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E-Book

Wirtschaftsprognosen

Eine Soziologie des Wissens über die ökonomische Zukunft

AutorWerner Reichmann
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl333 Seiten
ISBN9783593438634
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis35,99 EUR
Wie entstehen Wirtschaftsprognosen? Wie werden sie visualisiert und kommuniziert? Welche Rolle spielen Wirtschaftsprognosen für den Staat, auf Märkten und für die Gesellschaft insgesamt? Diesen Fragen geht Werner Reichmann in seinem Buch nach. Er liefert soziologische Interpretationen und Erklärungen zu den Möglichkeiten und Grenzen der wissenschaftlichen Produktion des Wissens über die Zukunft der Wirtschaft. Seine Ergebnisse fußen auf langjähriger empirischer Arbeit in Wirtschaftsprognoseinstituten in Deutschland und Österreich. Sie zeigen die Praktiken und Routinen jener Ökonomen, die mit der Herstellung von wissenschaftlichem Wissen über die wirtschaftliche Zukunft direkt befasst sind.

Werner Reichmann ist Privatdozent an der Universität Konstanz.

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Leseprobe
Danksagung Das vorliegende Buch basiert auf circa 15-jähriger Forschungsarbeit. Ich möchte mich bei allen, die mir auf zahlreichen Konferenzen, in Kolloquien, Workshops und in persönlichen Gesprächen mit ihren Ideen, Vorschlägen und Kritik bei meiner Arbeit geholfen haben, bedanken. Namentlich gilt mein Dank im Besonderen Karin Knorr Cetina, Jens Beckert, Mary Morgan, Nico Stehr, Thomas Scheffer, Alex Preda, Stefan Beljean, Christian Dayé, Christian Fleck, Götz Hoeppe, Stefan Laube, Anna-Lisa Müller, Julia Sacher, Carsten Schwede, Leon Wansleben und Niklas Woermann. Über den genannten Zeitraum haben mich verschiedene Institutionen tat- und finanzkräftig unterstützt, denen ich ebenfalls meinen Dank aussprechen möchte: Einige der Interviews für das vorliegende Buch wurden im Rahmen eines vom FWF geförderten Projekts (Nr.: P16999) sowie während meiner Anstellungen an den Soziologie-Instituten der Universitäten in Graz, Innsbruck und Konstanz durchgeführt. Zwei Interviewreisen wurden durch die finanzielle Unterstützung des Exzellenzclusters EXC 16 'Kulturelle Grundlagen der Integration' der Universität Konstanz ermöglicht. Mein Aufenthalt als PostDoc-Fellow am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln hat die Arbeit durch viel Freiraum und eine tolle Bibliothek nicht nur wesentlich erleichtert, sondern meiner Arbeit zudem inhaltlich einen wirtschaftssoziologischen Dreh gegeben. Die Arbeit wurde während meiner Projektmitarbeit in dem von der DFG geförderten Projekt 'Skopische Medien: Synthetische Akteure, Institutionen und Ausdifferenzierung synthetischer Situationen' (KN 233/34-2 und KN 233/34-3) fertiggestellt. Mein besonderer Dank gilt in diesem Zusammenhang der Projektleiterin Karin Knorr Cetina, die mich auch in der finalen Phase der Arbeit an diesem Buch unterstützt hat. Mein größter Dank gilt aber den Wirtschaftsprognostikern, Ökonomen und Wirtschaftspolitikern, die mir stets mit großem Interesse und Offenheit begegnet sind, trotz meiner vielen Fragen nie ihre gute Laune verloren haben, die mir Einblicke in ihr Denken und Arbeiten gewährt haben und mir (meistens) am Ende in der Kantine auch noch das Mittagessen bezahlten. Der Abdruck des Gedichts 'Zukunftsforscher' (zuerst erschienen in Droste, Wiglaf. 