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E-Book

Waldheim und die Folgen

Der parteipolitische Umgang mit dem Nationalsozialismus in Österreich

AutorCornelius Lehnguth
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl529 Seiten
ISBN9783593419817
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis46,99 EUR
1986 wurde Österreich vom Skandal um die Verstrickungen des damals neu gewählten Bundespräsidenten Kurt Waldheim in den Nationalsozialismus erschüttert. Bis dahin hatten die führenden Politiker der Zweiten Republik eine Mitverantwortung für Holocaust und Kriegsgräuel zurückgewiesen und damit seit den 1950er-Jahren weitergehende Entschädigungsansprüche der Opfer zurückgewiesen. Infolge internationaler Kritik und inländischer Proteste begann jedoch durch die »Waldheim-Affäre« eine bis heute andauernde Auseinandersetzung um die Neubewertung der NS-Vergangenheit Österreichs. Cornelius Lehnguth untersucht in dieser ersten Gesamtdarstellung der politischen Kontroversen der »Waldheim-Debatte« die konkurrierenden, oftmals generationsbedingten Erzähl- und Handlungsmuster der im Nationalrat vertretenenen Parteien; zugleich analysiert er die Vergangenheitspolitik der beteiligten Akteure, die er in zahlreichen Interviews für seine Studie befragt hat.

Cornelius Lehnguth, Dr. rer. pol., studierte in Leipzig Politik- und Kulturwissenschaften und verbrachte für seine Promotion in den Jahren 2007/2008 zwei längere Studienaufenthalte in Wien. Er ist derzeit als Hochschulreferent an der Universität Frankfurt tätig.

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Leseprobe
1.Forschungsinteresse

Die parteipolitische Auseinandersetzung um die österreichische NS-Vergangenheit nach 1986 begann mit der 'Waldheim-Affäre'. Diese Affäre um die NS- und Kriegsvergangenheit des damaligen Bundespräsidenten Kurt Waldheim trug eruptionsartig dazu bei, dass eine Vielzahl von unterschiedlichen, mitunter konkurrierenden Narrativen über die NS-Vergangenheit zum Vorschein kam, die bis dahin von der 'Opferthese' als hegemonialem Meisternarrativ weitgehend verdeckt worden waren. Die Zweite Republik hatte sich nämlich seit ihrer Gründung 1945 erfolgreich auf den Standpunkt zurückgezogen, dass es sich 1938 bei dem von vielen Österreichern begeistert begrüßten 'Anschluss' ausschließlich um eine von außen erzwungene Okkupation gehandelt und deshalb Österreich weder eine moralische noch eine materielle Mitverantwortung für Nationalsozialismus und Holocaust zu tragen habe. Dieser Interpretation lag die Moskauer Deklaration der Alliierten aus dem Jahr 1943 als 'Magna Charta' zugrunde, die Österreich als das 'erste Opfer der Hitlerschen Aggression' bezeichnet hatte. Diese Sichtweise blieb zunächst auf die Außenpolitik - zur Abwehr finanzieller Verpflichtungen - beschränkt, erfuhr aber aufgrund ihres Entlastungscharakters schon bald eine 'innenpolitische Verselbständigung'. Die vielfach kodifizierte Verwendung des Opferbegriffs führte zu einer gesamtgesellschaftlichen Übernahme des Opferstatus, wodurch tatsächliche NS-Opfer sukzessive in den Hintergrund gedrängt wurden. Dadurch konnten sowohl auf der politischen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene Voraussetzungen, Verlauf und Konsequenzen des Nationalsozialismus externalisiert werden, gehörten sie doch angeblich nur in die Geschichte Deutschlands, nicht auch in diejenige Österreichs.

