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Der letzte Zug nach Moskau

Zwei Freundinnen, zwei Schicksale, eine jüdische Familiengeschichte

AutorRené Nyberg
Verlagdtv Deutscher Taschenbuch Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783423435598
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Eine außergewöhnliche Familiengeschichte.     »Mutter Jüdin, aber hat die Deutsche Schule besucht.« Diese Notiz über sich fand René Nyberg eines Tages in den Unterlagen des finnischen Außenministeriums, für das er als Diplomat tätig war. Dass seine Mutter Fanny Jüdin war, hatte er selbst erst als Jugendlicher erfahren. Viel mehr wusste er lange Zeit nicht, denn es wurde in der Familie kaum darüber gesprochen. Erst Jahrzehnte später, als er Lena, die Tochter von Fannys heißgeliebter Cousine Mascha kennenlernte, die inzwischen in Israel lebte, beschloss er, der Geschichte seiner Familie nachzugehen. Er forschte in Archiven, befragte Zeitzeugen, sammelte verstreute Familiendokumente und studierte die einschlägige historische Literatur. So konnte er schließlich diese außergewöhnliche und abenteuerliche Familiengeschichte erzählen. Fanny war von ihrer jüdischen Familie verstoßen und sogar für tot erklärt worden, als sie 1937 den nichtjüdischen Finnen Bruno Nyberg heiratete. Von da an gab es über viele Jahre keinen Kontakt, obwohl alle Familienmitglieder in Helsinki lebten. Alle überlebten den Krieg, denn die Juden in Finnland blieben vor der Verfolgung verschont. Anders als in Lettland. Dort in Riga lebte Mascha mit ihrem Mann Josef und ihrer Familie. Fanny und Mascha hatten vor dem Krieg viel vergnügte Zeit miteinander verbracht. Mascha war Musikpädagogin, Josef Geiger. Die beiden bestiegen mit zwei Koffern den letzten Zug, der noch in Richtung Moskau fuhr, zwei Tage vor dem Einmarsch der Deutschen 1941. Eltern und Geschwister schlossen sich der Flucht nicht an. Sie wurden alle ermordet. Mascha und Josef jedoch überlebten den Holocaust in der Sowjetunion und kehrten gegen Kriegsende wieder nach Riga zurück. Lena wurde dort als erstes jüdisches Kind nach dem Krieg geboren. Die Familie  wanderte schließlich nach Israel aus, aber Josef fühlte sich dort nicht heimisch. Den letzten Teil ihres Lebens verbrachte das Ehepaar in Berlin, als deutsche Staatsbürger. Denn Josefs Eltern waren Deutsche gewesen und er hatte nach dem Bundesentschädigungsgesetz Anspruch auf eine Rente und die deutsche Staatsangehörigkeit.

René Nyberg, 1946 in Helsinki geboren, Politikwissenschaftler und Diplomat, war  von 2004 bis 2008 finnischer Botschafter in Deutschland, vorher vier Jahre finnischer Botschafter in Russland, danach als CEO des East Office of Finnish Industry tätig. Für die Geschichte seiner Familie hat er in zahlreichen internationalen Archiven recherchiert.

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Leseprobe

Das Geheimnis unserer Familie


Ich war wohl bereits Gymnasiast, als ich im Bücherregal meiner Eltern die schwedische Übersetzung von Hitlers ›Mein Kampf‹ entdeckte: Min kamp. Ich blätterte darin und war verblüfft. Auf dem Titelblatt wünscht meine Mutter meinem Vater anregende Lektüre – im Jahr 1941. Empört zeigte ich ihr das Buch. Sie ärgerte sich sichtlich darüber. Was mochte sich meine unpolitische Mutter damals gedacht haben, als sie diese Worte schrieb? Finnland befand sich im sogenannten Fortsetzungskrieg mit der Sowjetunion (19411944), den es mit Unterstützung von Nazideutschland führte, um die Gebiete zurückzuerobern, die es im vorhergegangenen Winterkrieg (19391940) verloren hatte. Was ging in ihrem Kopf vor, als ihr Sohn sie daran erinnerte? Als ich irgendwann das Buch erneut aufschlug, stellte ich fest, dass das Titelblatt verschwunden war. Ich habe das Buch weder damals noch später gelesen.

