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Geschichte des eigenen Lebens

Vollständige Ausgabe

AutorSalomon Maimon
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl189 Seiten
ISBN9783849631161
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Salomon Maimon war ein Philosoph und jüdischer Aufklärer. Dies ist seine Autobiographie.

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Leseprobe

Vierzehntes Kapitel


 


 Ich studiere die Kabbala und werde endlich gar ein Arzt.

 

Kabbala – um von dieser göttlichen Wissenschaft etwas ausführlicher zu reden – im weiteren Sinn heißt Überlieferung und begreift nicht nur die geheimen Wissenschaften, die nicht öffentlich gelehrt werden dürfen, sondern auch die Methode, aus den in der Heiligen Schrift vorkommenden Gesetzen neue Gesetze herzuleiten, wie auch einige Fundamentalgesetze, die dem Moses auf dem Berge Sinai mündlich überliefert worden sein sollen. Im engeren Sinn aber heißt Kabbala bloß die Überlieferung geheimer Wissenschaften. Diese wird in theoretische und praktische Kabbala eingeteilt. Jene begreift in sich die Lehre von Gott, seinen Eigenschaften, die durch seine mannigfaltigen Namen ausgedrückt werden, die Entstehung der Welt durch eine stufenweise Einschränkung seiner unendlichen Vollkommenheit und das Verhältnis aller Dinge zu seinem höchsten Wesen. Diese ist die Lehre, durch die mannigfaltigen Namen Gottes, die besondere Wirkungsarten und Beziehungen auf die Gegenstände der Natur vorstellen, nach Belieben auf sie zu wirken. Diese heiligen Namen werden nicht als bloß willkürliche, sondern als natürliche Zeichen betrachtet, so daß alles, was mit diesen Zeichen vorgenommen wird, auf die Gegenstände selbst, die sie vorstellen, Einfluß haben muß.

 

Das Hauptwerk, um daraus die Kabbala zu studieren, ist der Sohar, der in einem sehr erhabenen Stil in syrischer Sprache geschrieben ist. Alle anderen kabbalistischen Schriften sind bloß als Kommentare oder Auszüge desselben zu betrachten.

 

Es gibt zwei Hauptsysteme der Kabbala, nämlich das System des Rabbi Moses Cordovero (starb 1570) und das System des Rabbi Isaak Lurja (1534–1572). Jener ist mehr reell, d.h. er nähert sich mehr der Vernunft als dieser. Dieser hingegen ist mehr formell, d.h. vollständiger in dem Bau seines Systems als jener. Die neueren Kabbalisten ziehen diesen jenem vor, weil sie nur das für echte Kabbala halten, worin kein vernünftiger Sinn ist. Das Hauptwerk des Rabbi Moses Cordovero ist das Pardeß (Paradies). Von Rabbi Isaak Lurja selbst hat man einige unzusammenhängende Schriften. Sein Schüler aber, Rabbi Chajjim Vital (1543–1620), hat ein großes Werk unter dem Titel: Ez Chajjim (der Baum des Lebens), worin das ganze System seines Lehrers enthalten ist, geschrieben. Dieses Buch wird von den Juden für so heilig gehalten, daß sie es nicht erlauben, es dem Druck zu übergeben. Natürlich fand ich mehr Geschmack an der Kabbala des Rabbi Moses als an der des Rabbi Isaak, durfte aber meine Meinung hierüber nicht äußern.

 

Nach dieser Abschweifung über die Kabbala überhaupt kehre ich zu meiner Geschichte zurück. Ich erfuhr, daß der Unterrabbiner oder Prediger des Ortes ein kabbalistischer Adept sei und machte also zur Erreichung meines Endzwecks mit ihm Bekanntschaft, nahm meinen Platz in der Synagoge neben ihm, und da ich einst merkte, daß der Prediger immer nach dem Gebete in einem kleinen Buche las und es alsdann auf der Stelle verwahrte, so wurde ich sehr begierig zu wissen, was dieses für ein Buch sein möchte.

 

Nachdem also der Prediger nach Hause gegangen war, ging ich und holte dieses Buch aus dem Orte, wo jener es versteckt hatte, und da ich fand, daß es ein kabbalistisches Buch war, so nahm ich es zu mir und versteckte mich damit in einen Winkel in der Synagoge, bis alle Leute aus derselben gegangen und die Synagoge geschlossen war.

 

Nachher kroch ich aus meinem Schlupfwinkel hervor und las in meinem geliebten Buche so lange, bis der Schließer des Abends die Synagoge wieder aufmachte, ohne den ganzen Tag über an Essen oder Trinken zu denken.

 

Schaare Keduscha oder die Tore der Heiligkeit hieß dieses Buch und enthielt im kurzen alles Schwärmerische und Überspannte abgerechnet, die Hauptsachen der Psychologie. Ich machte es damit, wie die Talmudisten von dem Rabbi Mëir sagen, der einen Ketzer zum Lehrer hatte: Er fand einen Granatapfel, aß die Frucht und warf die Schale weg.

 

In ein paar Tagen wurde ich auf diese Art mit meinem Buche fertig. Dieses aber, anstatt meine Begierde zu befriedigen, reizte dieselbe noch viel mehr. Ich wünschte noch mehrere Bücher dieser Art zu lesen.

