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E-Book

Und nicht vergessen

Autobiographie

AutorUwe-Karsten Heye
VerlagAufbau Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783841215185
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Was im Zwielicht der Geschichte zu erkennen ist. Mit seiner Autobiographie legt Uwe-Karsten Heye ein sehr persönliches Geschichtsbuch vor. Berührend, wunderbar erzählt, eine Kindheit in Ost- und Westnachkriegsdeutschland, ein politisches Leben zwischen Willy Brandt, dessen Redenschreiber Heye war, und Gerhard Schröder, für dessen Regierung er als Sprecher arbeitete, zwischen Berlin und New York, zwischen Diplomatie und Journalismus. Als Kind erlebte Uwe-Karsten Heye, was Krieg und Nachkrieg angerichtet hatten. Der Kalte Krieg setzte andere Prioritäten als konsequente Entnazifizierung. Vergessen und Verdrängen waren die Devise. Heye arbeitete als Redenschreiber für Willy Brandt, als Journalist, unter anderem für Kennzeichen D, legte er den Finger in die Wunden des geteilten Landes, wurde Regierungssprecher unter Gerhard Schröder und schließlich Generalkonsul in New York und Chefredakteur des 'Vorwärts'. Heyes Autobiographie ist eine deutsche Geschichtsstunde, aber auch Selbstbefragung: Was wurde versäumt, dass wir es heute erneut mit einem wachsenden Rechtsextremismus zu tun haben? Darauf sucht er Antworten und will Auskunft geben, damit sich Geschichte nicht wiederholt.

Uwe-Karsten Heye, geb. 1940, Journalist, arbeitete als Redenschreiber für Willy Brandt, Regierungssprecher von Gerhard Schröder sowie als Autor für ARD und ZDF. Seine Erinnerungen an Flucht und Nachkriegszeit 'Vom Glück nur ein Schatten' wurden unter dem Titel 'Schicksalsjahre' mit Maria Furtwängler verfilmt.Im Frühjahr 2014 erschien bei Aufbau 'Die Benjamins. Eine deutsche Familie'.

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Leseprobe

1.
Im Zwielicht deutscher Geschichte


Wie ist ein Leben zu beschreiben? Wie lässt sich Erinnerung aufbereiten und dabei vermeiden, dass schwierige Erlebnisräume zugeschlossen bleiben und dann auf einmal unbedeutend erscheinen und der Blick zurück abschweift? Wie lässt sich das eigene Leben betrachten und ihm gerecht werden?

Könnte ein Ich-Erzähler die Rolle des Beobachters übernehmen, der Fiktion und Wirklichkeit auseinanderhält? Da es am Ende doch ein und derselbe ist, der beschreibt, und der, über den erzählt wird, könnte es vielleicht doch Distanz bringen, die ein ehrliches Bild herzustellen erleichtern könnte?

Als Günter Grass sein eigenes Leben besichtigte und in den Tiefen verdrängter Erinnerung auf »SS« stieß, war es mit der Sicherheit vorbei, mit der er bis dahin zurückgeblickt hatte. Ist über sich selbst zu schreiben nur ehrlich, wenn es weh tut? Jedenfalls ist es nur dann sinnvoll, glaubt Christa Wolf, als sie über den biographischen Selbstversuch von Günter Grass schreibt, der »beim Häuten der Zwiebel« seine Haut zu Markte trug. Meine Nähe zu beiden ist auch geprägt davon, wie sie ihre Erinnerungen entziffern.

Es ist große Literatur, wie sie sich den Lesern ausliefern. Dass sie mir, der ich lesend bei ihnen bin, ganz nahe sind, könnte daran liegen, dass auch mich historische Erfahrungen begleitet haben und prägten. Ihnen ausgesetzt und mit gleicher Irritation wie Christa Wolf und Günter Grass aufgewachsen zu sein und von gemeinsamer Geschichte nicht loszukommen, lässt Entfremdung zu ihnen nicht entstehen.

Wie oft im Leben wird man ein anderer? Christa Wolf zitiert Grass und folgt ihm nachdenklich. Wie er sehe ich auf ein Passfoto, das ich in meinem zerfledderten Führerschein finde, der geradezu antiquarischen Wert hat. Der junge Mann darauf ist mir zugleich nah und seltsam fremd, die gleiche Empfindung hatte Grass, als er sein Jugendfoto beschreibt. Meine Großmutter hatte zehn Fahrstunden bezahlt, und ich bekam den Führerschein als Geschenk zum 21. Geburtstag. Was weiß ich noch über den, dessen Foto meinen Führerschein bebildert?