Die jüdische Herkunft meiner Mutter war das Geheimnis unserer Familie. Darüber wurde nicht mit Außenstehenden gesprochen. Ich war schon in der Pubertät, als meine Eltern es mir erzählten. Es dauerte eine Weile, bis ich dieses Wissen verarbeiten und die Geschichte meiner Mutter verstehen konnte. Für sie hatte die Heirat mit meinem Vater den vollständigen Bruch mit ihrer Familie bedeutet. Als ich meiner späteren Frau Kaisa von der Herkunft meiner Mutter erzählte, stellte sie fest, sie sei noch niemals Juden begegnet. Sie stammte zwar aus Nordösterbotten an der finnischen Westküste, hatte aber seit ihrer Grundschulzeit in der Hauptstadtregion gewohnt.

Mein Elternhaus war zweisprachig. Meine Schwester und ich sprachen mit dem Vater Finnisch und mit der Mutter im Verlauf der Jahre mehr und mehr Schwedisch. Meine Eltern sprachen Schwedisch miteinander. Mein Vater war ein typischer zweisprachiger Helsinkier Junge, der mit seiner Mutter, die aus Heinola stammte, Finnisch sprach, und mit seinem Vater, der aus Karis kam, Schwedisch. Er hatte eine schwedischsprachige Schule besucht. Bis heute hat Finnland zwei Amtssprachen, das Finnische und das Schwedische. Das ist der Geschichte des Landes und der Bevölkerungsstruktur geschuldet und Anlass für mancherlei Sprachenkämpfe bis in die neuste Zeit. In meiner Familie war das kein Thema. Mutter wollte jedoch mit allen Mitteln sicherstellen, dass wir beide Sprachen richtig lernten. Wenn ich in der Bibliothek Abenteuerbücher auslieh, verlangte Mutter, dass höchstens die Hälfte davon finnischsprachig sein sollte. Damit hatte ich kein Problem, im Gegenteil, das kam mir sogar entgegen. Bei den schwedischen Büchern gab es eine größere Auswahl. Mit der Zeit störten mich die Fehler, die meiner Mutter im Finnischen unterliefen, und deshalb sprach ich als Teenager mit ihr am liebsten Schwedisch.

Meine Mutter war in Helsinki geboren, und das Schwedische spielte in ihrer Familie eine große Rolle. Das rührte daher, dass ihre Mutter, meine Großmutter, in Vaasa aufgewachsen war, einer Stadt mit einem hohen schwedischen Bevölkerungsanteil. Meine Mutter und ihre Schwester hatten eine schwedische Schule in Helsinki besucht. Sie war dort nicht als Feige, mit ihrem jüdischen Vornamen, sondern als Fanny angemeldet. Daraus entwickelte sich zwanglos ihr zweiter Vorname, der später ihr einziger wurde. Die Brüder der Familie hingegen besuchten die Jüdische Gemeinschaftsschule. So kam es, dass die Familiensprache Schwedisch war. Aber die Zweitsprache der Familie war Jiddisch, das vor dem Krieg von den Juden in Helsinki noch ganz allgemein gesprochen wurde.

Ich kann mich allerdings nicht erinnern, dass ich meine Mutter jemals hätte Jiddisch sprechen hören. Wenn es das Jiddische meiner Mutter überhaupt je gegeben hat, dann war es in ihrer alten Familie zurückgeblieben und schließlich vom Deutschen verschüttet worden. Das Schwedische war eine Kultursprache und die Sprache der Assimilation der Juden in Finnland bis in den Krieg hinein; danach erstarkte die Stellung des Finnischen. Als ein Nebeneffekt des Sprachenkampfes in Finnland ging die Jüdische Schule, die die Brüder meiner Mutter besuchten, schon im Jahr 1931 vom Schwedischen zum Finnischen über. Die Schulbehörde stellte damals fest, sie werde nicht länger »die Minderheit der Minderheit« unterstützen.