 

Da ich aber zu schüchtern war, um dieses dem Prediger zu entdecken, so beschloß ich, einen Brief an ihn zu schreiben, worin ich meine unwiderstehliche Begierde nach dieser heiligen Wissenschaft äußerte und daher den Prediger inständig bat, daß er mich mit Büchern unterstützen möchte.

 

Ich erhielt darauf von demselben eine sehr günstige Antwort. Er lobte meinen Eifer für diese heilige Wissenschaft und versicherte mir, daß dieser Eifer unter so wenig Begünstigung ein offenbares Merkmal sei, daß meine Seele von Olam Azilut (der Welt des unmittelbaren göttlichen Ausflusses) herkomme, anstatt daß die Seelen der bloßen Talmudisten von Olam Jezira (der Welt der Schöpfung) ihren Ursprung nehmen. Er versprach mir daher, mich, soviel in seinem Vermögen wäre, mit Büchern zu unterstützen.

 

Da er aber sich selbst hauptsächlich mit dieser Wissenschaft beschäftigte und dergleichen Bücher beständig bei der Hand haben mußte, so konnte er mir dieselben nicht leihen, erlaubte mir aber, sie in seinem eigenen Hause nach Belieben zu studieren.

 

Wer war froher als ich? Ich nahm dieses Anerbieten des Predigers mit Dankbarkeit an, kam beinahe nicht aus seinem Hause und saß Tag und Nacht über den kabbalistischen Büchern.

 

Besonders machten mir zwei Vorstellungen die größte Mühe. Die eine war der Baum oder die Vorstellung der göttlichen Ausflüsse nach ihren mannigfaltigen Krümmungen und Verwickelungen untereinander. Die zweite war Gottes Bart, dessen Haare in mannigfaltige Klassen, deren jede etwas Eigentümliches hat, verteilt sind, und worin jedes Haar eine besondere Ableitung der göttlichen Gnade ist. Bei aller Anstrengung konnte ich darin keinen vernünftigen Sinn finden.

 

Mein beständiger Besuch aber inkommodierte den Herrn Prediger ungemein. Er hatte seit kurzer Zeit eine sehr hübsche junge Frau geheiratet, und da sein elendes Häuschen aus einem einzigen Zimmer bestand, welches zugleich Wohn-, Studier- und Schlafstube war, und wo ich ganze Nächte durch wachte, so kam meine Übersinnlichkeit mit des Predigers Sinnlichkeit nicht selten in Kollision.

 

Dieser dachte folglich auf Mittel, den angehenden Kabbalisten auf eine gute Art loszuwerden. Er sagte mir daher einst: »Ich merke, daß es Sie zu sehr inkommodieren muß, der Bücher wegen Ihre Zeit beständig außer Ihrem Hause bei mir zuzubringen. Sie können sie in Gottes Namen einzeln mit nach Hause nehmen und also nach Ihrer Kommodität studieren.«

 

Mir war nichts willkommener als dieses. Ich nahm daher von dem Prediger ein Buch nach dem andern nach Hause und studierte darin so lange, bis ich die ganze Kabbala innezuhaben glaubte. Ich begnügte mich nicht bloß mit der Erkenntnis ihrer Prinzipien und mannigfaltigen Systeme, sondern suchte auch von diesen den gehörigen Gebrauch zu machen. Es war keine Stelle in der Heiligen Schrift oder im Talmud anzutreffen, deren geheimen Sinn ich nicht aus kabbalistischen Prinzipien mit der größten Fertigkeit hätte herauswickeln können.

 

Ein Buch, Schaare Ora betitelt, kam mir hierin sehr zustatten. In diesem Buche werden die mannigfaltigen Namen einer jeden der zehn Sephirot (der Hauptgegenstand der Kabbala) hergezählt, so daß eine jede derselben hundert oder mehr Namen hat. In einem jeden Wort eines Verses in der Bibel oder einer Stelle im Talmud fand ich also den Namen irgendeiner Sephira. Da ich nun die Eigenschaft einer jeden Sephira und ihr Verhältnis zu den übrigen wußte, so konnte ich leicht aus der Kombination der Namen ihre zusammengesetzte Wirkung herausbringen.

 

Um dieses durch ein kurzes Beispiel zu erläutern, so fand ich im gedachten Buche, daß der Name JHWH die obersten sechs Sephirot, die ersten drei nicht mitgerechnet, die Person der Gottheit generis masculini vorstelle, das Wort ko aber die Schechina (die »Einwohnung« Gottes in der Welt) oder die Person der Gottheit generis feminini bedeute, und das Wort amar die Geschlechtsverbindung anzeige. Ich legte daher diese Worte ko amar JHWH (»so spricht JHWH«) auf folgende Art aus: JHWH verbindet sich mit der Schechina, und dieses ist erzkabbalistisch und dergleichen. Da ich also diese Stelle in der Bibel las, so dachte ich mir nichts anderes, als daß, indem ich diese Wörter aussprach und dabei diesen ihren geheimen Sinn dachte, unter diesen göttlichen Eheleuten eine wirkliche Verbindung vorgehe, wovon die ganze Welt den Segen zu erwarten habe. Wer kann den Ausschweifungen der Einbildungskraft, wenn sie nicht durch Vernunft geleitet wird, Einhalt tun?

 

Mit...

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