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Vom Lumpenproletariat zur Unterschicht

Produktivistische Theorie und politische Praxis

AutorPeter Bescherer
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl267 Seiten
ISBN9783593420813
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis30,99 EUR
'Lumpenproletariat' ist ein schillernder Begriff - handelt es sich um eine analytische Kategorie oder um ein Stereotyp? Ausgehend von dieser Frage untersucht der Autor die Argumentationslinien, auf denen die kritische Gesellschaftstheorie subalterne Klassen verortet. Der marxschen Theorie, die das Lumpenproletariat als defizitär interpretiert, stellt er die subversive Theorietradition gegenüber, die das Potenzial der 'Nichtsnutze' (Robert Castel) für eine radikale Gesellschaftskritik hervorhebt. Der Vergleich führt zur Frage nach dem Gebrauchswert des Lumpenproletariat-Topos für die Debatte um 'neue Unterschicht' und 'Prekariat'.

Peter Bescherer, Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Jena.

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Leseprobe
1. Bausteine einer ?kritischen Theorie der Lumpen?: Problemstellung und Vorannahmen


'Man darf davon ausgehen, dass das kapitalistische System in Schwierigkeiten steckt, wenn wir anfangen, über Kapitalismus zu reden.' (Eagleton 2012: 11) Seit der Krise der Finanzmärkte im Jahr 2008, der sich anschließenden Krise der Realwirtschaft, schließlich des Euro, verbunden mit der durchdringenden Einsicht, dass es sich um eine ökonomische ebenso wie eine ökologische und soziale Krise handelt, sind Kapitalismustheorie und -kritik ins Zentrum der gesellschaftstheoretischen Debatte zurückgekehrt. Und auch wenn sein Name in Seminaren, Lesekreisen, Zeitungsspalten häufig genannt wird, ist es keinesfalls unnütz zu zeigen, Warum Marx recht hat, wie Terry Eagleton es im gleichnamigen Buch tut. Wer will, kann für das erklärungshungrige Publikum mit der marxschen Kapitalismustheorie die Krisenprozesse konsistent analysieren und ihre systemischen Hinter-gründe in einer historisch dennoch kontingenten Produktionsweise plausi-bel machen (vgl. etwa Altvater 2010; Heinrich 2010). Während Karl Marx beziehungsweise die Kritik der politischen Ökonomie bei der Erklärung von Makroprozessen einmal mehr zu ihrem Recht kommen, soll hier der Blick auf Entstehung und Ausdruck von Unzufriedenheit und Empörung am ?Boden? der kapitalistischen Gesellschaft geworfen werden: Wie erklärt die kritische Theorie der Gesellschaft das politische Handeln, das unpolitische Handeln oder auch das Nichthandeln derer ?ganz unten?, die erst vom neoliberalen Sozialabbau betroffen waren und nun die Umverteilung nach oben, zugunsten von Banken und Finanzmärkten, am ehesten zu spüren bekommen? Wenn - was naheliegt - Straßenschlachten und Plünderungen in den Zusammenhang von Krise, Prekarisierung und wachsender sozialer Ungleichheit gestellt werden, kommt die Frage auf, ob die marxsche Theorie auch bezüglich dieser Form von Krisenprotesten ihr Erklärungs- und Deutungspotenzial entfalten kann. Man muss nicht lang in den blauen Bänden suchen - selbst die Feuilletons wissen in solchen Fällen an den marxschen Begriff des Lumpenproletariats zu erinnern. So etwa in der Debatte über die Unruhen in London und anderen britischen Städten im August 2011 (wie schon 2005 über die Ausschreitungen in den französischen Banlieues und 2008 in Athen und anderswo in Griechenland).


Lumpenprotest?


