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'Alles erschien mir so unbeweisbar, so lügenhaft, so löcherig wie nur möglich' - Hofmannsthals 'Brief' als ein Dokument der Dekonstruktion eines rationalistischen Weltbildes

Hofmannsthals 'Brief' als ein Dokument der Dekonstruktion eines rationalistischen Weltbildes

AutorStefan Mielitz
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2005
Seitenanzahl129 Seiten
ISBN9783638387668
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: 1,3, Universität Potsdam (Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft), 53 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Fast 300 Jahre liegen zwischen der Datierung des Briefes, dem 22. August 1603, welchen der Dichter Hugo von Hofmannsthal die fiktive Figur des Philipp Lord Chandos an den Empiriker Francis Bacon schreiben lässt, 'um sich bei diesem Freunde wegen des gänzlichen Verzichtes auf literarische Betätigung zu entschuldigen' (461), und der tatsächlichen Niederschrift des Textes im Jahre 1902. Nur diese zeitliche Diskrepanz von rund 300 Jahren, welche durch die grundlegenden Erfahrungen mit einem durch Rationalismus und Aufklärung bestimmten Weltbild geprägt sind, lässt diesen fiktiven Brief, eine 'philos[ophische] Novelle[]', wie Hofmannsthal schreibt, überhaupt erst möglich erscheinen. Über die Einsicht in die Unmöglichkeit einer Entschlüsselung der Welt und dem Erlangen einer allumfassenden Erkenntnis, welche sein übermächtiger Lehrer, Sir Francis Bacon, für möglich erachtete, stürzt Chandos in eine Krise, welcher er in jenem Brief Ausdruck verleiht. Und tatsächlich muss es sich um einen besonderen, bedeutsamen Brief handeln, betrachtet man die einleitenden Zeilen genau. Der Text bestätigt, dass es zwischen Chandos und Bacon in fernerer Vergangenheit eine intensive Korrespondenz gegeben haben muss, welche durch eine Veränderung im Erleben der Welt durch den Lord, ohne dass dies bis dato thematisiert wurde, abgerissen ist. Nun entschließt sich Chandos noch einmal zu schreiben. Seine ersten Worte verdeutlichen sogleich die Bedeutung, die er den folgenden Zeilen und seinem Adressaten beimisst. Er schreibt, dass dies 'der Brief' sei, den er 'diesem Freunde'(461) sende. Durch die sprachliche Schaffung einer endgültigen Singularität des Ereignisses des Schreibens und der eindeutigen Bestimmtheit in Bezug auf den Adressaten, Francis Bacon, wird den Zeilen 'dieses voraussichtlich letzten Briefes' (472) eine für das Leben des Chandos grundlegende Relevanz eingeräumt. Der Brief wird damit Rück- und Ausblick zugleich. Hofmannsthal lässt Chandos, und man sollte sich hüten, wie dies oft geschehen ist, beide in Eins zu setzen und die Krise des Lords zu einer Krise des Dichters zu stilisieren, von einem verloren gegangenen Totalitätsgefühl berichten. Chandos erlebte 'das ganze Dasein als eine große Einheit' (463f.), in der er eine bruchlose Identität und unbezweifelte Erkenntnis fühlte. [...]

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Leseprobe

1. Der große Lehrmeister: Francis Bacon


an Francis Bacon, an den „größten Wohltäter s[m]eines Geistes“ (472), und Hofmannsthal setzt damit einen Rahmen, in welchem Bacon als ein Fixpunkt des Textes fungiert. Chandos ist als ein Schüler des großen Empirikers anzusehen und war lange Zeit maß- geblich durch dessen Gedanken in seinen eigenen bestimmt. Er, Francis Bacon, muss somit als ein, um in der Baconschen Gedankenwelt zu verweilen, wichtiger Schlüssel zum Verständnis des Werkes fungieren. Es bedarf demnach der Beschäftigung mit Grundgedanken der Baconschen Philosophie, um die Gedanken des Lords, seine Erinnerungen, aber auch seine Hoffnungen sowie die von Bacon und seinem Werk ausgehende Faszination begreiflich machen zu können. Diese Faszination kann als unbestritten angesehen werden.