Aktives Finnisch hatte meine Mutter erst während des Krieges gelernt, als sie als Freiwillige in einem Lazarett Dienst tat. Die Soldaten lachten über ihre komischen Fehler: Die Augengläser waren »Glasaugen«, und das Lippenrot war »Rotlippe«, und meine arme Mutter konnte ihrerseits die jungen Männer und ihren Dialekt nicht verstehen. Wie wichtig es war, das Finnische zu beherrschen, wurde ihr erst durch diese Erfahrung bewusst. Es war für sie ein Schlüsselerlebnis und ein wichtiger Teil ihrer Anpassung an die finnische Gesellschaft. Meine Mutter empfand sich nicht als Finnlandschwedin in der traditionellen Bedeutung eines Menschen, der nicht über den Tellerrand hinausschaut, auch wenn sie als Rentnerin für die schwedischsprachige Wohltätigkeitsorganisation der Marthas tätig war. Im Helsinkier Milieu waren die Nuancen subtil. Es war ihr sicherlich nicht bewusst, aber mit ihrem Bestreben nach Assimilierung stand meine Mutter auch in einer jüdischen Tradition. Die Loslösung von dem alten Umfeld bedeutete eine neue, andere Assimilierung, diesmal die an die Welt ihres Ehemannes. Deshalb musste sie Finnisch können und sprechen, und deshalb mussten ihre Kinder ordentlich Finnisch lernen. Das erklärt auch, warum Schwedisch für meine Schwester und mich nicht die »Muttersprache« wurde, obwohl wir in völlig zweisprachiger Umgebung aufwuchsen. Organisatorisch ergab sich die Lösung in der dritten Klasse der Deutschen Schule, als die Kinder in finnisch- und schwedischsprachige Gruppen eingeteilt wurden. Ich kam in die finnischsprachige Gruppe, obwohl ich gern in die schwedischsprachige gegangen wäre zusammen mit meinem besten Freund Gerd Weckström.

Unsere Großmutter, für uns die »Bobe« (jiddisch für Großmutter), besuchte uns ohne Wissen ihres Mannes, nannte uns auf Jiddisch »main goldele« (mein Goldschatz) und machte Bemerkungen über das Kreuz, das meine Schwester um den Hals trug. Meine früheste Erinnerung ist mit der Olympiade in Helsinki 1952 verbunden, zu deren Eröffnung Mutter die Bobe mitnahm. Mein Vater war Mitglied des Organisationskomitees der Olympischen Spiele, sodass wir für alle Wettkämpfe zwei Freikarten bekamen.

Wir wussten freilich, dass die Bobe gar nicht so heimlich kam. In späteren Jahren brachte und holte mein Onkel Jakko (Jakob) seine Mutter ab, kam aber natürlich nicht herauf in unsere Wohnung. Als ich als Jugendlicher einmal aus Neugier meine gebrechliche Großmutter hinausbegleitete, um meinen Onkel zu sehen, verhielt er sich mir gegenüber abweisend. Das hat mich nicht weiter erschüttert, aber doch ein wenig verwundert. Anderen Geschwistern meiner Mutter bin ich nie begegnet, ganz zu schweigen von ihrem Vater, meinem Großvater. Cousins habe ich kennengelernt, allerdings erst als Erwachsener. Da waren ihre Eltern schon tot. Solange wir noch Schüler waren, gingen wir uns aus dem Weg, obwohl wir einander im Gewimmel von Helsinki sehr wohl erkannten.

Die Ehe meiner Eltern hatte zu einem Bruch in den Familienbeziehungen geführt, der bitter und vollkommen war. Natürlich hat mein Großvater irgendwann von den Besuchen seiner Frau bei uns erfahren, dennoch gab es auch im Verlauf der Jahrzehnte keine Entspannung. Ihn beschäftigte sein Leben lang die Frage, warum meine Mutter zum Christentum übergetreten war. Die Heirat mit einem Nichtjuden und die Apostasie, der öffentliche Abfall vom Judentum, blieben für den alten Mann die tiefste Kränkung, die die Tochter ihrem Vater hatte antun können. Er starb 1966 im Alter von 86 Jahren. Am letzten Tag desselben Jahres starb, erst 59-jährig, auch mein Vater. Wieder kam die Bobe zu Besuch und fuhr meine Mutter an, die Ehe habe ja nun auch lange genug gedauert. Wir empfanden das als sehr taktlos und kränkend, zumal mein Vater seine Schwiegermutter immer zuvorkommend behandelt hatte.

Für meine Mutter waren Bobes Besuche wichtig, doch sie waren auch bedrückend. Man spürte die Spannung, und ich erinnere mich bis heute an die...

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