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Grenze als Ressource

Die soziale Organisation von Schmuggel am Rande der Europäischen Union

AutorBettina Bruns
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl273 Seiten
ISBN9783531919393
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis46,99 EUR
Hinleitung Im Dezember 2007 sitze ich in einem Berliner Café. Während des Gesprächs mit 1 der Cafébesitzerin holt diese beiläufig ein Zigarettenpäckchen der Marke 'Jin Ling' hervor. Dabei handelt es sich um in der russischen Exklave Kaliningrad hergestellte Tabakwaren. Die 'Jin Ling' würde sie immer von einem Vietnamesen erwerben, der in einer S-Bahn-Station die Stange für 18 Euro, einzelne Päckchen für zwei Euro verkaufe. Ich erzähle ihr von meiner mehrmonatigen Feldforschung an der Grenze zu Kaliningrad, auf der diese Arbeit beruht, und schildere dabei, wie sich Bewohner der von hoher Arbeitslosigkeit betroffenen grenznahen Gebiete durch den Zigarettenschmuggel von Russland nach Polen auf eigene Rechnung ein wenig Geld dazuverdienen. Das sei ja interessant, meint die Cafébesitzerin. Sie hätte - mer ein schlechtes Gewissen, dass sie durch den Kauf von 'Jin Ling' die organisi- te mafiöse Kriminalität unterstütze. Dass sie durch ihren Zigarettenkauf aber unter Umständen den von Armut bedrohten Menschen an der EU-Außengrenze helfe, auf diese Idee sei sie noch gar nicht gekommen. Diese Begebenheit lässt die Komplexität des heutigen Zigarettenschmuggels erahnen, der sowohl die Europäische Union (EU) als auch angrenzende Staaten umfasst. Waren und Menschen überqueren oft mehrere Staatsgrenzen, bis die Zi- rette von ihrem Fertigungsort zum Konsumenten gelangt. An der weit verzweigten Handelskette verdienen viele Personen in vielen Ländern und in unterschiedlichen Funktionen: Verkäufer, Transporteure, Lageristen, um nur einige von ihnen zu nennen. Letztlich lohnt sich der Kauf von Schmuggelware auch für den End- nehmer, was die Voraussetzung für die Wirtschaftlichkeit des Schmuggels ist.

Bettina Bruns ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig.

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Leseprobe
4 Zur Methode (S. 101-102)

4.1 Datenerhebung

Welche Rolle spielen Schmuggel und Kleinhandel in Haushaltsstrategien und Lebensführung Einzelner in der Armutsökonomie an der polnisch-russischen Grenze? Wie sehen Lebenswelten von Menschen aus, die Schmuggel über die polnischrussische Grenze treiben? Wie erzeugen sie ihre jeweilige Wirklichkeit? Um Antworten auf solche Fragen finden zu können, reicht es nicht aus, Fragebögen an schmuggelnde Personen zu schicken und auf Antwort zu warten.

Aufgrund der Illegalität dieser Beschäftigung und der Anonymität beim Einsatz quantitativer Methoden, der ein persönliches Kennenlernen und den Aufbau einer Vertrauensbeziehung nicht zulässt, hätte ein quantitativer Zugang keine validen Ergebnisse hervorbringen können. Zunächst einmal musste ich Schmuggler ausfindig machen. Dann musste ich sie kennenlernen, Vertrauen aufbauen, einen Zugang zu ihnen bekommen, um schließlich Interviews mit ihnen führen zu können.

Darüber hinaus musste ich Kontextwissen über Bartoszyce sammeln, was mich in Bibliotheken, an die Universität in Olsztyn, auf ausgedehnte Spaziergänge führte und ins Gespräch mit lokalen „Experten“ brachte. Regelmäßig kaufte ich die Lokalzeitung, war im Ort präsent und beobachtete, was um mich herum passierte – auf dem Markt, an der Grenze, in Geschäften, in der Nachbarschaft. Mit anderen Worten: Ich betrieb ethnographische Feldforschung. In diesem Kapitel werde ich zunächst diese Forschungsrichtung kurz vorstellen, um dann auf die konstitutiven Elemente und Probleme meiner eigenen empirischen Forschung einzugehen.

4.1.1 Ethnographische Feldforschung


„From my viewpoint, ethnography is the more general process of understanding another human group (...)“ (Agar 1996: 121). Dieser Grundannahme folgend, drängen sich Fragen auf: Wie sieht dieser Prozess aus? Welche Methoden gestalten ihn? Ziel des ethnographischen Verfahrens ist die verstehende Beschreibung von kleinen sozialen Lebenswelten, von sozial (mit-)organisierten Ausschnitten individueller Welterfahrungen (vgl. Honer 2004: 195).

