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Wer hat den schlechtesten Sex?

Eine literarische Stellensuche

AutorRainer Moritz
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783641133108
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Eine einzigartige Geschichte von Wahnsinns-Höhepunkten in der Literatur - zum Totlachen, fremdschämen, Mitzittern und Genießen
Die schönste Sache der Welt. Die Glücklichen unter uns kommen hin und wieder in ihren Genuss, die meisten aber haben Probleme mit dem Kommen, dem Nicht-Können, dem zu heftigen Wollen. Die größten Probleme jedoch haben Schriftsteller, denn die richtigen Worte für die körperliche Liebe zu finden: das ist eine Kunst.

Früher ging es in der Literatur meist züchtig zu und der Geschlechtsakt wurde mit einem »Am nächsten Morgen« dezent übersprungen, aber ein Gegenwartsroman scheint ohne Fellatio und Cunnilingus kaum mehr vorstellbar zu sein. Rainer Moritz begibt sich auf Stellensuche - vor allem in der deutschsprachigen Literatur der vergangenen Jahrzehnte. Es geht um peinliche Verrenkungen, tierische Vergleiche, um das Non-Verbale, um die »Angstblüten« des Alterssex und um Spielarten, die die Generation seiner Eltern nicht dem Sexualleben Mitteleuropas zugeordnet hätte. Stöhnend kommen u. a. Elfriede Jelinek, Clemens J. Setz, Peter Härtling, Sibylle Berg, Martin Walser, Michael Kleeberg, Andreas Altmann und Karen Duve zu Wort. Keine Frage, dieses an- und aufregende Buch ist eine Stellenbeschreibung der besonderen Art.

Rainer Moritz, 1958 in Heilbronn geboren, leitet das Literaturhaus Hamburg. Er ist Literaturkritiker und Autor zahlreicher Publikationen, darunter zuletzt 'Der fatale Glaube an das Glück. Richard Yates - sein Leben, sein Werk' (DVA 2012), der Roman 'Mutter kommt, wir halten durch' (2014) und 'Dicht am Paradies. Spaziergänge durch Pariser Parks und Gärten' (2014). Seit er als Jugendlicher Hermann Hesses 'Narziss und Goldmund' durchforstete, ist er an erotisch eindeutiger Literatur interessiert.

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Leseprobe

Mit Hesse im Heuschober
SEX, PERSÖNLICH

Vor der Praxis steht meist die Theorie, vor der Erfüllung die Neugier, die Sehnsucht, die Erwartung. Wenn es um Sex geht, kommen die wenigsten gleich zur Sache. Wenn es um Sex geht und wenn man wie ich in den 1960er- und 1970er-Jahren in der nordwürttembergischen Provinz aufgewachsen ist – also in einer Region, die von den sexuellen Revolutionen und den Umtrieben studentischer Kommunen nicht zentral berührt war –, dann ergeben sich Probleme, wenn man danach strebt, erwachende erotische Begierden umstandslos umzusetzen.

Über Petting (so sagte man damals), Geschlechtsverkehr und andere Dinge, die einen Pubertierenden stärker als Vektorrechnung oder Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche interessieren, wurde in meinem bürgerlich soliden Elternhaus nicht gesprochen, und ich bin mir sicher, mit solchen Erfahrungen der Themenumgehung nicht allein dazustehen. Die Freizügigkeit, die bald den streng gehüteten, wenn auch selten offen angesprochenen Sittenkodex einer guten, anständigen deutschen Familie erschütterte, brauchte eine Weile, bis sie nach Heilbronn am Neckar kam. Ich hatte davon nichts mehr und musste mich anderweitig behelfen. Denn auch von den Eltern war keine Hilfestellung zu erwarten. Wurde ich jemals im Gespräch »aufgeklärt«? Von meinem Vater, der Heikles gern delegierte, sicher nicht, und meine pragmatische Mutter setzte darauf, dass mir die Schule und der Sportverein en passant die nötigen Basisinformationen lieferten, suchte lieber Unterstützung im Schriftlichen und schob mir irgendwann ein Büchlein über den Tisch, das mir frühes Anschauungsmaterial zum Themenfeld »Literatur & Sex« lieferte.

