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Unhaltbar

Meine Abenteuer als Welttorhüter

AutorLutz Pfannenstiel
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783644423411
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Unhaltbar Als einziger Fußballprofi weltweit stand Lutz Pfannenstiel auf allen Erdteilen unter Vertrag. Der Welttorhüter spielte im Iran vor 100 000 frenetischen Zuschauern und wurde in Albanien von Fans mit Steinen beworfen. In Singapur saß er 101 Tage unschuldig hinter Gittern. Und in England wurde er nach dem Zusammenprall mit einem Gegenspieler klinisch tot vom Platz getragen. Erst im Krankenhaus erwachte er wieder - und zog weiter. «Der Torwart, der den Erdball parierte.» Süddeutsche Zeitung «Die Unwägbarkeiten und Zufälle, die sich durch die Biographie des Lutz Pfannenstiel ziehen, suchen ihresgleichen.» 11 Freunde

Lutz Pfannenstiel, 35, begann seine Karriere 1993 beim 1. FC Bad Kötzting und in der U17-Nationalmannschaft. 1996 wechselte er als Profi nach Malaysia. In den folgenden 15 Jahren spielte er bei 24 Vereinen, zuletzt in Norwegen.

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Leseprobe

1

DER TRAUM VON RATKO SVILAR


Ich traf Ratko Svilar nie. Doch den Moment, als ich ihn das erste Mal sah, werde ich nie vergessen. Der kleine Farbfernseher in meinem Zimmer war auf Flüsterlautstärke gestellt, so wie meistens nachts, wenn Eurosport die Tore aus den kleinen Fußball-Ligen übertrug – während meine Mutter mich seit Stunden im Schlaf wähnte. Die Spieler waren auf dem winzigen Bildschirm selten besser als afrikanische Flug-Ameisen zu erkennen. Mit dem Gesicht ging ich so nah an das Gerät heran, bis ich sie nur noch verschwommen sah. Nach ein paar Minuten schmerzten mir die Augen, aber ich wollte mir keine Bewegung der Torhüter entgehen lassen, wie sie ihre Mitspieler dirigierten, fluchten und den Bällen hinterherhechteten.

«… doch wieder boxt Ratko Svilar den Ball aus der Gefahrenzone», flüsterte der Reporter in das Jugendzimmer. «Ohne seinen Torhüter würde der FC Antwerpen wohl fünf Plätze schlechter dastehen.» Ratko Svilar, was für ein Name. Ich sah den riesigen Serben mit den langen, dreckverschmierten Haaren und dem finsteren Blick in Zeitlupe einem Schuss nachspringen. In diesem Moment wusste ich, dass auch ich eines Tages ein Profi-Torwart sein würde.

«Ich mache es wie Ratko Svilar», begrüßte ich am nächsten Morgen meine Mutter am Frühstückstisch, als kenne sie diesen Svilar schon seit Jahren. Aber sie wusste längst, dass sie einen nicht gerade ganz normalen zwölfjährigen Jungen aufzog. «Der Torhüter?», fragte sie, ohne groß aufzublicken. Ich war beeindruckt, dass sie den Schlussmann des FC Antwerpen kannte. Meine Mutter lächelte. In dieser Zeit erzählte ich täglich von berühmten Torhütern – ihr war irgendwann aufgefallen, dass ich nie Mittelfeldspieler lobte. Doch das kam mir nicht in den Sinn. «Ja, wie Svilar», fuhr ich fort, «wenn ich es in der Bundesliga nicht schaffe, dann gehe ich halt in ein anderes Land und werde dort Profi. Svilar kommt ja auch aus Serbien und spielt jetzt in Belgien.» Wieder lächelte meine Mutter. «Ja, Lutz. Du musst nur noch kurz vorher zur Schule gehen. In einer Viertelstunde fängt der Unterricht an.» Sie war ganz gut darin, mich aus meinen Tagträumen zu wecken. Zwölf Minuten später brach ich auf, der Weg zur Schule dauerte drei Minuten, ich wollte keine mehr als nötig verschwenden.