Tatsächlich zeigen sich Parallelen in der Beurteilung von 'England's sum-mer of disorder' (The Guardian/LSE 2011) durch Medien, Politikerinnen und Intellektuelle einerseits und den Ausführungen bei Marx und Friedrich Engels über den 'Abhub aller Klassen' (MEW 8: 161) andererseits. Die britischen riots nahmen ihren Ausgang in den 'verkommenen Stadtteilen' (von Kittlitz 2011: 3), die geprägt sind von hoher Arbeitslosigkeit und niedrigem Lebensstandard, einer hohen Dichte an Sozialwohnungen und einer ausgedünnten Öffentlichkeit, die sich hauptsächlich um große Shoppingmalls zentriert. Vom Konsum fühlen sich die Bewohnerinnen ebenso ausgeschlossen wie in ihrer Misere politisch ignoriert: Nur die Hälfte der an den Unruhen Beteiligten betrachten sich als Teil der britischen Gesellschaft (vgl. The Guardian/LSE 2011: 25). Sozialstruktur und Verhaltensmuster der 'Abgehängten' seien Ergebnis 'materieller und geistiger Verarmung' (Luyken 2011). Ihren Lebensunterhalt bestreiten sie auf verschiedenste Art: Viele sind arbeitslos und auf staatliche Unterstützung angewiesen, andere informell oder unregelmäßig beschäftigt, in Straßenkriminalität oder Drogenökonomie verwickelt. Die soziale Desintegration mache ar-beitsunwillig und arbeitsunfähig: Die Jugendlichen in ihren Jogginganzügen seien vulgär, undiszipliniert und beruflich kaum qualifiziert, ihre Eltern seien verantwortungslos und abgestumpft - ökonomisch seien sie kaum zu gebrauchen (vgl. etwa Frankenberger 2011; Schümann 2011: 3). 'An-spruchsdenken und Bequemlichkeit' (Thomas 2011: 3) durchkreuzen jede Reintegrationsmaßnahme. Das Gesellschaftsbild der Unterschicht wird als 'zynisch und amoralisch' (Krönig 2011) beschrieben; arbeiterliche oder gewerkschaftliche Werte würden die so Adressierten nicht kennen. Ihre Proletarisierung ist gewissermaßen unvollständig, so der Moralphilosoph Raymond Geuss: 'Diese Jugendlichen haben sich einerseits die kapitalistische Erfolgsideologie angeeignet. Sie meinen, dass der Wert eines Menschen in dessen Besitz besteht. Andererseits aber fühlen sie sich aus dem kapitalistischen System ausgeschlossen.' (Geuss 2011) In den Unruhen, die ihre soziale Basis in diesem Milieu haben, mochte denn auch nicht nur Premierminister David Cameron keine Form von Sozialprotest, sondern lediglich 'pure Kriminalität' sehen, die von den 'kranken Teilen der Gesellschaft' ausgehe (Kolb 2011) - 'Kinder ohne Väter', 'Schulen ohne Disziplin', 'Gemeinden ohne Kontrolle' (o.V. 2011). Wo sonst Passivität und Verwahrlosung herrschen, stellen plündernde und Steine werfende Jugendliche - mehrheitlich Männer im Alter von 18 bis 23 Jahren - das einzige Mo-ment von Engagement und Aktivität dar. Politische Ambitionen, die Grundlage für ein Bündnis mit der Linken sein könnten, seien hier nicht zu finden, so Slavoj ?i?ek: 'Es handelt sich um enttäuschte Konsumenten, die einer perversen Form des Konsums, einem Karneval der Zerstörung, nachgehen. In viel schlechteren Situationen haben es Menschen geschafft, sich politisch zu organisieren, was hier vollkommen misslang.' (Thumfart 2011) Auf breiter Front wird Abscheu vor Nihilismus und selbstzerstörerischer Aggressivität geäußert. 'Die wahren Opfer sind die Communitys selbst', so der Soziologe Richard Sennett (2011). Diese Gefühlslage wird nur gebrochen durch die Anerkennung einer gewissen ?Geschicklichkeitsmentalität?, die in der Koordinierung per Blackberry Messenger ausgemacht wird, und vielleicht der klammheimlichen Ehrfurcht vor der Missachtung des Leistungsprinzips, die sich in die Empörung über geklaute Flachbildschirme schleicht. Unisono wird festgestellt, dass die Moral hinter den Aufständen ihre Entsprechung an den Spitzen der Gesellschaft finde: 'Diese Jugend hat sich die derzeit in England gültigen bürgerlichen Werte direkt aus den Elektronik- und Schnaps-Läden in ihre viktorianischen Reihenhäuser geholt und - ganz im Stile der Werte der britischen und internationalen Finanz- und Politikelite (Stichwort: Spesenskandal) - das Bezahlen für den angerichteten Schaden für unnötig gehalten.' (Kruschwitz 2011: 6)


Die Beschreibungen ähneln denen des Lumpenproletariats bei Marx und Engels (dazu im Einzelnen Kapitel 2.1). Diese 'Deklassierten des Proletariats' (MEW 18: 331) seien 'in allen großen Städten' (MEW 7: 26) zu finden, ihre hygienischen und moralischen Defizite augenfällig. Die Subsistenzformen des Lumpenproletariats seien äußerst verschieden; Marx bekommt sie nur als Typen zu fassen (Vagabunden, Gauner, Gaukler, Taschendiebe etc.), deren Gemeinsamkeit darin bestehe, dass sie keiner (regelmäßigen) Arbeit nachgehen und sich stattdessen 'flotte Tage machen' (MEW 7: 126) wollen. Die 'ungesunden und liederlichen Gelüste' des Lumpenproletariats findet Marx auch in der Finanzaristokratie, in der er 'nichts als die Wiedergeburt des Lumpenproletariats auf den Höhen der bürgerlichen Gesellschaft' (ebd.: 14f.) sieht. Auf der Straße kämpfen die 'jugendlich kräftigen, tollkühnen Männer' (ebd.: 26) nicht an der Seite des Proletariats, sondern fallen diesem in den Arm. Andererseits können auch Marx und Engels einen gewissen Respekt nicht verbergen: Die Lumpen seien 'der größten Heldentaten und der exaltiertesten Aufopferung fähig, wie der gemeinsten Banditenstreiche und der schmutzigsten Bestechlichkeit' (ebd.).

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
1. Bausteine einer ›kritischen Theorie der Lumpen‹: Problemstellung und Vorannahmen10
2. Die klassische Lumpenproletariat-These und ihre Kritik: Marx, Engels und die sozialistischen Alternativen27
2.1 Marx und Engels im Hader mit den Alchemisten der Revolution30
2.2 Anarchismus und Frühsozialismus: Eine alternative sozialrevolutionäre Linie65
2.3 Marx und die Sozialismen des 19. Jahrhunderts: Für und Wider das Lumpenproletariat92
3. Die Verlumpung der Kultur? Unterschichten bei Horkheimer und Adorno, Marcuse und Benjamin98
3.1 Horkheimer und Adorno: Kapitalismustheorie ohne Klassenanalyse101
3.2 Marcuse und Benjamin: Rebellische Subjektivität jenseits der Leistungsgesellschaft131
4. Neo-Durkheimianer und (Post-)Operaisten: Zwischen Einheit und Differenz der Mosaik-Linken167
4.1 Die Prekarisierungsforschung: Identität durch Arbeit und Anomie durch Nutzlosigkeit168
4.2 Operaismus und Postoperaismus: Kampf gegen die Arbeit im Wandel der Klassenzusammensetzung201
4.3 Wiederkehr der Pöbelexzesse oder Inklusivität der Multitude?230
5. Statt Alchemie: Ein Fazit235
6. Literatur248

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