1989. Kommunikaze. Berlin: a-verbal Verlag) erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors Wiglaf Droste wofür ich ihm meinen herzlichen Dank aussprechen möchte. Dieser ist mit der Hoffnung auf viele weitere schöne Gedichte und Geschichten verbunden, auf die ich mich schon sehr freue! Die Wiederabdrucke der Schaubilder in Abbildung 6 und 7 erfolgen mit freundlicher Genehmigung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Wiesbaden) sowie der KOF Konjunkturforschungsstelle (Zürich). Für die Genehmigung zum Wiederabdruck eines Faksimile (Abbildung 8) danke ich der Kleinen Zeitung (Graz). Die Screenshots aus den Pressekonferenzen wurden mit freundlicher Genehmigung des Fernsehsenders Phoenix (Bonn) und der Geschäftsstelle der Bundespressekonferenz (Berlin) abgedruckt. Zu guter Letzt möchte ich dem Team des Campus Verlags an dieser Stelle meinen herzlichen Dank für die vorbildlich gute Zusammenarbeit bei der Publikation des vorliegenden Buches aussprechen. Teile der Ergebnisse, die ich im Folgenden vorstelle, entstanden aus früheren Diskussionen und Arbeiten, die an anderer Stelle in vorläufigerer Form erschienen sind (v.a. Reichmann 2013a, 2013b, 2015a, 2015b). Werner Reichmann Verden (Aller), im Dezember 2017 Einleitung: Ein wissenschaftssoziologischer Zugriff auf die Wirtschaftsprognostik Dieses Buch handelt von wissenschaftlichen Wirtschaftsprognosen, von ihrer Herstellung, ihrer Verbreitung und der Rolle, die sie in modernen Gesellschaften spielen. Es wirft einen soziologischen Blick auf eine spezifische Form von öffentlich formulierten Erwartungen, nämlich auf von Wissenschaftlern hergestellte Prognosen über die wirtschaftliche Zukunft. Es analysiert die Grundlagen, die Herstellung, die visuellen und textlichen Formen, dem Glauben an sowie der Verteilung von wissenschaftlich hergestelltem Wissen über die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung. Auf die Zukunft haben wir, soweit bekannt, keinen empirischen Zugriff. Es existieren (noch) keine Apparate, Methoden oder experimentelle Forschungsdesigns, die einen empirischen Blick in die Zukunft ermöglichen. Menschen können die Zukunft nicht sinnlich erfahren - und sie können nichts über sie wissen: Die Zukunft ist grundsätzlich offen. Trotzdem wird sie thematisiert und gewusst - in massenmedialen Darstellungen, in politischen Reden, in alltäglichen Gesprächen und in wissenschaftlichen Aussagen. Eine Soziologie der Wirtschaftsprognostik erhält gesellschaftliche Rele-vanz einerseits durch die regelmäßige Verwendung von Wirtschaftsprognosen in Politik und Wirtschaft und die Tatsache, dass wirtschaftsprognostisches Wissen beinahe jeden Menschen auf die eine oder andere Weise zumindest mittelbar betrifft. Relevanz für die soziologische Forschung erhält eine Soziologie der Wirtschaftsprognostik vor allem, weil sie eine entscheidende Erweiterung des wissenschaftssoziologischen Kenntnisstandes bedeutet. Während Wissenschaftssoziologie in der Regel Naturwissenschaftssoziologie bedeutet, analysiere ich in diesem Buch ein wirtschaftswissenschaftliches Feld (im Bourdieu'schen (1999) Sinn) aus einer wissenschaftssoziologischen Perspektive; ein Feld, das eine spezifische Form von hochgradig unsicherem Wissen erzeugt - Wissen über die Zukunft. Die Wirtschaftsprognostik steht, wenn sie eine Prognose machen will, vor einem ganzen Bündel an Problemen, vor dem viele andere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, vor allem jene aus den naturwissenschaftlichen Disziplinen, nicht stehen. Ihrem Erkenntnisgegenstand sind keine fixen Mechanismen und Gesetze inhärent. Sie muss, obwohl sie weiß, dass ihr Erkenntnisgegenstand sehr veränderlich, reflexiv und manchmal irrational ist, davon ausgehen, dass mindestens eine graduelle Symmetrie zwischen der Vergangenheit und der Zukunft existiert damit sie von Vergangenem auf Zukünftiges schließen kann. Sie beschäftigt sich zudem mit einer speziellen Form des Wissens, nämlich mit Wissen über die Zukunft, das als besonders unsicher gilt und das daher besonderer Vorkehrungen für die Aufrechterhaltung der Glaubwürdigkeit und Legitimität bedarf. Dazu kommt, dass die Wirtschaftsprognostik unter besonderer Beobachtung steht. Das von ihr produzierte Wissen ist politisch relevant und wird in der massenmedial hergestellten