Um das zu erreichen, muss eine Perspektivenübernahme durch den Forscher stattfinden, d.h., er sollte möglichst zum beobachtenden Teilnehmer der thematisierten sozialen Veranstaltung werden (vgl. Honer 1994: 89, Girtler 1984: 63f.). Das impliziert zweierlei: Erstens setzt die Aktivität eines beobachtenden Teilnehmers voraus, dass es etwas zu beobachten gibt, und dass der Forscher dazu Zugang hat. Ist dies gelungen, hängt der Erfolg der Datenerhebung zweitens davon ab, wie der Forscher seine Rolle vor den Teilnehmern der ihn interessierenden sozialen Situation plausibilisieren kann.

Diese beiden Vorgänge – Feldzugang und Plausibilisierung der Rolle des Forschers – bilden zwei Voraussetzungen für einen längeren informativen Aufenthalt im Forschungsfeld, was wiederum eine Prämisse jeder ethnographischer Forschung ist (vgl. Lüders 2004: 391f.). „Ethnographic relationships are long-term and diffuse“ (Agar 1996: 120). Der Aufbau von Vertrauensverhältnissen zwischen Forscher und den interessierenden Personen, der eine Voraussetzung für erfolgreiche Feldforschung ist, braucht Zeit. Dies gilt umso mehr für Forschungsgebiete, die wie z.B. der Schmuggel, zu „sensitive topics“ (vgl. Lee 1993) zählen. Erst die umfangreiche Kenntnis der Lebensbedingungen in der Region ermöglicht die "ethnographische Rückversicherung" (vgl. Böhnisch, Funk 1989).
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Danksagung5
Inhaltsverzeichnis6
Abkürzungsverzeichnis8
Abbildungsverzeichnis9
Tabellenverzeichnis10
1 Einleitung12
2 Theoretischer Rahmen20
2.1 Transformation aus theoretischer Sicht20
2.1.1 Transformation als zielgerichtete Modernisierung20
2.1.2 Transformation als offener Aushandlungsprozess22
2.2 Der Transformationsprozess in Polen26
2.2.1 Voraussetzungen des Transformationsprozesses in Polen: Staat versus Gesellschaft27
2.2.2 Merkmale des Transformationsprozesses in Polen32
2.3 Theorie der alltäglichen Lebensführung39
2.4 Armutskonzepte: Armut als subjektorientierter Prozess43
2.5 Ökonomische Strategien armer Haushalte45
2.5.1 Die informelle Ökonomie53
2.5.2 Die informelle Ökonomie in Polen56
2.6 Fazit59
3 Schmuggel in der Grenzstadt Bartoszyce60
3.1 Die Stadt Bartoszyce60
3.1.1 Historischer Abriss: Von Bartenstein nach Bartoszyce60
3.1.2 Das Erbe der Transformation: Die sozioökonomische Situation in Bartoszyce seit Anfang der 1990er Jahre65
3.2 Hintergrund: Die polnisch-russische Grenze76
3.2.1 Historische Entwicklungslinien76
3.2.2 Die Grenze heute: Die Grenze zwischen Polen und Kaliningrad in ihrer Funktion als EU-Außengrenze81
3.3 Synthese: Bartoszyce als Grenzstadt92
3.4 Bemerkungen zum Forschungsstand97
4 Zur Methode100
4.1 Datenerhebung100
4.1.1 Ethnographische Feldforschung101
4.1.2 Ethnographische Feldforschung in Bartoszyce103
4.2 Datenauswertung120
5 Analyse des empirischen Materials122
5.1 Anatomie des Schmuggels: Bartoszyce – Bagrationowsk und zurück122
5.1.1 Rahmenbedingungen des Schmuggels134
5.1.2 Ausgestaltung des Schmuggels durch Schmuggler148
5.1.3 Fazit172
5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung174
5.2.1 Vom Einzelfall zum Typus: Die Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen175
5.2.2 Zuordnung der Fälle179
5.2.3 Charakterisierung der gebildeten Typen182
5.2.3.1 Typ „Professioneller Unternehmer“: „Geld muss immer im Haus sein“183
5.2.3.2 Typ „Starker Existenzsicherer“: „Also hier geht es nur um die Kinder“193
5.2.3.3 Typ „prekärer Multiverdiener“: „Wir haben zwei Einkommen, aber sind gezwungen, nach Russland zu fahren”205
5.2.3.4 Typ „pragmatischer Kompensierer“: „Das ist illegale Arbeit. Aber das ist verdientes Geld dank meiner Arbeit“218
5.2.3.5 Typ „abenteuerlustiger Nebenverdiener“: „Ich fuhr so ein bisschen zum Vergnügen, zur Unterhaltung“235
5.2.4 Fazit246
6 Schlussbemerkungen253
7 Bibliographie258

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