Die Waldheim-Affäre beendete nun die mit der Opferthese einhergehende Amnesie. Der 'Eiszeit der Erinnerung' folgte eine geschichtspolitische Neuorientierung, die auf eine differenziertere Bewertung der österreichischen NS-Vergangenheit abzielte. Vergangenheitspolitische Maßnahmen, die die Defizite auf dem Entschädigungs- und Restitutionssektor beheben sollten, setzten ein. Dieser Vorgang verlief jedoch weder konsensual noch linear, sondern führte zu zahlreichen heftigen Kontroversen und gegenläufigen Entwicklungen. Entscheidend an diesem Prozess beteiligt waren die im Nationalrat vertretenen Parteien, weshalb sie der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit sind. Vor dem Hintergrund der Waldheim-Debatte und des geschichtspolitischen Neuorientierungsprozesses werden die konkurrierenden Erzähl- und Handlungsmuster der Parteien im Geflecht der modifizierten Geschichts- und Vergangenheitspolitik herausgearbeitet und analysiert. Damit verbunden wird die Analyse generationsspezifischer Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Handlungsmuster der (in der Regel männlichen) politischen Akteure.

Die Beschreibung und Analyse der wichtigsten geschichts- und vergangenheitspolitischen Debatten und Handlungsfelder, zu denen neben Entschädigung, Restitution und Rehabilitierung von NS-Opfern auch die staatliche Inszenierung von Gedenkjahren sowie die geschichtspolitisch relevanten Denkmals-, Museums- und Ausstellungsdebatten gehören, zielt auf eine rekonstruktive Interpretation von Prozessen des (Um-)Schreibens von Geschichte. Dieser Beitrag zur Gedächtnisgeschichte Österreichs in der Post-Waldheim-Ära soll durch die Zusammenführung von alten und neuen Quellen sowie durch einen neuen methodischen Blickwinkel die jeweiligen politischen und historiografischen Konstruktionsprozesse erhellen helfen.