Öffentlichkeit intensiv rezipiert und diskutiert. Auch das Paradoxon, dass die Wirtschaftsprognostik zwar institutionell und methodisch der empirischen Wirtschaftsforschung nahesteht, gleichzeitig aber über einen Erkenntnisgegenstand verfügt, der empirisch nicht zugänglich ist, zeigt eine weitere spezifische Problematik der Wirtschaftsprognostik. Bereits diese unvollständige Liste von Besonderheiten, die die Wirtschaftsprognostik von naturwissenschaftlichen Feldern und Disziplinen abgrenzt, zeigt die Relevanz einer wissenschaftssoziologischen Annäherung an die Wirtschaftsprognostik. In diesem einleitenden Kapitel beschäftige ich mich zunächst mit dem wissenschaftssoziologischen Rahmen der in diesem Buch zur Anwendung kommt. Anschließend arbeite ich drei soziologische Begriffe heraus, die im Laufe des Buches immer wieder auftauchen und zu denen es Neues beiträgt. Anschließend stecke ich das Feld der Wirtschaftsprognostik, von dem in diesem Buch die Rede ist, genau ab und beschreibe zum Schluss des Kapitels die Daten, die ich in diesem Feld erhoben habe. Der wissenschaftssoziologische Rahmen Der theoretische Rahmen dieses Buches ist die Wissenschaftssoziologie bzw. vor allem jener wissenschaftssoziologische Ansatz, der auf Englisch als Social Studies of Science bezeichnet wird. Eine Ausnahme davon ist in Kapitel 8 zu finden, in dem ich einen interessierten Ausflug in die Wirtschaftssoziologie unternehme. Ich gehe in diesem Buch davon aus, dass wissenschaftliche Produktions- und Rechtfertigungsstrategien auch sozial bedingt sind. Damit steht dieses Buch in einer wissenschaftsphilosophischen Tradition, die es ablehnt, wissenschaftliches Wissen als Ergebnis eines ausschließlich auf Rationalität basierenden Prozess zu sehen, und, die wissenschaftliches Wissen nicht als Spiegel der Realität konzipiert. Aus dieser Perspektive sind auch der Wissenschaftler oder die Wissenschaftlerin nicht ein atomistisches, abiographisches und asoziales Wesen, die lediglich rationale Handlungen vollführen, um das Reale zu ent-decken (Brannigan 1981). Vielmehr, so die Grundannahme, ist Wissenschaft eine soziale Veranstaltung, die voll von sozial und kulturell geprägten Handlungen und Aktivitäten ist (Hackett u.a. 2008; Hess 1997). Wie gesagt: Wissenschaftssoziologie ist in der Regel Naturwissenschaftssoziologie. Sie erforscht nicht immer, aber in der überwiegenden Mehrzahl naturwissenschaftliche Disziplinen. Die empirischen Studien fokussieren das naturwissenschaftliche Experiment, finden in naturwissenschaftlichen Laboren statt oder thematisieren die Epistemik, Publikationen, Produkte, das Wissen oder die gesellschaftliche Relevanz einzelner Naturwissenschaften. Die Forschungslücke, die ich mit diesem Buch zu füllen suche, ist eine Erweiterung dieser wissenschaftssoziologischen Perspektive durch die Analyse eines Feldes der Wirtschaftswissenschaften. Wissenschaftssoziologie Robert K. Merton wird häufig als der Gründungsvater des modernen wissenschaftssoziologischen Ansatzes bezeichnet. Bekannt wurde er nicht nur durch seine Dissertation (Merton 1938b), in der er die Entwicklung der Wissenschaften im England des 17. Jahrhunderts mit religiösen Mustern der Puritaner in Verbindung bringt, sondern vor allem für seine These, dass wissenschaftliches Arbeiten einem Ethos unterliegt (Merton 1938a; 1973), dass also innerhalb der Wissenschaften ethische 'rules of the game' (Merton 1938a: 327) herrschen. Dieses wissenschaftliche Ethos drückt laut Merton eine spezifische Kultur des wissenschaftlichen Arbeitens aus, die von den vier wesentlichen Vorschriften der Universalismus, der Uneigennützigkeit, des Kommunismus und des organisierten Skeptizismus geprägt sind. Thomas Kuhns Arbeiten gelten als weiterer, mittlerweile als klassisch anzusehender Ausgangspunkt der modernen Wissenschaftssoziologie. Seine wesentliche