Auf gewisse Weise schließt sich für mich nach einer langen Reise und vielen Wohnorten mit Babelsberg ein Kreis. Denn immer wieder kam meine Mutter auf die mit der Filmstadt verbundenen Künstler zu sprechen, die sie damals vor mehr als siebzig Jahren nach Danzig verpflichten konnte. Für sie nur »die Babelsberger«. So lange weiß ich von Babelsberg. Sie kamen aus Berlin oder eben von der Ufa in Potsdam-Babelsberg. Jede und jeder hatte Starruhm. Für sie war Truppenbetreuung Pflicht, meine Mutter engagierte sie im Auftrag des Reichspropagandaamtes, Außenstelle Danzig.

Heinrich George, Marika Rökk und, und … Große Namen geisterten durch Ursels Erinnerungen. Das Publikum waren verwundete Soldaten, versorgt auf den Lazarettschiffen vor Danzig. Halbwegs genesen, enterten sie die Salons der »Kraft durch Freude«-Flotte, zu denen auch das Kreuzfahrtschiff »Wilhelm Gustloff« gehörte. Im Januar 1945 durchlöchert von einem Torpedo russischer Bauart, ist es ihr Untergang mit Tausenden Toten, dem das Schiff bis heute tragische Erinnerung verdankt. Solange es bei Danzig vor Anker lag, wurden auch von dort bunte Abende gesendet und über die Volksempfänger verbreitet. Auf dem Schiff ein Publikum, das vom Krieg gezeichnet war, manche konnten auf Stühlen sitzen, andere konnten nur liegend oder in Rollstühlen den bunten Abenden folgen. Dieses dankbare Publikum fügte sich zu einem grotesken Bild, in Mullbinden verpackt und Prothesen an zerschossenen Körperteilen.

Kaum genesen, mussten sie zurück an die Front. Ihr Beifall drang über die Reichssender in die Wohnzimmer Nazideutschlands, unterlegt mit einem Musikteppich, der Hoffnung verbreiten sollte: »Ich weiß«, sang die schwedische Diseuse Zarah Leander, »es wird einmal ein Wunder gescheh’n«. Das Wunder, das Nazideutschland brauchte, wurde in Durchhaltesongs beschworen, mit den verstümmelten Kämpfern in Danzig als Chor im Hintergrund, der laut und über Radio hörbar mitsang. Hätte es schon Fernsehen gegeben, hätte jeder Kameraschwenk auf das Publikum, das sich unter weißen Verbänden an Kopf und Gliedern erkennbar mitgenommen verbarg und sich freute, vielleicht dazu beigetragen, den Krieg schneller zu beenden. Mitleid mit jenen, denen Beifall klatschen möglich war, weil ihnen beide Hände geblieben waren. Immerhin, »Lilly Marleen« wurde in den Gefechtspausen gemeinsam von Freund und Feind besungen. Es war die Nummer eins der Charts in den Wunschkonzerten der Soldatensender, gleich welcher Couleur und Sprache.

Unterhaltsame Rundfunkabende also, die davon ablenken sollten, dass die Endzeit des Nazireiches gekommen war. Nicht nur das eigene Land, halb Europa war zur zertrümmerten Hinterlassenschaft der Blitzkriege der Nazi-Wehrmacht geworden. Erobert in Feldzügen, die im Deutschen Reich bejubelt wurden. Dann kamen die Bombengeschwader der Alliierten, Rache für Coventry und London oder Rotterdam oder Stalin- und Leningrad. Es galt, für den Zivilisationsbruch des Nazireichs zu bezahlen. Aus den Ostgebieten begann die Flucht in Richtung Westen des Reiches. Der Zug aus Danzig, er rollte mit uns aus der Stadt, ehe sie von der Roten Armee eingenommen wurde. Vier Bordkarten für die letzte Fahrt des mit Flüchtlingen und Verwundeten überfüllten Kreuzfahrtschiffes »Gustloff«, für uns gebucht, blieben ungenutzt.