Lies das mal, sagte Mutter. Und wenn du Fragen hast, frag nur. Woher kommen die kleinen Buben und Mädchen?, hieß das schmale, typografisch schlicht aufgemachte Werk, geschrieben von einem Kurt Seelmann, der Erziehungsberater und Psychotherapeut war. So also begann die elterliche Einweisung, ich hatte darauf gewartet, und diese distanzierte Form erschien mir angenehmer, als wenn sich Vater oder Mutter mit mir an den Tisch gesetzt und über Fortpflanzung gesprochen hätten. Herr Seelmann jedoch war mir in seiner Onkelhaftigkeit nicht angenehm. Sein Duzen und seine Anrede »Meine junge Leserin! Mein junger Leser« gingen mir auf die Nerven. Fotos gab es in seinem Buch keine, stattdessen dezent gehaltene (Ali-Mitgutsch-)Zeichnungen von Kleinkindern, stillenden Müttern und Unterleibsanordnungen. Und von Blüten, die befruchtet wurden. Es dauerte ewig, bis Kurt Seelmann Fahrt aufnahm. Offensichtlich meinte er, ausschweifend über alles sprechen zu müssen, über Höflichkeit gegenüber den Eltern, Reifezeit, Körpergrößen, bis er zur Sache kam. Oder doch nicht, denn die entscheidende Frage, wie man es miteinander machte, beantwortete er auf Umwegen. Als er sich im vorletzten Kapitel dem Akt näherte, klang das wie eine Gebrauchsanweisung und strahlte kaum mehr Sinnlichkeit als eine Bonanza-Folge aus: »Wenn Vater und Mutter ein Kind zeugen wollen, dann wird das Glied steif und dringt in die Scheide ein. Die Hoden geben ihre Samenfäden ab und schicken sie auf den Weg.«

Dieser Seelmann war der Ansicht, dass nur bei verheirateten Paaren Sex vorkommen sollte, was Männern schwerer falle, denn deren Geschlechtstrieb sei drängender und heftiger. Ich legte das Buch rasch zur Seite. In einem halben Jahr, sagte Erziehungsberater Seelmann, möge ich es nochmals zur Hand nehmen. Das würde ich mit Gewinn tun.

Diesem Rat folgte ich selbstverständlich nicht, und mit Kurt Seelmanns Aufklärungsbestseller, der schon 1968 in der 14. Auflage (386.–496. Tausend) vorlag, hatte ich ein erstes Beispiel in Händen, das mir zeigte, wir mühsam es ist, sexuelle Vorgänge sprachlich wiederzugeben. Vielleicht tat ich Kurt Seelmann (1900–1987) sogar Unrecht, denn der umtriebige Münchner Jugendpsychologe war damals – so ein Artikel Peter Brügges im Spiegel von 1968 – ein gern gesehener Gast, wenn es galt, der unterentwickelten Sexualaufklärungskompetenz der Deutschen auf die Sprünge zu helfen: »Als einer der wenigen Stegreifredner, die vor Deutschen aller Altersstufen behaglich über Lust und Liebe referieren können, hat Seelmann in weniger als fünf Jahren tausend Vorträge gehalten. Von der Humanistischen Union, die in München Jugendliche unter Ausschluss Erwachsener zum Preise von 4,50 Mark restlos aufklärt, wird dieser krampflösende Senior ebenso um Mitwirkung gebeten wie von bayerischen Landfrauen, von denen er einen ganzen Bierkeller voll in die Geschlechtserziehung einführte.«

Kurt Seelmann & Co. also konnten mir nicht weiterhelfen, Vater, Mutter, Schwester und Bruder auch nicht, und so blieb allein die Möglichkeit, andernorts auf Spuren- und Stellensuche zu gehen. In den Bravo-Heften zum Beispiel, die mir Frau Müller vom Schreibwarenladen an der Schule zum Lesen gab, wenn ich bei ihr eine Cola trank und einen Fleischsalatlaugenweck aß. Oder in der Stadtbücherei etwa, deren Angestellte – Frauen in farblosen Kleidern mit praktischen Kurzhaarfrisuren – sich alle ähnlich sahen. Manche setzten strenge Mienen auf, wenn man die Bücher zu spät zurückbrachte, Seiten umgeknickt oder sich etwas angestrichen hatte. Argwöhnisch gingen sie durch die Regalreihen, befürchteten, dass man die Bücher, städtisches Eigentum immerhin, nicht sorgsam genug behandelte. Ich hielt die Augen auf, wenn ich mir einen Lexikonband herausgriff und mich an einen der hinteren Tische zurückzog. Keiner sollte merken, wie ich nachschlug, was ich zu Hause, im kleinen Brockhaus, nicht fand. Wie das mit dem anderen Geschlecht war. Wo und wie man alles einzuführen hatte. Sehr aussagekräftig und fotoreich waren die Nachschlagewerke in der Stadtbücherei nicht, es handelte sich meist um seriöse Lexika.