Leistung besteht in der Einführung des Begriffs des Paradigmas (Kuhn 1962). Er stellte damit die herkömmliche Idee von wissenschaftlichem Fortschritt in den Naturwissenschaften als linearen und kumulativen Prozess in Frage. Folgt man Kuhn, dann sind Theorien immer Teil eines herrschenden Paradigmas. Dieses ist so lange gültig, bis es eine kritische Anzahl sogenannter Anomalien nicht mehr erklären kann. Es folgt ein Para-digmenwechsel (Kuhn 1962: 53). Das Paradigma wird verstanden als eine soziale Einigungsformel für grundlegende Annahmen. Es ist also, im Gegensatz zum wissenschaftlichen Ethos, eine von der Mehrheit einer wissenschaftlichen Gemeinde akzeptierte grundlegende Idee darüber, wie die zu erforschende Welt funktioniert. Das Ethos, so Kuhn, leitet sich vom jeweils herrschenden Paradigma ab. Als dritten für die Wissenschaftssoziologie grundlegenden Autor will ich hier Ludwik Fleck nennen, dessen Werk durch eine eher nebenbei getätigte Nennung durch Kuhn ab den 1960er Jahren gleichsam wiederentdeckt wurde. Bereits 1935 hat er im Buch Über die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache die Begriffe des Denkstils sowie des Denkkollektivs entwickelt (Fleck 1995). Denkkollektive beeinflussen das einzelne Denksubjekt, zwingen ihm einen Denkstil auf und steuern dabei die Validierung von Wissen (mehr dazu in Kapitel 3). Die drei hier kurz referierten Konzepte - das wissenschaftliche Ethos, das Paradigma und die Denkkollektive - haben gemeinsam, dass sie Begrifflichkeiten aus der sozialen Welt, in die bis dato a-sozial konzipierte Welt der Wissenschaft einbringen. Mit dem Ethos der Wissenschaft wird eine soziale Institution als Steuerungsmechanismus der Wissenschaft konzipiert, mit dem Begriff des Paradigmas wird eine Verbindung von wissenschaftlichem Fortschritt und den kognitiven und sozialen Handlungsorientierungen der Forscher hergestellt, und mit dem Denkkollektiv werden psychische und soziale Strukturen als Erklärung für wissenschaftliche Tatsachen herangezogen. Insbesondere Kuhns Paradigmentheorie provozierte eine breite Debatte über mögliche soziologische Zugriffe auf die Wissenschaft und führte zu vielen unterschiedlichen Ansätzen, die wissenschaftliches Wissen, wissenschaftliche Praktiken und wissenschaftliche Institutionen in den Blick nahmen (für einen Überblick siehe Hess 1997). Die Verbindung von sozialen und wissenschaftlichen Ordnungen provozierte auch viel Kritik und führte zu einem Konflikt der üblicherweise unter dem Begriff der 'Science Wars' (Collins und Labinger 2001: 3) zusammengefasst wird. Das Feld der Wissenschaftssoziologie ist gegenwärtig ausdifferenzierter denn je. Anstatt den meines Erachtens aussichtslosen Versuch zu unternehmen, einen kompletten Überblick über aktuelle Strömungen in der Wissenschaftssoziologie zu geben, will ich im Folgenden drei Begriffe herausarbeiten, die für meine Arbeit maßgeblich sind, auf die sie aufbaut und auf die in im vorliegenden Buch immer wieder zugegriffen wird, um die Wirtschaftsprognostik soziologisch zu erklären. Zentrale Begriffe: Symmetrie, economics-in-action, Interaktion Bei diesen Begriffen handelt es sich erstens um den Begriff der Symmetrie, wie er von David Bloor (1976) eingeführt und seitdem maßgeblich weiterentwickelt wurde. Zweitens handelt es sich um den Begriff economics-in-action, womit die erstmals in den sogenannten Laborstudien verwendete, bahnbrechende Vorgehensweise gemeint ist, Wissenschaft mit Methoden der empirischen Sozialforschung bei ihren Handlungen zu untersuchen und sich dabei möglichst nah an das Feld der zu untersuchenden Wissenschaft zu begeben. Drittens ist es der Begriff der Interaktion, der in diesem Buch für die soziologische Erklärung der Herstellung von Wissen über die wirtschaftliche Zukunft zentral ist. Der Begriff der Symmetrie stammt ursprünglich aus dem