In Kürze feiere ich meinen 77. Geburtstag in Potsdam. Die Residenzstadt der Preußenkönige ist nun Alltag, und ich arbeite hier an meinem fünften Buch. Schlösser und Parkanlagen sind historische Kulisse und verbinden sich mit mancher Filmgeschichte, die hier gedreht wurde. Doch lässt sich bereits erkennen, dass sich erneut eine dramatische Zeitenwende ankündigt. Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht; 2015 überschritten innerhalb weniger Monate eine Million von ihnen die Grenze nach Deutschland. Ihre Ankunft spaltet das Land und lässt Ost und West wieder auseinanderdriften. Erneut entsteht auch eine erstarkende und extremistische politische Rechte. Sie nutzt und zitiert das Wörterbuch, das den Abschied der Deutschen als Kulturnation vorbereitet hat, sein Titel lautet »Mein Kampf«. Es darf wieder frei gedruckt und verkauft werden.

In Potsdam-Babelsberg haben an Sonn- und meist auch an Feiertagen in fußläufiger Entfernung von meinem Haus fünf Bäckereien geöffnet. Der Stadtteil verbreitet kleinstädtisches Flair. Doch wer Zeitung liest oder online im weltweiten Netz surft, empfindet diese Idylle vielleicht als unwirklich, als geschenkte Ruhe vor einem Sturm, der heraufzieht. Anschläge von Terrorgruppen in England, Frankreich, und erstmals in Berlin, ermunterten Reporter, Besucher von Weihnachtsmärkten als Helden des Alltags zu feiern. Die so Angesprochenen in »Tageschau« oder »heute« nickten zustimmend und gaben ihrer Entschlossenheit Ausdruck, sich von Terroristen nicht die Freude am Glühwein nehmen zu lassen. Um dann aus dem Off, im Bild groß die Helden des Alltags, die den roten, heißen Wein schlürfen und mit dem Satz verabschiedet werden, dem sie mit dem Weinglas am Mund nickend zustimmen, sich von »Terror nicht einschüchtern zu lassen«.

In Babelsberg sind erste Tropfen spürbar, die die weltpolitische Wetterwende ankündigen. Neben dem Bio-Bäcker hat ein Mann seinen Stammplatz, graues Haar, graues Gesicht, graue Jacke vor der Brust in der linken Hand hält er die Obdachlosenzeitung »Straßenfeger«. Der Mann steht etwa drei Meter neben dem Eingang eines Weberhäuschens, darin der Bäcker, der hier die besten Brötchen verkauft. Schnell reihen sich bis zu dreißig Leute vor dem niedrigen Häuschen. Der stetige Zustrom lässt die Schlange nicht kleiner werden. Mindestens zehn Minuten sind einzuplanen, bis man eintreten kann.

Im Verkaufsraum, dicht gedrängt, setzt sich die Schlange fort. Drei versierte Verkäuferinnen sorgen dafür, dass sie schnell aufrückt. Der Duft frischer Brötchen im Raum, die im hinteren Teil im modernen Ofen knusprig backen. Es sind vorwiegend Männer, die sich am Wochenende einfinden. Oft Väter oder Großväter, begleitet von ihren Kindern oder Enkeln, manchmal kaufen sie auch Kuchen für den Nachmittagskaffee. Alles bio.

Hier gibt es auch die Wochenendausgaben der Potsdamer Tageszeitungen. Aufmacher mit Schlagzeilen, die »Willkommenskultur« beschreiben oder Attacken auf Flüchtlinge oder Flüchtlingsheime, auf die Brandsätze geworfen wurden. Zeitungen, die ahnen lassen, dass die Idylle rund um das Backwaren-Paradies des Bio-Bäckers brüchig zu werden beginnt.

In Babelsberg erinnern die typischen geduckten Häuser an die böhmischen Spinner und Weber. Als evangelische Christen verfolgt, fanden sie Asyl in Brandenburg. Friedrich der Große baute für sie um 1750 die Häuser: Spitzdach, großer Garten, ein Nutztier, Kuh oder Schwein. Viele Weberhäuser stehen so fast unverändert seit 250 Jahren. Brandenburg und seine Einwanderungsgeschichte, Preußen und sein Königshaus: Seine Soldaten brauchten Uniformen. Die böhmischen Weber, Tuchmacher und Färber hatten gut zu tun. Das Toleranzedikt des Königs von Preußen garantierte jedem Neubrandenburger, nach seiner Fasson selig werden zu können.

Mit einer Laugenstange und fünf Schrippen für den Frühstückstisch verlasse ich die Bäckerei und gehe auf den Mann zu, der die aktuelle Ausgabe der Obdachlosenzeitung bereithält. Während er das Blatt herüberreicht, sagt er: »Du gut schlafen? Das gesund!« So begrüßen wir uns, freundliches Lächeln, zwei Euro von mir und von ihm die wortkarge Mahnung zur Güte meines...

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