spüren.

Derealisierung Diese Form der Abspaltung bezieht sich auf die Umgebung und andere Menschen. Selbst eine vertraute Umgebung oder bekannte Personen werden als fremd wahrgenommen, wie durch eine Nebelwand. Nicht jede Form der Derealisierung ist pathologisch. In stressigen Momenten blenden viele Menschen ihre Umgebung teilweise aus und wundern sich später, warum ihnen bestimmte Informationen fehlen.

Fugue Der Begriff leitet sich aus dem lateinischen Begriff „fugare“ (fliehen) ab und ist so zu verstehen: Menschen finden sich plötzlich an einem Ort wieder, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen sind und warum sie diesen Ort aufgesucht haben. Das passiert beispielsweise immer wieder nach Unfällen, wenn schwerverletzte Menschen sich vom Unfallort entfernen, ohne dabei Schmerzen zu empfinden. Fugue stellt eine Kombination von Derealisierung, Depersonalisierung und Amnesie dar.

Dissoziative Persönlichkeitsstörung Dabei handelt es sich um die schwerste Form einer dissoziativen Störung. Infolge von multiplen Traumatisierungen kann es passieren, dass die Persönlichkeit eines Menschen in viele Teile zersplittert und diese mehr oder weniger unabhängig voneinander existieren. Die verschiedenen Persönlichkeitsanteile übernehmen unterschiedliche Aufgaben im Alltag. Früher wurden davon betroffene Menschen als multiple Persönlichkeiten bezeichnet.

4.2 Flashback und Trigger


Ein Trigger ist ein Schlüsselreiz, der einen Flashback auslösen kann ▶ [67]. Trigger sind Reize, die im Unterbewusstsein mit einem Trauma verknüpft worden sind. Da das fragmentierte Stressgedächtnis leicht triggerbar ist, kommt es bei traumatisierten Menschen immer wieder zu einem Reiz-Reaktions-Schema, das Erinnerungen an das erlebte Trauma aktiviert.

Man kann sich das wie folgt vorstellen: Eine traumatische Situation wird auf...

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