Nachts hatte es geschneit in Zwiesel, meinem Heimatort im Bayerischen Wald. Als ich vor die Tür unseres Hauses trat und das viele Weiß sah, verschlechterte sich meine Laune schlagartig. Die letzten Wintersportler stapften an diesem Märztag durch den 20 Zentimeter tiefen Schnee, und mittendrin lief ein griesgrämiger Junge, den nur ein Gedanke quälte: «Das Training fällt aus.» Jeden Winter war es das gleiche Drama. Auf dem Weg zur Schule machte ich an solchen Tagen den Umweg über den Fußballplatz des SC Zwiesel, und meine Befürchtungen bestätigten sich. Der Platzwart hatte schon das verhasste Schild in den Schnee gerammt: «Betreten des Sportplatzes verboten.»

Am Nachmittag schneite es so sehr, dass die Autos nur im Schritttempo fahren konnten. Ich schloss die Haustür auf, zog meine Gummistiefel an und lief los, in der einen Hand einen Ball, in der anderen eine Schneeschaufel. Eilig sprintete ich den kleinen Berg auf der anderen Straßenseite hinunter zum Platz, kletterte über das Tor und schippte den Schnee aus dem Strafraum.

Auf dem Weg zum Platz hatte ich bereits die Spuren von Gerd Bielmeier im Schnee gesehen. Er war eigentlich immer da. Einsam lief «Bill der Indianer», wie er wegen seiner langen schwarzen Haare genannt wurde, seine Runden. Er war Schichtarbeiter in einer großen Zwieseler Glasfabrik, dem wichtigsten Arbeitgeber der Region. Morgens fing er um sechs Uhr an, ab 14 Uhr bestimmte dann der Fußball sein Leben, jeden Tag, jede Woche. Seine Gene hatten ganz offenbar den gleichen Defekt wie meine – da spielte es auch keine Rolle, dass er schon über 30 Jahre alt war. Jeden Tag lief er zwei Stunden auf dem Sportplatz, meist allein, schoss ein paar Bälle auf das leere Tor und lief weiter, immer weiter.

«Soll ich dir ein paar auf dein Tor schießen?», fragte der Indianer, als ich den gröbsten Schnee im Strafraum entfernt hatte. Ich warf die Schaufel in einen der riesigen weißen Berge und lief ins Tor. Zwei Verrückte im Schnee. Der eine schießt, der andere hält. Und beide können nichts anderes, wollen nichts anderes.

Eine Stunde später kam mein Vater direkt von der Arbeit zum Sportplatz und löste Bill den Indianer ab. Geduldig kickte nun er einen Ball nach dem anderen auf mich zu, und ich flog. Mal nach rechts, mal nach links. Er hätte mich kaum glücklicher machen können. Manchmal schaute er mich abends einfach nur kopfschüttelnd an, wenn ich am Wohnzimmerfenster stand und finster darauf wartete, dass es endlich zu regnen anfing. Ich mochte die Nässe, denn sie schwemmte den Schnee davon. Doch im Videotext stand: «Bayerischer Wald: in Höhenlagen weiter Schneefall.» 50 Zentimeter hoch lag dieser alles verlangsamende, weiße Mantel oft über der Stadt. Ich hasste es.

Trotzdem verging kein Tag ohne Fußball. Wirklich kein Tag. Auf ihn zu verzichten kam Schmerz gleich. Als ich meine Erstkommunion feierte, fragte mich der Bischof nach meinem Berufswunsch. Es gebe für mich nur die Möglichkeit, Fußballprofi zu werden, antwortete ich. Wenn ich krank war, versteckte ich das mit schauspielerischen Glanzleistungen. Als ich acht Jahre alt war, musste ich mich eine ganze Nacht lang wegen eines Magen-Darm-Virus übergeben. Am nächsten Tag war Rosenmontag. Fußball spielten wir dennoch, in der Halle, verkleidet mit Faschingskostümen. Kreidebleich stand da ein kleiner Junge mit einer Hexenmaske im Tor, der sich irgendwann umdrehte, sich hektisch die Maske vom Kopf riss und hinter das Tor kotzte. «Willst du nicht lieber aufhören?», fragte mein Vater, der damals meine Mannschaft trainierte. «Auf keinen Fall», antwortete ich und spielte durch. Als die anderen duschten, kehrte ich mit einem Eimer und Papier zurück und machte sauber.

