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Anorexia nervosa bei Kindern und Jugendlichen

Entstehung - pädagogische Alltagsgestaltung - Rückfallprophylaxe

AutorChristina Berger
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl120 Seiten
ISBN9783640880706
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, Note: 1,3, Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen - Abteilung Münster, Sprache: Deutsch, Abstract: Anfang der Einleitung der Diplomarbeit Anorexie... ...du bist meine Geisel ...du hältst mich gefangen ...du erlegst mir Zwänge auf ...du zehrst meinen Körper aus ...du wäschst mein Gehirn ...du beeinflusst meinen Tagesablauf ...du gibst dir Mühe, dass sich alles um dich dreht ...du Egoistin! (Gedicht einer Magersüchtigen) Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden an chronischen Erkrankungen, was deutlich durch die Medien thematisiert wird. Das Verständnis der Bevölkerung beschränkt sich in diesem Zusammenhang vor allem auf Krankheitsbilder wie Neurodermitis, verschiedene Allergien, Hyperaktivität oder aggressive Verhaltensweisen. Kaum jemand verschwendet einen Gedanken an Essstörungen wie die Magersucht. Doch die 'KIGGS' - Studie zur Kinder- und Jugendgesundheit verdeutlicht, dass jedes dritte Mädchen an einer Essstörung erkrankt (vgl. Bergische Landeszeitung 2007, 1). Diese Erfahrung machte ich ebenfalls während meines Praxissemesters in einem heilpädagogisch-therapeutischen Zentrum für Kinder und Jugendliche, in dem ich zum ersten Mal mit der Anorexie im Kindes- und Jugendalter in Berührung kam. Während dieser Tätigkeit wurde mir vor Augen geführt, dass bereits im frühen Alter Themen wie das Aussehen und Diäten in das Zentrum der kindlichen Aufmerksamkeit rücken und stetig an Bedeutung gewinnen. Die Vorstellungen des übertriebenen Schönheitsideals 'überschlank' zu sein, lassen sich bereits in den Köpfen der Kinder und Jugendlichen wiederfinden. Alltäglich wird man mit erfolgversprechenden 'Super-Diäten' und Gesundheitsempfehlungen konfrontiert. In der heutigen Zeit, in der das Gesundheitsbewusstsein mehr denn je in den Vordergrund rückt und Diäten allmächtig und präsent sind, werden sie als völlig normal empfunden. Dies erweckt in der Gesellschaft (meiner Person nicht ausgeschlossen) zunehmend den Anschein, dass die ausgiebige Auseinandersetzung junger Mädchen mit Nahrung und Kalorien nichts weiter als eine Modeerscheinung unter Jugendlichen sei und folglich nicht weiter besorgniserregend ist. Doch durch den gewonnenen Einblick in das Verhalten und Erleben der Mädchen, wurde mir bewusst, dass der Wahn um das Schlanksein vermehrt zur Krankheit lanciert. Eine mit Vernunft beginnende Diät kann schnell zur krankhaften Einbahnstraße werden, wenn sie in Unvernunft umschlägt. ...

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Leseprobe

2 Das Krankheitsbild „Anorexia nervosa“


 

2.1 Klassifikationssysteme und Diagnosekriterien


 

„Anorexia nervosa“ ist ein geläufiger, weltweit bekannter Begriff. Aber was sich detailliert dahinter verbirgt, in welchen Erscheinungsformen die Erkrankung auftritt und welche Ausmaße deren Auswirkungen haben, ist für einen Großteil der Bevölkerung kaum bekannt und vorstellbar.