sogenannten Strong Programme, einem methodologischen Grundlagenwerk der Soziologie wissenschaftlichen Wissens (kurz SSK genannt), welches erstmals Mitte der 1970er Jahren von David Bloor (1976) publiziert wurde. Unter Symmetrie versteht Bloor zunächst, dass dieselbe Art von Erklärungen sowohl für falsches als auch für richtiges Wissen herangezogen werden sollte. Damit stellte er sich gegen die wissenschaftsphilosophische Annahme, dass wahres Wissen nur durch das Ausschalten sämtlicher sozialer Einflüsse, die den Blick auf die Wirklichkeit lediglich verzerren würden, hergestellt werden kann (Bloor 1976: 12ff.). Dieses Prinzip der Symmetrie wurde in der wissenschaftssoziologischen Debatte stark erweitert; das Verständnis von Symmetrie wird heute auf viele ursprünglich als Gegensätze verstandene Begriffspaare angewendet, so wurde beispielsweise Mertons wissenschaftlicher Ethos als Symmetrie zwischen Wissenschaft und anderen sozialen Institutionen konzipiert (Woolgar 1992) oder eine Symmetrie zwischen dem Wissenschaftler und seinem Erkenntnisgegenstand, zwischen Mensch und Maschine, zwischen Wissenschaft und Technologie (Bijker 1993) oder zwischen Sozialem und Materialität (Müller und Reichmann 2015) angenommen. Mit dem Begriff der Symmetrie werden also Gegensätze zwischen Begriffspaaren aufgehoben und konzeptuell miteinander vereint. Der Begriff der Symmetrie spielt im vorliegenden Buch vor allem in Kapitel 2 eine entscheidende Rolle, da dort einige Dimensionen der Grenzen zwischen der Wirtschaftswissenschaft und ihrem Erkenntnisgegenstand verschwimmen bzw. verschwinden sowie in den Kapiteln 4 und 9, in denen der Gegensatz zwischen Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit konzeptuell überwunden wird. Im gesamten Buch wird zudem grundsätzlich Symmetrie hinsichtlich zweier Fragen angenommen: Erstens wird angenommen, dass Felder aus den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften genauso wissenschaftssoziologisch untersucht werden können wie es bislang vor allem für naturwissenschaftliche Felder gemacht wurde. Und zweitens wird angenommen, dass die wissenschaftliche Herstellung von Wissen über die Zukunft genauso ana-lysiert werden kann, wie jene über andere zeitliche Bereiche (also beispielsweise über die Vergangenheit). Der zweite wissenschaftssoziologische Grundgedanke, der diesem Buch zu Grunde liegt, ist die Idee, dass Wissenschaft immer als werdende Wissenschaft (Fleck 1929: 429) analysiert wird und dieses Werden empirisch untersucht werden kann und soll. Diese Vorgehensweise ist vor allem durch jene Arbeiten inspiriert, die in der Wissenschaftssoziologie als Laborstudien bezeichnet werden. Die ersten Laborstudien wurden von Bruno Latour und Steve Woolgar ([1979] 1986) und Karin Knorr Cetina ([1981] 1984) durchgeführt und haben den Blick auf Wissenschaften von den fertigen Fakten und von bereits verfestigtem Wissen hin zu den diese erzeugenden Konstruktionen, Handlungen und Praktiken verschoben: Sie analysieren das 'science-in-the-making' (Latour 1987: 4). Diesem neuen Blick auf Wissenschaft liegt die bereits von Fleck formulierte Idee zugrunde, 'daß es überhaupt keine gewordene Wissenschaft gibt, sondern immer nur eine werdende' (Fleck 1929: 429). Sie wurde empirisch gewendet, indem Wissenschaftssoziologen und -soziologinnen begannen, nicht bloß die Papiere der Wissenschaft zu lesen, sondern die Räume der Wissenschaft zu betreten, um Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei ihren Handlungen, Praktiken und ihren Sinngebungsprozeduren zu beobachten und zu analysieren. In den Laboratorien und experimentellen Arrangements wurden Mikropolitiken, Verhandlungen zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, der Prozess des Räsonierens, die sozialen Ordnungen epistemischer Prozesse und vieles mehr untersucht. Die Erzeugung wissenschaftlicher