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Absichten, Pläne, Strategien

Erkundungen einer historischen Intentionalitätsforschung

VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl366 Seiten
ISBN9783593439778
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis41,99 EUR
Dass Menschen absichtsvoll handeln, dass sie planen und Strategien ausarbeiten, zeigt sich im Alltag ebenso wie in historischen Quellen. Zu erforschen, welche Motive und Überzeugungen mittelalterliche Akteurinnen und Akteure zum Handeln veranlasst haben, ist eine methodologische und theoretische Herausforderung, der sich die Mediävistik bislang selten gestellt hat. Der Band geht diesen Fragen anhand von Fallbeispielen nach und gibt damit Anstöße zu einer historischen Intentionalitätsforschung.

Jan-Hendryk de Boer, Dr. phil., ist als Postdoc am Graduiertenkolleg »Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln« an der Universität Duisburg-Essen tätig. Marcel Bubert, Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Münster.

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Leseprobe
Absichten, Pläne und Strategien erforschen: Einleitung Jan-Hendryk de Boer, Marcel Bubert Ist Intentionalität ein Thema der Geschichtswissenschaft? Es gäbe manche Gründe dafür, diese Frage verneinend zu beantworten. Bereits ein rascher Blick in einschlägige geschichtstheoretische und -methodologische Darstellungen und Handbücher zeigt, dass die Rolle von Intentionalität und geistigen Zuständen historischer Akteurinnen und Akteure - von der Ausnahme der ideengeschichtlichen Diskussion abgesehen - nur selten thematisiert wird. Ein anderes Bild ergeben konkrete Studien: Hier wird zwar ebenfalls nur in Ausnahmefällen das Phänomen der Intentionalität theoretisch eingeholt, zugleich finden sich jedoch in großer Regelmäßigkeit Aussagen zu Absichten, Plänen und Strategien, die Handelnde verfolgt hätten. Banaler Weise macht es in der historischen Erklärung einen Unterschied, ob ein Herrscher unbeabsichtigt durch eine als Unfall anzusehende Handlung starb, oder ob er absichtlich ermordet wurde. Immer wieder stellt sich die Frage, ob Akteure mit ihrem Handeln einen größeren Plan verfolgten und bestimmte Ziele anstrebten oder ob ihr Handeln rein situativ motiviert war. War die Krise der römischen Republik im 1. Jahrhundert v. Chr. ein sich individueller Beeinflussung weitgehend entziehender Prozess, oder nutzten personale und kollektive Akteure strategisch Offenheiten, die ihnen aus strukturellen Gegebenheiten erwuchsen? War die sogenannte karolingische Renaissance durchweg oder überwiegend Resultat gezielter Anstrengungen von Hof und Kirche? Gab es eine planvolle ottonische ?Rom- und Ostpolitik?, oder sind die entsprechenden Maßnahmen als reaktive Antworten auf je aktuelle Herausforderungen zu verstehen? Plante man im Vierten Kreuzzug die Eroberung Konstantinopels, oder war diese ein Betriebsunfall? Beabsichtigten die Wittenberger und Zürcher Theologen der 1510er und 1520er Jahre zunächst eine Reform der Kirche von innen heraus, oder strebten sie einen Bruch mit der bestehenden institutionellen Ordnung an? War die Umgestaltung des Systems der Hohen Schulen im späten 17. und 18. Jahrhundert, die sich etwa in der Gründung der Aufklärungsuniversitäten Halle und Göttingen organisatorisch manifestierte, planvolles Handeln oder ein emergentes Phänomen? Schlitterten die Politiker im Jahre 1914 schlafwandlerisch in einen großen Krieg hinein, oder gab es einflussreiche Gruppierungen, die einen solchen möglicherweise nicht wünschten, aber doch als Risiko einkalkulierten? Ist es Resultat strategischen Handelns, dass es marginalisierten Gruppen im Laufe des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Gesellschaftssystemen gelang, Agency zu erwerben und hegemoniale Ordnungen, wenn nicht aufzulösen, so doch zu verändern? All diese Fragen, so glauben wir, lassen sich nicht befriedigend beantworten, ohne auf Absichten, Pläne und Strategien der beteiligten Akteurinnen und Akteure zu rekurrieren. 