Wenn man auf irgendein einzelnes Werk weisen wollte, das zum Symbol des Aufbruchs in die Neuzeit geworden ist und in dieser säkularen Funktion die Schriften des Aristoteles ablöste -

man hätte kaum eine andere Wahl als das „Novum Organum“ - erschienen im Jahr 1602. 14

dargestellt werden, der an der Schwelle der Renaissance zur Neuzeit eine revolutionäre Veränderung in der Sicht auf die Welt anstrebte. Es soll sich um eine überblicksartige Darstellung handeln, um die Bedeutung der Baconschen P hilosophie ansatzweise verständlich machen zu können. Diesem Blick wird jedoch noch jegliche Tiefenschärfe in Bezug auf die Bedeutung der Gedanken B acons für Ein Brief fehlen. Diese werden erst in den folgenden Punkten einer intensiven Untersuchung unterzogen werden. In der Philosophie Francis Bacons zeigt sich dem Betrachter erstmals eine systematische Umdeutung des Wissensbegriffs. Dieser wandelte sich von einem statischen Wissensbegriff der Antike, welcher zu einem zirkulären Selbstzweck der Erkenntnis

führte, zu einem dynamischen Verständnis von Wissen, das von ihm als ein „Mittel zum Zweck“ 15 des Fortschritts der Menschheit verstanden wurde. Er wandte sich ab von der spekulativen Metaphysik mittelalterlichen Denkens, welche das geistige Klima seiner Zeit noch immer maßgeblich beherrschte, und entwarf ein Zukunftsprogramm, das den Menschen auf Grundlage empirisch gesicherter Erkenntnisse und methodisch orientierter Forschung ewige Wohlfahrt gewährleisten sollte. „Erfindungen und Entdeckungen sollen nicht mehr dem Zufall oder der Magie überlassen bleiben, sondern Sache wissenschaftlicher Methodik werden.“ 16 Für dieses Ziel löste sich Bacon von vorhandenen philosophischen Traditionen und suchte nach einer Philosophie, die sich ganz in den Dienst des Menschen zu stellen habe. Dieses Ziel sprach er den tradierten Richtungen der Philosophie, um im Folgenden nur zwei zu benennen, ab. In der Aristotelischen und Platonischen Philosophie fand er durchaus eine Möglichkeit zur Schulung des Geistes, vermisste jedoch deren Leistung für die Erkenntniserweiterung der Menschheit. Durch sie lasse sich die Methodik der Argumentation, nicht aber jene zum Erkenntnisgewinn schulen. Wissen galt lediglich dem Selbstzweck. Ebenso hart versuchte er sich von mittelalterlicher Scholastik zu lösen, welche die naturwissenschaftliche Erkenntnis nicht von religiö- sen Begründungen zu trennen vermochte und sie somit lediglich in den Dienst der Religion stellte. Diesen Ansätzen gemein sah Bacon die Prämisse, dass „der Mensch sich irgendwann zwischen handlungsentlastender Erkenntnis und tätiger Praxis entscheiden müsse.“ 17 Jene bildeten für ihn jedoch keinen Gegensatz und er lehnte eine Entscheidung für einen dieser Pole ab und postulierte, dass Denken und Handeln eine Einheit bilden müssten: „Der Mensch, als Diener und Interpret der Natur, vermag und versteht so viel, wie er von der Ordnung der Natur durch die Tat oder den Geist beobachtet hat; darüber hinaus weiß und kann er nichts.“ 18 Hier wird deutlich, dass der Erkennende gleichzeitig ein Schaffender sein müsse, welcher sich mit den Erscheinungen der Natur auseinanderzusetzen und sich letztlich zum Beherrscher eben jener aufzuschwingen habe. Rein refle-