Wahrheit wird in diesem Ansatz nicht als etwas konzipiert, das gleichsam aus dem Erkenntnisgegenstand natürlich abzuleiten wäre, sondern wird als Hand-lungsvollzug, als ein Bündel von Praktiken, als (soziale) Konstruktion oder, zusammenfassend, als Kultur gesehen. Es ist wichtig zu betonen, dass es neben den Laborstudien noch eine Vielzahl anderer Ansätze gibt, die die Wissenschaften ebenso empirisch erforschen. Besonders zu nennen ist hier die Szientometrie, also die Erforschung der Wissenschaften anhand quantitativer Daten wie Publikationen (Price 1963), Zitationen (Moody 2004), Kollaborationen (Crane 1972) oder Kollektivbiographien (Fleck 2007: Kapitel 4). Anders als in anderen Arbeiten (vgl. Reichmann 2010: Kapitel 5; 2011a), sind im vorliegenden Buch allerdings keine quantitativen Daten verarbeitet. Daher schließe ich hier deutlicher an die Tradition der Laborstudien an, da ich mich stark auf empirisches Material stütze, das direkt und vor Ort erhoben wurde. Die Ideen der wissenschaftssoziologischen Laborstudien wurden zur großen Mehrzahl innerhalb der Naturwissenschaften in die Tat umgesetzt. Sozial- und Wirtschaftswissenschaften spielen für nach dem Prinzip des 'science-in-action' durchgeführte Forschungen nur eine sehr kleine Rolle. Insofern stellen Teile dieses Buches, vor allem die Kapitel 1, 2, 7 und 9, eine Innovation dar, weil sie ein wirtschaftswissenschaftliches Feld während der Arbeit erforscht - man könnte diese Herangehensweise in Anlehnung an Bruno Latour als economics-in-action bezeichnen. Der hier verfolgte Ansatz ist auch als komplementärer Zugang zu wirtschaftswissenschaftssoziologischen Arbeiten zu sehen, wie sie beispielsweise bereits früh von Hofmann (1959, 1968), später bei Vobruba (2012) oder Pahl (2012) zu finden sind. Diese sehr nützlichen Arbeiten korrespondieren in vielfacher Hinsicht mit dem hier Vorgestellten, sind aber aus der hier vertretenen Perspektive eher als kritische Ideengeschichte der Wirtschaftswissenschaften zu sehen und wertzuschätzen, die sich stärker der bereits verfertigten, also der 'gewordene[n] Wissenschaft' (Fleck 1929: 429) zuwenden. Der dritte zentrale Begriff in diesem Buch ist jener der handlungstheoretisch verstandenen sozialen Interaktion. Diese Grundeinheit der Soziologie wir verstanden als 'ein wechselseitiges soziales Handeln von zwei oder mehr Personen, wobei jeder der Partner sich in seinem Handeln daran orientiert, dass der andere sich in seinem Handeln auf das vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Handeln des ersteren bezieht.' (Bahrdt 1984: 37) Die Interaktion bedarf eines 'Konsens[es] über das Handlungsziel', des 'Informiertseins über die Intentionen des jeweils anderen' (Bahrdt 1984: 37). Diese Definition beinhaltet die wesentlichen Charakteristiken der Interaktion in ihrer Aufeinander-Bezogenheit hinsichtlich eines Handlungsziels und des Wissens über den anderen. Dieses Wissen, diese 'Typisierung' (Berger und Luckmann 1980: 34) und Verständlichmachungen des subjektiven Sinns des anderen sind in dem hier angewendeten Interaktionsbegriff Ausgangspunkt und Teil von Verhandlungen, Anpassungen und Neuausrichtungen. Interaktion ist auch deswegen ein besonders komplexer Begriff, weil weder die Art der Verhandlungen noch deren Ergebnis sich in eindeutige Schablonen zwängen lassen. Interaktionen im hier gemeinten Sinne sind sowohl hin-sichtlich ihrer Entferntheit und Direktheit und damit in der Anonymität der Interagierenden graduell. Das Wissen und die Typisierungen derjenigen, mit denen niemals eine 'Vis-á-vis-Situation' (Berger und Luckmann 1980: 32) eingegangen wird, ist entfernter und anonymer in dem Sinne, dass das Wissen über sie allgemeinerer Natur ist. Es ist auch indirekter, weil die jeweiligen Interaktionspartner niemals in einer Vis-á-vis-Situation erfahren wurden, sondern das