1. Was bisher geschah: Intentionalität und Geschichtswissenschaft Die Unbekümmertheit, mit welcher die historische Forschung derartige Fragen nicht selten mit sehr konkreten Aussagen über das Wollen, die Absichten und Ziele der Akteure beantwortet, ohne ihre intentionalistischen Annahmen theoretisch zu reflektieren, steht freilich in einem durchaus merkwürdigen Widerspruch zu der Tatsache, dass in den jüngeren historischen Kulturwissenschaften im Zeichen von Körpergeschichte, Materialität und Praxeologie die Rückführung von Praktiken auf Mentales teils heftig kritisiert und einem Mentalismus eine entschiedene Absage erteilt wurde. Stattdessen wurde für eine Dezentrierung des Subjekts plädiert, die zugleich als Dezentrierung des Mentalen verstanden wurde. Jedenfalls erscheint es zunächst verwunderlich, dass so häufig leichtfertig von Intentionen die Rede ist, obwohl die leitenden Theoriekonzepte der neueren Kulturwissenschaft gerade solche Erklärungsmodelle etabliert haben, in denen intentionales Handeln teilweise offensiv abgelehnt, teilweise zugunsten anderer Aspekte in den Hintergrund gedrängt wird. Die Depotenzierung oder Ausklammerung des handelnden und die Geschichte bestimmenden Subjekts hat eine lange und vielschichtige Vorgeschichte, die bis heute nachwirkt und für das hier zu diskutierende Problem von zentraler Bedeutung ist. Während noch etwa Friedrich Meinecke, als repräsentative Figur der deutschen Geschichtswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Krise des Historismus mit einer umso entschiedeneren Betonung von Individualität und menschlicher Freiheit begegnete und weiterhin davon sprach, dass der 'Geist [...] eine geschichtliche Welt hat erschaffen können', so wurde der Status des intentionalen Subjekts im Laufe des Jahrhunderts in verschiedenen Kontexten zunehmend prekär. Die Subjektkonzeption, die sich als cogito oder transzendentale Instanz in der Tradition von Descartes und Kant sowie wenig später als schöpferisches Individuum im ästhetischen Diskurs der Romantik herausgebildet hatte, erfuhr bereits mit Freuds Kategorie des Unbewussten oder Heideggers Betonung einer gegenüber dem Einzelnen übermächtigen Ereignishaftigkeit der Geschichte eine entschiedene Relativierung. Von besonderer Relevanz für die Zurücksetzung des Subjekts in der Geschichtswissenschaft, um die es hier primär geht, wurde allerdings einerseits der Marxismus, dessen den dialektischen Prozess privilegierende Geschichtsphilosophie für Intentionalität wenig Raum ließ, vor allem aber andererseits die ?Strukturgeschichte? in ihren französischen wie deutschen Spielarten. Die Schule der Annales propagierte in Frankreich eine Form der Sozialgeschichte, die bewusst nicht mehr die Handlungen einzelner Personen, sondern gesellschaftliche Strukturen und langfristige Entwicklungen (in der longue durée) in den Blick nahm. Fernand Braudel, der wesentlich den Begriff der longue durée prägte, betonte in seiner berühmten Habilitationsschrift über Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. von 1949 wiederholt die Vorrangigkeit größerer