Wenn mein Vater keine Zeit hatte oder kein Training war, sprang ich beim Spiel gegen die Jungs der Nachbarsiedlung auf der Straße herum, bis Arme und Beine mit Schürfwunden und blauen Flecken übersät waren. Mein Gemütszustand hing allein davon ab, wie viele Bälle ich an der Überquerung der Torlinie hindern konnte. Bei Flanken im Training warf ich mich manchmal so heftig zwischen Abwehr und Sturm, dass meine Freunde regelmäßig mit blutigen Nasen nach Hause gingen. So hat es Ratko Svilar früher bestimmt auch gemacht, dachte ich. «Der kleine Pfannenstiel, das ist ein Verrückter», sagten die Leute damals schon. Ich fand, das war ein Kompliment. Wahrscheinlich müssen Torhüter so sein.

Der Platzwart sah in den Wintermonaten oft, wie ich seinen Platz betrat, obwohl er das mit seinem Schild doch für alle sichtbar verboten hatte. Er hielt mich nie davon ab, genauso wenig wie mein Vater. Wie hätte er auch? In den sechziger Jahren war er der beste Torwart gewesen, den der Ort mit seinen 12 000 Einwohnern hervorgebracht hatte. In der bayerischen Jugendauswahl war er die Nummer zwei hinter einem gewissen Sepp Maier. Den einen machte das Leben zu einem guten Architekten, den anderen zum besten Torwart der Welt. Schon in der Bayernauswahl hatte meistens der Maier gespielt und der Pfannenstiel genervt auf der Bank gesessen. Mein Vater erklärte das gern mit der Lobby des FC Bayern, er witterte eine Verschwörung. Vielleicht, könnte man anmerken, war der spätere Torhüter der deutschen Weltmeister von 1974 auch einfach ein bisschen talentierter als er, wer weiß das schon. Mit diesem Argument darf man einem Pfannenstiel jedenfalls nicht kommen. Auf dem Platz war mein Vater, der als Architekt später wegen seiner Besonnenheit geschätzt wurde, ein Verrückter – einer, vor dem auch die eigenen Abwehrspieler Angst hatten.

Die älteren Leute erkannten schon bei meinem ersten offiziellen Liga-Spiel als Torwart im Nachbarort Bodenmais, dass ich genauso tickte wie mein Vater. Ich bekam damals, gerade sieben Jahre alt, kurz vor Schluss ein Gegentor. Ich hatte keine Chance gehabt, den Ball abzuwehren, aber es schmerzte, so wie es noch Hunderte Male in meinem Leben schmerzen sollte, die Gegenspieler jubeln zu sehen, den Ball aus dem Netz zu holen, während meine Mitspieler mit hängenden Schultern zum Mittelkreis schlichen. «Ihr blinden Idioten», rief ich heulend meiner Abwehr zu, «hört doch auf, Fußball zu spielen.» Nach dem Spiel lief ich auf ein nahe gelegenes Feld, wo mich keiner sehen konnte. Eine halbe Stunde lang weinte ich, bevor ich mich auf den Nachhauseweg machte.

Der Tag, an dem der Vater meines Jugendfreundes Tobias Probst ein Holztor in seinem Garten zimmerte, gehört zu den schönsten in meinem Leben. Nachdem wir lange genug auf dem matschigen Rasen herumgerutscht waren, lehnten Tobias und ich an den Pfosten, beide mit einer Limonade in der Hand, und ließen unsere Weltklasse-Aktionen Revue passieren. In der Nacht hatte Eurosport ein paar Bilder aus der brasilianischen Liga gezeigt und für ein paar Stunden meine Gedanken an Ratko Svilar verdrängt. «Tobi», sagte ich, «lass uns einen Schwur machen.» Tobi schaute auf und rückte näher. «Eines Tages», fuhr ich feierlich fort, «spielen wir beide in der ersten brasilianischen Liga bei Flamengo de Janeiro und werden steinreich.» Mein Freund fand den Plan gut, und im Alter von acht Jahren gibt es keine unerreichbaren Ziele. Wir hatten beide keine Zweifel. Feierlich hoben wir Zeige- und Mittelfinger: «Ich schwöre.» Das mit dem steinreich hat nicht ganz geklappt. Aber den Part mit Brasilien löste ich über...

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