Wissen über die Interaktionspartner über Dritte hergestellt werden musste. Nichtsdestotrotz können auch nicht gleichzeitig Anwesende miteinander interagieren. Die Interaktion setzt also, anders als dies in der Situationsdefinition Goffmans (1964) der Fall ist, Face-to-Face-Kopräsenz aller Interagierenden nicht zwingend voraus. Der Interaktionsbegriff zieht sich durch alle Kapitel dieses Buches, kommt aber besonders deutlich in Kapitel 2 zum Tragen, in dem der epistemische Prozess der Wirtschaftsprognostik als Interaktion zwischen wissenschaftlichem Subjekt und Objekt modelliert wird; in Kapitel 4, in dem die interaktive Konstruktion von Zukunft für die Gegenwart analysiert wird; sowie in Kapitel 7, in dem der Prognosebotschafter als Zugangspunkt der Wirtschaftsprognostik in und mit der Öffentlichkeit interagiert. Bevor ich zur genaueren Verortung in der wissenschaftssoziologischen Literatur, zur Fragestellung sowie zu einer kompakten Beschreibung des untersuchten Feldes komme, möchte ich zunächst noch das hier verwendete Verständnis des Begriffes der Wissenschaftssoziologie klären. Aktuelle Forschungen zu Wissenschaft, wissenschaftlichem Wissen oder Technologie werden aktuell vor allem unter dem Sammelbegriff der Science and Technology Studies (STS) verhandelt. Auch wenn gegen interdisziplinäre Zugänge und thematische Erweiterungen grundsätzlich nichts einzuwenden ist, hat aus meiner Sicht das Themenfeld der STS in den letzten Jahren maßgeblich an Konturen eingebüßt und es wurde zunehmend unklar, was unter STS zu verstehen ist. Die Themenreichweite geht von Food-Studies in Entwicklungsländern über quantitative Auswertungen von Internetnutzungsverhalten, von der Analyse der politischen Identität von Hochgebirgsbäuerinnen über Mensch-Maschinen-Kommunikation bis zur vielfachen und immer wieder kehrenden Reproduktion klassischer Studien der Physikgroßforschung. Ich sehe diese Entwicklung kritisch und möchte das vorliegende Buch in einer enger gefassten Tradition, die auf die Erklärung wissenschaftlicher Handlungen, wissenschaftlichen Wissens, der Verbreitung und Kommunikation dieses Wissens und wissenschaftlicher Repräsentationen fokussiert, verstanden wissen. Auch weil Technologie und ihre Materialität in der Wirtschaftsprognostik (und daher auch in diesem Buch) nur eine untergeordnete Rolle spielt, verstehe ich meine Arbeit am nächsten bei eher klassisch angelegten wissenschaftssoziologischen Studien und den Social Studies of Science. Dies ist ein klarer abgestecktes Feld als die STS. Auch wenn die Bezeichnung Wissenschaftssoziologie im deutschsprachigen Raum Missverständnisse hervorrufen könnte, übersetze ich Social Studies of Science hier als Wissenschaftssoziologie und möchte ihre Ausrichtung so verstanden wissen. Da dieses Buch ein Feld der Wirtschaftswissenschaften wissenschaftssoziologisch analysiert, könnte es in Abwandlung der Bezeichnung Social Studies of Science das Feld der Social Studies of Economics begründen. Social Studies of Economics - Wirtschaftswissenschaftssoziologie Einer der wesentlichen Innovationen dieses Buches besteht darin, eine wissenschaftssoziologische Perspektive auf ein wissenschaftliches Feld außerhalb der Naturwissenschaften einzunehmen. Diese Perspektive kann nur auf wenige einschlägige Arbeiten aufbauen, sie kann allerdings an Arbeiten aus zwei gleichsam verwandten Literatursträngen anschließen und von ihnen profitieren. Erstens ist dies die Wissenschaftsgeschichte, die sich sehr reichhaltig auch mit Ökonomie insgesamt und der Wirtschaftsprognostik im Speziellen auseinandergesetzt hat. Zweitens ist es Literatur aus der Wirtschaftssoziologie, die in den letzten Jahren stark an Aufmerksamkeit hinzugewonnen hat, und sich in einigen Fällen auch der Ökonomie als wissenschaftlicher Disziplin widmet.
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