Strukturen gegenüber den partikularen Handlungen der Individuen. Diese tendenzielle Ausklammerung des Subjekts zugunsten von Strukturen und Prozessen fand in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, prominent mit dem Namen Hans-Ulrich Wehlers verbunden, eine wirkmächtige Entsprechung. Die prinzipielle Rolle, die dem handelnden Subjekt in der Strukturgeschichte zugewiesen wurde, hat nicht ganz zufällig eine einschlägige Parallele in jener Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, die als Strukturalismus bezeichnet wird. Nicht zuletzt angeregt durch die Begegnung mit dem Linguisten Roman Jakobson zu Beginn der 1940er Jahre, war es insbesondere Claude Lévi-Strauss, der die Methode der von Ferdinand de Saussure begründeten strukturalen Sprachwissenschaft auf die Untersuchung nichtlinguistischer Phänomene übertrug und damit das Denken in Positionen und Differenzen, in ?Strukturen?, zum zentralen Prinzip seiner strukturalen Anthropologie machte. Das Erkenntnisziel der Analysen von Mythen oder Verwandtschaftssystemen, die Lévi-Strauss vornahm, besteht darin, durch 'allmähliche Vereinfachungen' das 'Strukturgesetz' eines kulturellen Zusammenhangs, im Sinne einer invarianten Metastruktur, zu erschließen. Intentionale Subjekte spielen auch hier keine Rolle. Die Überbetonung der Struktur zuungunsten des Subjekts, die sich sowohl im Strukturalismus als auch in der Sozialgeschichte französischer und deutscher Prägung manifestiert, sollte freilich in dieser Form nicht unwidersprochen bleiben. Schon die Mentalitätsgeschichte rückte Phänomene des Mentalen, allerdings vorrangig auf der Ebene von Kollektiven, ins Zentrum ihrer Untersuchungen. In kritischer Auseinandersetzung sowohl mit der Mentalitäts- wie der Strukturgeschichte haben die Historische Anthropologie und die Alltagsgeschichte seit Beginn der 1980er Jahre wieder eine stärkere Aufmerksamkeit für das sinnstiftende Handeln historischer Individuen gefordert. Ausgehend von Clifford Geertz' an Max Weber angelehnte Definition von Kultur als ?selbstgesponnenem Bedeutungsgewebe? führte diese kulturgeschichtliche Wende in der Geschichtswissenschaft zu einem neuen Interesse an der 'Subjektivität in der Geschichte'. Die Historische Anthropologie betont erneut den 'produktive[n] Umgang des Menschen mit seiner sozialen, kulturellen und materiellen Umwelt' und verweist auf die aktive Rolle des Menschen als 'Mitproduzenten von Strukturen', der insofern als '?Träger? von Geschichte ernstzunehmen' sei. Auch wenn in dieser Form der Kulturgeschichte keine theoretische Reflexion - im Sinne unseres Bandes - über die mentalen Zustände, die mit diesen produktiven Tätigkeiten der Akteure verbunden sind, angestellt wurden, so führte die Rückbesinnung auf die sinnstiftende Praxis der Individuen dennoch zu einer neuen Aufwertung subjektiven Handelns gegenüber den vormals privilegierten Strukturen. Dass sich im Anschluss an diese Entwicklung aber gerade keine vertiefte Auseinandersetzung mit der Frage nach den geistigen Zuständen der Subjekte und erst recht keine theoretische Konzeptualisierung intentionalen Handelns ergeben hat, liegt zweifellos unter anderem darin begründet, dass sich zeitlich parallel, und insbesondere seit den 1990er Jahren, eine Reihe von interdisziplinär dominierenden Theoriekonzepten der Kulturwissenschaften als Bezugspunkte der jüngeren Forschung etabliert haben, die entweder auf eine dezidierte Negation von Intentionalität oder auf deren Vernachlässigung zugunsten anderer Gesichtspunkte hinauslaufen. Am radikalsten sind hier