xive Erkenntnis behindere, so Bacon, den menschlichen Fortschritt. „Was in der Hand- am nützlichsten ist, ist im Wissen am wahrsten.“ 19 Diese enge Kausalität führt zu dem Gedanken, dass nur wahr sein kann, was dem Menschen bei der Beherrschung der Natur dienlich ist. Daraus folgt für die Philosophie, dass deren „Gültigkeit […] mit ihrer Fähigkeit identisch ist, Werke zu schaffen und zum Wohlergehen der Menschheit beizutragen.“ 20 Dieser Gedanke durchzieht das gesamte Werk. Aber Bacon beabsichtigte viel mehr als die Beherrschung der Natur zum Nutzen des Menschen. In seinem Hauptwerk, der Instauratio Magna, unternimmt er den Versuch, ein gesamtes Gesellschaftssystem zu entwerfen. Um es vorwegzunehmen: es ist ihm nicht gelungen. Dennoch lohnt es sich, ihm Beachtung zu schenken. „Es ist der Entwurf einer Verknüpfung von Erkenntnisfortschritt und menschlicher Wohlfahrt, die vom Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies bis zur B efreiung der Menschheit durch Unterwerfung der Natur reicht.“ 21 Mit diesem Werk legte er einen Grundstein zu einem allumfassenden Forschungsplan, dessen Ausarbeitung und Umsetzung er als eine gesellschaftliche Aufgabe ansah. Bacon war stets bewusst, daher auch die scheinbare Unfertigkeit seiner Entwürfe, dass ein Mensch allein diese grundlegende Erneuerung der Wissenschaft nicht zu leisten vermag. I n diesem Bewusstsein delegierte er die anstehenden Aufgaben an seine sowie künftige Generationen. Damit wurde er zu einem der ersten Philosophen, der einen tatsächlichen Zukunftsentwurf vorstellte, welcher nur wenige Anknüpfungspunkte an vergangene Zeiten aufwies. Die Ausblendung der V ergangenheit wurde regelrecht zu einem strukturbildenden Element seiner Philosophie, ja, sie benötigte geradezu den Gedanken der tabula rasa des menschlichen Geistes, um jene allumfassende Erneuerung unbelastet in Angriff nehmen zu können. „Bacon lehrt uns, daß menschliche Existenz ein radikales Enthüllen und Verändern ist.“ 22 Unter dieser Prämisse ist der Begriff instauratio, welchen Bacon aus der Antike sowie der Religion entlehnte 23 , auch nicht im Sinne jener geistigen Umfelder als eine „Instandsetzung“ oder „Renovierung“ zu verstehen, sondern vielmehr als eine grundsätzliche Neuerrichtung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit auf einer empirischen Grund-

lage 24 , deren Umsetzung sich die gesamte Menschheit verpflichtet fühlen müsste. Bacon bietet denn auch in der Utopie von Neu Atlantis einen Entwurf der zu schaffenden Gesellschaft, in der wissenschaftlich-technischer Fortschritt, von umsichtigen Politikern geplant und unterstützt, zum Wohle der Menschheit generiert und genutzt wird. Novum Organum und Neu Atlantis bilden demnach eine geplante Einheit, auch wenn sie jeweils fragmentarisch geblieben sind 25 :

Worin besteht das Baconsche Programm? Es besteht kurz gesagt darin, die Wissenschaft zu ei- Unternehmen der Erfindung zu organisieren und sie so gesellschaftlich zu institutionalisieren, daß ihre Erfindungen zum Nutzen der Menschheit umgesetzt werden. Dem ersten Ziel dient

sein Novum Organon, das zweite wird in der Utopie „Neu Atlantis“ beschrieben. 26

nannte Utopie des Staates Neu Atlantis, in welcher er exemplarisch und konkret seine Vorstellungen von wissenschaftlicher Praxis darlegt, indem er eine Forschungsanstalt in das Zentrum der Betrachtung rückt. Ihm ist der utopische Charakter dieser Schrift zwar bewusst, dennoch glaubt er, dass diese Utopie Realität werden könnte. So kann denn auch der Titel des Werkes ebenso programmatisch wie zukunftsweisend verstanden werden. Er zielt sehr bewusst auf die Darstellung des durch Platon beschriebenen Staates, ebenso wie das Novum Organum auf das Aristotelische „Organon“ referiert. 27 Im Gegensatz zu Platon, der das Ideal, welches schließlich im Meer versank, in der Vergangenheit suchte und den Zerfall beklagte, weist Bacons Utopie eines idealen Staates, Neu Atlantis, in die Zukunft. Er ist getragen von ungeheurem Optimismus und Vertrauen in die menschliche Erkenntnisfähigkeit, welche mit wachsendem Fortschritt sich stets mehren werde. „Da ich ja den Geist nicht bloß in seiner eigenen Fähigkeit, sondern gerade in seiner Verknüpfung mit den Dingen berücksichtige, muß ich einräumen, daß die Kunst des Erfindens mit den Erfindungen erstarken kann.“ 28 Bereits hier, w enn von d er „ ars

inveniendi“ die Rede ist, wird deutlich, dass Teile der Baconschen Philosophie nicht in erster Linie auf Erkenntnisvermittlung ausgerichtet, sondern vielmehr dem methodischen Vorgehen bei der Erkenntnisgewinnung mit dem Ziel der Naturbeherrschung verpflichtet sind. ...

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