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Einleitung12
1. Forschungsinteresse12
2. Nationalsozialismus und Gedächtnis als Forschungsgegenstand14
3. Theoretische und methodische Zugänge: Gedächtnis und Generation20
3.1. Gedächtnis, Narrativ und Geschichtspolitik20
3.2. Generation und Situationsdeutung24
3.3. Politische Generationen in Österreich28
4. Fragestellungen und Hypothesen54
5. Methodik, Quellen und Aufbau der Arbeit56
Österreichische Gedächtnisgeschichte und Vergangenheitspolitik 1945–198659
1. Nationalsozialismus und Gedächtnisgeschichte59
1.1. Die »Moskauer Deklaration« als »Magna Charta« der Zweiten Republik59
1.2. Die innenpolitische Verselbständigung der Opferthese63
1.3. Opferthese und Kriegsdienst65
1.4. Der antifaschistische Rekurs auf die Opferthese ab Mitte der 1960er Jahre67
2. Nationalsozialismus und Vergangenheitspolitik69
2.1. Entnazifizierung und Amnestie69
2.2. »Wiedergutmachung«71
2.3. Exkurs Kunstrückgabe75
3. Nationalsozialismus und die österreichischen Parteien78
3.1. Nationalsozialismus, Antisemitismus, Entnazifizierung und »Wiedergutmachung« im Spiegel der Gründungsparteien ÖVP, SPÖ und KPÖ78
3.2. Die Formierung des »nationalen« Lagers85
3.3. Die innerparteiliche Integration ehemaliger Nationalsozialisten87
4. Zusammenfassung: Die Externalisierung des Nationalsozialismus und die Parteien90
Aufbruch und Beharrung 1986–198892
1. Die Waldheim-Affäre und ihre geschichtspolitischen Auswirkungen93
1.1. Die Waldheim-Affäre93
1.2. Waldheim und die Opferthese – Geschichtspolitische Positionen der Parteien112
1.3. Die Watch-List-Debatte 1987127
1.4. Exkurs: Der »Republikanische Club Neues Österreich« und das zivilgesellschaftliche Engagement der Intellektuellen136
2. Das Gedenkjahr 1988153
2.1. Das Gedenken der staatlichen Repräsentanten155
2.2. Das Gedenken der parteipolitischen Akteure160
2.3. Das Ehrengaben- und Hilfsfondsgesetz 1988173
3. Kulturpolitische »Stellvertreterkriege«179
3.1. Die Kontroverse um das »Mahnmal gegen Krieg und Faschismus«180
3.2. Die Kontroverse um »Heldenplatz«192
4. Zusammenfassung: Aufbruch und Beharrung201
Von der Opferthese zum offiziellen Bekenntnis zur Mitverantwortung206
1. Vranitzkys Bekenntnis zur Mitverantwortung 1991 und die Reaktionen der Parteien und der Öffentlichkeit207
1.1. Drei Dimensionen des Mitverantwortungsbekenntnisses212
1.2. Das Mitverantwortungsbekenntnis in der Retrospektive der politischen Akteuren227
2. Die Wiederannäherung – Die Erklärungen von Vranitzky und Klestil in Israel232
3. Das Gedenkjahr 1995238
4. Zusammenfassung247
Vergangenheitspolitische Konsequenzen der Mitverantwortung und geschichtspolitische Gegenläufigkeiten seit den 1990er Jahren250
Materielle Konsequenzen: Die Parteien und die »Wiedergutmachung«250
1. Zwischen Opfer- und Mitverantwortungsthese: Die Parteien und die »Wiedergutmachung« 1988–1995251
1.1. Der Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus255
1.2. Die Errichtung des Nationalfonds in der Retrospektive der politischen Akteure269
2. Die »Holocaust Era Assets«-Debatte in Österreich274
2.1. Die Internationalisierung der Auseinandersetzung um Entschädigung und Restitution274
2.2. Erste Maßnahmen in Österreich – Kunstrückgabegesetz und Historikerkommission278
2.3. Zwangsarbeiterfonds und Allgemeiner Entschädigungsfonds288
2.4. Exkurs: Waldheim remixed – Die ÖVP/FPÖ-Regierung und die »EU-Sanktionen«305
2.5. Die Errichtung des Versöhnungs- und Allgemeinen Entschädigungsfonds in der Retrospektive der politischen Akteure311
2.6. »Causa Leopold«, die »goldene Adele« und die Novellierung des Kunstrückgabegesetzes315
3. Die Rehabilitierung der Deserteure325
4. Zusammenfassung: Die Parteien und die »Wiedergutmachung«341
Ambivalente Erinnerung: Die Parteien und die Erinnerungskultur345
1. Denkmal- und Ausstellungskontroversen345
1.1. Wehrmachtslegende und Opferthese – Die Kontroversen um das Stalingrad-Denkmal und die Wehrmachtsausstellung(en)345
1.2. Die Kontroverse um das Holocaust-Denkmal378
1.3. Die Kontroverse um das »Haus der Toleranz«/»Haus der Geschichte«399
2. »Offizielles« Gedenken und Geschichtspolitik im narrativen Spannungsfeld internationaler, staatlicher und innerparteilicher Anforderungen422
2.1. Von der »Kosmopolitisierung« zur (supra-)staatlichen Institutionalisierung des Holocaust-Gedenkens422
2.2. Das »Gedankenjahr« 2005 und der geschichtspolitische Rollback428
2.3. Das Gedenkjahr 2008 und die Forcierung des Mitverantwortungsnarrativs442
2.4. Der Fall »Heinrich Gross«, die SPÖ und die innerparteiliche Geschichtspolitik446
3. Zusammenfassung: Die Parteien und die Erinnerungskultur458
Fazit462
Dank473
Anhang474
1. Quellen474
1.1. Archive474
1.2. Periodika und Presseagenturen474
1.3. Reden und Dokumente476
1.4. Interviews durch den Verfasser483
1.5. Internet484
2. Literatur485
3. Personenregister523

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