ohne Frage die Ansätze des sogenannten Poststrukturalismus, die in den 1960er Jahren von französischen Theoretikern formuliert wurden: Ausgehend von der unhintergehbaren Einbindung des Einzelnen in die Zeichensysteme und Sprachregelungen seiner Kultur, erscheint das Subjekt nicht als Urheber seiner Aussagen, sondern als Schnittpunkt von Diskursen, deren Vorgaben es reproduziert. L'ordre du discours ist nicht nur die 'Ordnung', sondern auch der 'Befehl' des Diskurses, dem der Sprecher ausgesetzt ist. Diese mit dem Schlagwort des linguistic turn verbundene Ansicht hat eine radikale Subjektdezentrierung zur Folge, die intentionales Handeln und Sprechen entweder überhaupt nicht vorsieht oder lediglich als Produkt von Diskursen oder epistemischen Ordnungen begreift. Roland Barthes verkündete in seinem berühmten Essay von 1968 den Tod des Autors, dessen Intentionen für die Interpretation von Texten irrelevant seien, eine Position, die Michel Foucault wenig später auf die Spitze trieb. Die Ansätze des französischen Poststrukturalismus, zu denen auch Jacques Derridas Konzept der Dekonstruktion sowie Jacques Lacans Reformulierung der Psychoanalyse zählen, sind in den vergangenen 25 Jahren, erfolgreich propagiert etwa von Philipp Sarasin, verstärkt in der Geschichtswissenschaft rezipiert worden. Aus einer anderen Richtung kommend, aber ebenfalls sehr verbreitet als Theoriefundament der jüngeren deutschen Geschichtswissenschaft ist ferner die soziologische Systemtheorie. In ihrer einflussreichsten Form, der Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann, wird der Subjektbegriff durch die operationale ?Selbstreferenz? sozialer und psychischer Systeme obsolet: Die Vorstellung eines bewussten Subjekts wird erst durch binäre Schematismen des Systems ermöglicht (richtig oder falsch, gut oder böse zu handeln), das Subjekt 'verdankt seine Möglichkeit dieser Vorgabe, nicht sich selbst.' Entscheidender als diese Dekonstruktion des transzendentalen Subjekts sind aber die damit verbundenen methodischen Konsequenzen für systemtheoretisch orientierte Analysen, in denen handelnde Subjekte schlicht keine Rolle spielen: Insofern soziale Systeme nicht aus ?Menschen?, sondern aus Kommunikation bestehen, interessiert sich ein systemtheoretischer Ansatz nicht für die Intentionen der Akteure, die kommunizieren, sondern für die Autopoiesis, die ?Selbsterzeugung? des Systems. Diese folgt einer spezifischen Eigenlogik, einer Systemrationalität, welche den Aufbau interner Strukturen reguliert. In einer an Luhmann angelehnten Perspektive ist es möglich, gesellschaftliche Teilbereiche - etwa Politik oder Wissenschaft - als kommunikative Zusammenhänge zu beschreiben, ohne auch nur einmal nach den individuellen Absichten der darin agierenden Akteure zu fragen. Im Zuge der sich geradezu überschlagenden cultural turns der letzten Jahre haben sich in den Kulturwissenschaften einige Ansätze herausgebildete, die zwar weniger als die Diskurs- oder Systemtheorie eine dezidierte Zurückweisung von Intentionalität beinhalten, wohl aber durch ihre spezifischen Perspektiven effektiv dazu beitragen, den theoretischen Blick der Forschung von intentionalem Handeln fernzuhalten. Dazu zählen etwa der spatial turn oder der material turn. Die Forschungen zur Materialität von Medien, räumlichen Ensembles oder nicht-menschlichen ?Aktanten? haben allesamt die prägende Rolle von ?Objekt-? oder ?Dingkulturen? in den Vordergrund gerückt. Von Interesse sind hier gerade nicht die Absichten menschlicher Subjekte, sondern die kulturellen Wirkungen