Leichter war es, sich literarisch zu tarnen, Hinweisen zu folgen, die ich aufschnappte, und so trug ich Daniel Defoes 1722 erschienenen Prostituiertenroman Moll Flanders nach Hause und durchsuchte ihn nach »Stellen« – ein unverfängliches Verfahren, denn einen in der seriösen Hanser-Ausgabe seriös anmutenden Roman mit einem Titel, der klang wie Effi Briest oder Anna Karenina, den konnte man, ohne Verdacht zu erregen, sogar zu Hause auf dem Wohnzimmertisch liegen lassen.

Sich auf diese Weise erotisch prickelnde Prosa zusammenzusuchen ist ein – keineswegs nur unter jungen Menschen – weit verbreitetes Phänomen und beschränkt sich nicht auf die Sozialisation in der Bundesrepublik der 1970er-Jahre. Auch in Südostbulgarien ging es früher wie in Heilbronn zu. Georgi Gospodinov, Jahrgang 1968, erzählt davon in seinem Roman Physik der Schwermut (2014). Sein autobiografisch grundierter Held greift nicht auf Kurt Seelmann zurück, sondern auf Siegfried Schnabl und dessen unter anderem im Ost-Berliner VEB Verlag Volk und Gesundheit erschienenes Werk Mann und Frau intim. Fragen des gesunden und des gestörten Geschlechtslebens (zuerst 1969): »Wir lasen es heimlich. Es war gleichzeitig ein praktisches Handbuch, intimer Arzt und erotische Literatur.« Zur eigentlichen sexuellen Initialzündung für Gospodinovs Protagonisten und zur »Taufe einer ganzen Generation« wird indes Mario Puzos Der Pate (1969). Dessen »mythische Seite 28« wird sorgsam mit der Hand abgeschrieben und wirkt als »Offenbarung«:

»Als sie jetzt die Treppe emporeilte, durchfuhr die Begierde ihren Körper wie ein gewaltiger Blitz. Oben nahm Sonny sie bei der Hand und zog sie über den Flur bis zu einem leeren Schlafzimmer. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, wurden ihr die Knie weich. Sie fühlte Sonnys Mund auf dem ihren, den bitteren Geschmack nach verbranntem Tabak auf den Lippen. Sie öffnete ihren Mund. In diesem Augenblick merkte sie, wie seine Hand unter ihrem langen Kleid nach oben glitt, hörte das Rascheln des Stoffes, fühlte, wie seine große, warme Hand zwischen ihren Beinen das Seidenhöschen beiseite schob und sie streichelte. Sie legte ihm die Arme um den Hals und hängte sich an ihn, während er seine Hose öffnete. Dann legte er ihr beide Hände unter das nackte Hinterteil und hob sie hoch. Sie machte einen kleinen Hopser, so dass ihre Beine sich um seine Oberschenkel schlingen konnten. Seine Zunge war in ihrem Mund, und sie saugte an ihr. Er stieß mit wilder Begierde zu, so kräftig, dass ihr Kopf gegen die Türfüllung schlug. Sie spürte etwas brennend Heißes zwischen den Schenkeln, löste die rechte Hand von seinem Hals und griff hinunter, um ihn zu führen. Ihre Hand schloss sich um eine ungeheure, blutgeschwollene Muskelmasse, die in ihren Fingern pulste wie ein Tier. Fast weinend vor dankbarer Ekstase lenkte sie ihn.«

So anregend Puzos Türschwellennummer auf die bulgarische Jugend wirkte, so offensichtlich ist, dass die Beschreibung von Sex bei Lesern eine gewisse Nachdenklichkeit hervorzurufen vermag, ja, möglicherweise hemmenden Leistungsdruck nach sich zieht. Georgi Gospodinovs Held kommt prompt ins Grübeln: »Sex schien eine komplizierte akrobatische Nummer zu sein, es wurde gesprungen, gefangen, hochgehoben, gestoßen, die eine Hand, die Zunge, die andere … Ich würde es nie lernen.«

So heftig wie in Puzos Mafiosiroman, wo Frauenschädel gegen Türpfosten knallen, ging es in meinen ersten Begegnungen mit erotisch geprägter Weltliteratur nicht zu. Angeleitet durch die Lektüre von Hermann Hesses...

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