der ?Agency? von Stadttopographien und Gebäudestrukturen, Kommunikationstechnologien, von Requisiten und Instrumenten der alltäglichen Praxis. Besonders einflussreich in diesem Theoriefeld ist die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), in deren Kontext Bruno Latour für eine ?symmetrische Anthropologie? plädiert hat, welche das kulturelle ?Handeln? nicht-menschlicher Aktanten zu seinem Recht kommen lässt. Den vielleicht wichtigsten theoretischen Zugang der neueren historischen Kulturwissenschaft, und die - auf den ersten Blick - möglicherweise größte Herausforderung für den vorliegenden Band, stellt schließlich die auf Basis der Schriften Pierre Bourdieus konzipierte praxeologische Forschung dar. Da es sich hierbei um eine ?Praxistheorie? handelt, wäre man geneigt, hier einen Handlungsbegriff zu erwarten, der dem von uns angestrebten Verständnis nahe kommt. Doch weit gefehlt: Bourdieus Habituskonzept zielt nicht auf die Grundlage intentionalen Handelns, sondern auf einen im Sozialisationsprozess ?inkorporierten? Schematismus, der die unreflektierte Reproduktion eingeübter Verhaltensformen hervorruft. Nicht ohne Grund bezeichnet Bourdieu seinen Habitus als 'generative Grammatik der Handlungsmuster' und verwendet damit einen Begriff, der bei Noam Chomsky gerade auf die völlig unbewusste, dem Einzelnen nicht transparente und nicht intendierte Anwendung von Transformationsregeln im Sprachgebrauch abzielt. Von Bourdieus Subjektkritik ausgehend, haben diejenigen Historiker, die den praxistheoretischen Ansatz aufgegriffen haben, nicht selten eine durchaus antimentalistische Stellung bezogen. Wenn Marian Füssel, als einer der entschiedensten Verfechter der Praxeologie in der historischen Vormoderneforschung, eine 'Rückkehr des ?Subjekts? in der Kulturgeschichte' nahelegt, dann geht es ihm keinesfalls um eine neuorientierte Erforschung intentionaler Handlungen, sondern um einen 'Perspektivenwechsel von den Subjekten zu den Praktiken beziehungsweise einer praxeologisch angeleiteten Theorie eines ?dezentrierten Subjekts?.' Die praxeologische Perspektive mit ihrem Fokus auf Praktiken, inkorporierten kollektiven Verhaltensformen und symbolischen Performanzen haben zahlreiche Arbeiten der jüngeren Geschichtswissenschaft im Anschluss an Bourdieu übernommen und für einschlägige empirische Studien und konzeptionelle Weiterführungen angewandt. Eine prinzipiell antimentalistische und Intentionen ausklammernde Herangehensweise ist dabei allerdings selbst in Bezug auf solche Themen zu beobachten, die - wie etwa ?Entscheiden? - in der konkreten historischen Darstellung kaum ohne intentionalistische Begriffe auskommen können. So hält etwa Barbara Stollberg-Rilinger in einem Einführungsbeitrag über ?Praktiken des Entscheidens?, in dem sie das Programm des Münsteraner Sonderforschungsbereichs zu 'Kulturen des Entscheidens' skizziert, fest: 'Zweitens fassen wir Entscheiden nicht als primär mentales Geschehen, das dem Handeln individueller Akteure vorausgeht, sondern als soziales, kommunikatives Geschehen. [...] Damit nehmen wir insofern eine praxeologische Perspektive im Sinne dieser Tagung ein, als wir die Beobachtung von individuellen Intentionen auf kommunikative Vollzüge verschieben.' Man darf die Praxeologie, wie vielfach zu Recht betont wurde, nicht vorschnell mit sozialem Determinismus verwechseln: Die oben angesprochene Neuakzentuierung des aktiven Anteils menschlicher Subjekte an der Produktion gesellschaftlicher Strukturen, welche die Historische Anthropologie artikuliert hat, macht sich auch die Praxisforschung zu eigen. Zudem hat Marian Füssel das von Michel de Certeau formulierte Konzept der ?Aneignung? ins Spiel gebracht, welches es erlaubt, die aktive und reflektierte Auseinandersetzung der Akteure mit vorgefundenen Strukturen und Subjektformen in den Blick zu nehmen. Diese Aneignung kann eine bewusste und gezielt herbeigeführte Modifizierung und Transformation des Gegebenen im eigenen Interesse bewirken - ein Gedanke, der eine Determination des Subjekts durch den Habitus unterwandert. Insofern wir die Auseinandersetzung einzelner oder kollektiver ?Subjekte? mit den Verhältnissen ihrer ?Lebenswelt? , den sozialen und kulturellen Kontexten ihres Handelns, für essentiell halten, sehen wir bei derartigen Ansätzen Anschlussfähigkeit für unser Konzept; dennoch glauben wir, dass gerade dort in der Theoriebildung eine Leerstelle geblieben ist, wo solche reflektierten und gezielten Maßnahmen, also intentionale Handlungen, der Akteure behauptet werden. Eine theoretische Reflexion über die intentionalistischen Annahmen, die mit dieser Perspektive unweigerlich einhergehen, hat bislang jedenfalls nicht stattgefunden. Hier wäre anzusetzen: Eine Differenzierung verschiedener Kategorien intentionalen Handelns, wie wir sie in diesem Band mit den Begriffen ?Absichten?, ?Pläne? und ?Strategien? vorschlagen, kann auch diesen Ansatz in entscheidender Hinsicht ergänzen und weiterführen. 2. Vom Reiz, nach dem Warum zu fragen. Intentionalität und Handlung Ein wichtiger Grund für die Konjunktur antimentalistischer Überzeugungen liegt in der auch aus unserer Sicht berechtigten Sorge vor Akteurskonzepten, die diesen die vollständige Kontrolle über ihr Tun zuweisen und annehmen, ihnen seien ihre Absichten so transparent, dass absichtsvolles Handeln zum bevorzugten Mittel der Weltgestaltung werden könne. Kontingenzen wären in dieser Perspektive eine Herausforderung, die von Tatmenschen willentlich bewältigt würde - eine Ansicht, die nicht nur theoretische Probleme mit sich bringt, sondern auch empirisch kaum zu bestätigen ist. Angesichts derartiger Untiefen mag es klug erscheinen, Intentionalität theoretisch auszuklammern oder sogar als legitime Forschungsperspektive zu negieren. Dabei, so wollen diese Einleitung und die folgenden Beiträge darlegen, sollte es jedoch nicht bleiben. Denn die Ubiquität intentionalistischer Aussagen in historischen Studien zeigt, dass es weder möglich noch sinnvoll ist, auf diese gänzlich zu verzichten. Blinde Flecken in der eigenen Analysearbeit sind immer problematisch, da sie begünstigen, dass unter der Hand inadäquate und längst überwunden geglaubte Vorstellungen über die Rolle von Absichten, Plänen und Strategien in historischen Prozessen tradiert werden. Wir wollen uns aber nicht darauf beschränken, für diesen blinden Fleck geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis zu sensibilisieren, auf dass intentionalistische Erklärungen umso erfolgreicher vermieden werden können. Vielmehr nehmen wir an, dass die Frage nach den geistigen Zuständen der historischen Akteurinnen für die Geschichtswissenschaft wie für die historischen Nachbardisziplinen unverzichtbar ist, um akteurszentrierte Erklärungen zu entwickeln. Bei allem Bemühen um eine Dezentrierung des Subjekts in den historischen Kulturwissenschaften bleibt die Frage nach der Intentionalität für die Beschreibung sozialer Prozesse unumgänglich, insofern nicht einseitig die Ebene der Strukturen gegenüber derjenigen der Handlungen privilegiert wird. Wie bereits ein oberflächlicher Blick auf neuere Darstellungen verrät, ist es den historischen Disziplinen nicht gelungen, trotz aller strukturalistischen Ambitionen und antimentalistischer Haltungen ihre Beschreibungssprache derart umzustellen, dass auf Begriffe wie Absichten, Pläne und Strategien verzichtet werden könnte. In steter Regelmäßigkeit finden sich in ganz unterschiedlichen Arbeiten Aussagen darüber, was ein historischer Akteur mit seinem Handeln bewirken wollte, welche Ziele eine Akteurin verfolgte oder welche Motive und Überzeugungen entscheidend für ein bestimmtes Tun waren. Gerade wenn vermieden werden soll, unkritisch nach den verborgenen Absichten großer Männer zu suchen oder arglos die Selbsterklärungen der Zeitgenossen über eigenes und fremdes Wollen und Wünschen zu reproduzieren, stellt sich die Herausforderung, wie die historische Analyse Zugriff auf mentale Phänomene gewinnen kann, die dann, wenn sie vergangen sind, nicht mehr direkt beobachtbar sind. Angesichts des unbefriedigenden Diskussionsstandes innerhalb der Geschichtswissenschaft ist es unerlässlich, Anregungen in den Nachbardisziplinen zu suchen: In der Philosophie sind Intentionen beziehungsweise Intentionalität ein intensiv diskutiertes Thema innerhalb der Philosophie des Geistes, ohne dass bislang in nennenswerter Weise in den historischen Fächern mit der naheliegenden Ausnahme der Philosophie- und Ideengeschichte auf die sich hier bietenden Möglichkeiten, konzeptionelle und begriffliche Schärfe abzuholen, reagiert worden wäre. In den Literaturwissenschaften wiederum stellt sich vor allem, seitdem die poststrukturalistische Begeisterung, mit der der Autor für tot erklärt worden ist, merklich abgeklungen ist, die Frage nach Intentionen bezüglich des Verhältnisses von Urheber und Werk mit neuer Dringlichkeit. Diskutiert wird erneut, inwiefern die Intentionen der Verfasserin beziehungsweise Annahmen über diese wesentlich sind, um deren Werke zu interpretieren, ohne dass, wie in den älteren Diskussionen, die Autorintention zum einzigen Schlüssel für das Verständnis erklärt würde. In der Ideengeschichte schließlich hat sich mit den ihrerseits an die Sprechakttheorie John Austins anschließenden Arbeiten Quentin Skinners etabliert, danach zu fragen, welche kommunikativen Absichten Autoren mit ihren Schriften verfolgten, eine Frage, die auch für Theologie- oder Philosophiegeschichte aufschlussreich wird, wenn Texte nicht immanent, sondern in ihren kommunikativen Zusammenhängen untersucht werden sollen. In kritischer Auseinandersetzung mit Skinner hat Mark Bevir entschieden für einen schwachen Intentionalismus ideengeschichtlicher Forschung plädiert. Dieser will die Bedeutung eines Werkes nicht strikt von den Intentionen des Autors abhängig machen, sondern stellt historische Bedeutungen, verstanden als die Bedeutungen, die historische Individuen Aussagen zugewiesen haben, ins Zentrum der Untersuchungen. Ideengeschichte zielt dann auf die systematische Rekonstruktion von Bedeutungszuschreibungen, die allerdings nicht willkürlich seien, sondern durch die Intentionen der Autoren geformt würden. Folgenreich ist die theoretische Entscheidung, ob Agency als wirkmächtiges Handeln, das kreativ sein und Routinen durchbrechen kann, auf einen entsprechenden Willen der Akteure zurückgeführt wird, oder ob derartige Potentiale im Körperlichen, im Unbewussten oder Zufälligen verortet werden. Analytisch ist es sinnvoll, bewusste Iteration gegen solche abzugrenzen, die habituell erfolgt, weil die entsprechenden Logiken von den Akteuren inkorporiert wurden und sich damit willentlicher Kontrolle weitgehend entziehen. Es ist aufschlussreich, bewusst eigensinnige Rezeptionsprozesse philosophischer, theologischer oder literarischer Texte, die über die Zurechnung von Intentionen erfolgen, von unwillentlichen Sinnzuschreibungen zu unterscheiden. In der Literatur oder Kunst sind Gattungen wie die Satire und die Karikatur nur dann in ihrer kommunikativen Stoßrichtung hinreichend zu erfassen, wenn man den Texten eine bestimmte Aussageabsicht zuweist. Andernfalls wäre ein Überzeichnen beobachtbarer Merkmale und Eigenschaften nicht als bewusste Praxis von darstellerischen Fehlern unterscheidbar. Judith Butler hat mit Bezug auf die Sprechakttheorie am Beispiel der hate speech gezeigt, dass es entscheidend für das Verständnis von deren Wirkweisen, aber auch für deren Wertung ist, welche Intentionen die Handelnden verfolgen. Wird eine existierende Praxis in einen anderen kommunikativen und sozialen Kontext transferiert oder in kritischer Weise als performance iteriert, verändert sich eine sprachliche Handlung zwar möglicherweise nicht auf der Phänomenebene, wohl aber in ihren Wirkungen - und zwar aufgrund der Intentionen ihrer Urheberinnen. Personal ausgeübte Macht oder Gewalt ist demzufolge als gerichtetes Phänomen zu verstehen und damit als intentional in einem fundamentalen Sinne. Vor diesem Hintergrund ist zu untersuchen, inwiefern gewaltvolles Handeln oder das Durchsetzen und Ausnutzen von Machtungleichgewichten willentlich und reflektiert hervorgebracht wurden oder nicht - und inwiefern und unter welchen Umständen Praktiken des Widerstandes routinisiert oder absichtsvoll entwickelt wurden. In Bezug auf kommunikative Irritationen und Anschlussprobleme schließlich ist es aufschlussreich, danach zu fragen, inwiefern sich hier strukturelle Probleme manifestierten, ob diese zufällig auftraten oder von Akteurinnen willentlich erzeugt wurden.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Vorwort8
Absichten, Pläne und Strategien erforschen: Einleitung – Jan-Hendryk de Boer, Marcel Bubert10
Intentionale Schichten. Der problematische Anweg zur Analyse von Absichten, Plänen und Strategien in der politischen Praxis des frühen Mittelalters – Marcel Bubert40
Rex sapiens, rex iustus, rex providens: Diskurse um Möglichkeiten und Grenzen reformorientierten Handelns im Kontext der renovatio Alfreds des Großen – Stephan Bruhn66
Intentionen der Gesetzgebung: Überlegungen zu den Capitula legi Salicae addita Kaiser Ludwigs des Frommen – Karl Ubl96
Mandatum est exhibere: Absichten und Strategien in der Fürsorge für Konvertiten vom Judentum zum Christentum im Mittelalter – Franziska Klein112
Überlegungen zum Verhältnis von Schuld, Reue und Intention am Beispiel der Ermordung des Erzbischofs Burchard III. von Magdeburg – Katharina Ulrike Mersch142
Wir Mythopoeten, oder: Warum das Papsttum nach Avignon kam – Jan-Hendryk de Boer176
Was motivierte spätmittelalterliche Kaufleute? Überlegungen zu Präferenzordnungen und Normorientierungen – Ulla Kypta230
Auf der Suche nach Motiven: Zur Frage nach Intention und Planung von Gewalt im Spätmittelalter – Christoph Mauntel260
Sternberg 1492: Zur Genese eines Hostienfrevelprozesses – Kristin Skottki284
Besitzen, Benutzen, Bewahren: Die Bibliothek des Johannes Heynlin von Stein († 1496) – Ueli Zahnd310
Ein Italiener erobert den Orient: Die Fiktion der Intentionalität, die Intentionalität des Fiktiven und die Funktionen des Körpers im Itinerario – Ludovico de VarthemasChristian Hoffarth334
Autorinnen und Autoren366

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