 

Der Fachterminus stammt ursprünglich aus dem Griechischen und bedeutet übersetzt so viel wie „nervöse Appetitlosigkeit“, was zu Verwirrung führen kann. Im Zweifelsfall wäre eher der Begriff der Selbstaushungerung angebracht. Denn magersüchtige Mädchen und heranwachsende Frauen leiden weniger an mangelndem Appetit. Im Gegenteil, sie leiden ständig unter Hungergefühlen, versuchen diese jedoch durch vielfältige Methoden zu unterdrücken (vgl. Vandereycken/ Meermann 2000, 17). Doch auch der geläufige Begriff der Magersucht bzw. Pubertätsmagersucht hat seine Tücken. Die Anorexie darf keinesfalls mit einer stoffgebundenen Sucht wie der Drogensucht gleichgestellt werden. Zwar können einige Verhaltensweisen einen suchtartigen Charakter annehmen und bestimmte Folgeerscheinungen wie z.B. der Kontrollverlust auftreten. Dennoch können ebenso gut völlig kontroverse Symptome wie Zwangssymptome oder depressive Symptome identifiziert werden (vgl. Franke 1994, 16).

 

Um bei Kindern und Jugendlichen eine Anorexie diagnostizieren zu können, müssen bestimmte Diagnosekriterien vorliegen. Hierbei haben sich das ICD–10 (internationale Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation) und das DSM–IV (diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen) als verbindliche Klassifikationssysteme herauskristallisiert. Diese werden ebenfalls bei einer Anorexie der erwachsenen Form angewendet und unterscheiden sich nicht.

 

Das Störungsbild der Magersucht findet sich im ICD in der Gruppe F 50.0, Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren, wieder (vgl. Schwarzer 2004, 211). Folgende Kriterien sind ausschlaggebend für eine Diagnosebildung und sehen wie folgt aus:

 

„Das Körpergewicht liegt mindestens 15% unter dem erwarteten Gewicht, wobei entweder ein Gewichtsverlust herbeigeführt worden ist oder das altersgemäße Gewicht nie erreicht wurde. Eine andere Berechnungsformel für das niedrige Körpergewicht geht von dem Verhältnis von Körpergewicht zu Körpergröße aus. Dieser sogenannte Body-Mass-Index (BMI = kg/m²) erreicht bei Patienten mit einer Anorexie den Wert von 17,5 oder weniger. Allerdings ist dieser Schwellenwert erst ab dem Alter von ca. 17 Jahren verwendbar. Für jüngere Patienten ist es sinnvoll, den Schwellenwert bei den dritten oder fünften, jeweils für das Alter und Geschlecht gültigen BMI – Perzentile anzusetzen. Die Perzentile werden auf der Basis von Erhebungen in der Bevölkerung gewonnen und geben an, welche Werte der BMI auf den jeweiligen Altersstufen für 3% bzw. 5% der Bevölkerung mit dem niedrigsten Gewicht einnimmt. Bei sehr jungen Patienten in der Vorpubertät kann das niedrige Körpergewicht nicht durch einen Gewichtsverlust, sondern durch eine unterbliebene Gewichtszunahme während der Wachstumsperiode bedingt sein.

 

Der eingetretene Gewichtsverlust ist durch die Patienten selbst herbeigeführt, wobei folgende Mittel eingesetzt werden:

 

a) Diät mit Vermeidung vor allem hochkalorischer Speisen sowie eine oder mehrere der folgenden Möglichkeiten:

b) selbst herbeigeführtes Erbrechen,

c) selbst herbeigeführtes Abführen,

d) übertriebene körperliche Aktivitäten,

e) Gebrauch von Appetitzüglern und/oder harntreibenden Mitteln (Diuretika).

 

Eine ausgeprägte Wahrnehmungsverzerrung des eigenen Körpers - wobei die tatsächliche Abmagerung nicht als solche erlebt wird - in Verbindung mit der Angst, zu dick zu werden. Diese Angst ist tief verwurzelt und bestimmt das gesamte Verhalten. Die Patienten legen sich ein sehr niedriges Gewicht fest.

 

Eine Störung der Regulation der Hormone im Wechselspiel zwischen den steuernden Hirnzentren und den abhängigen Organen. Bei Mädchen und Frauen äußert sie sich nach dem Beginn der Menstruation durch das Ausbleiben der Monatsblutungen. Die Produktion anderer Hormone (Wachstums-, Nebennierenrinden-, Schilddrüsenhormone, Insulin) ist ebenfalls gestört.

 

Beginnt die Anorexie bereits vor der Pubertät, so ist die Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert oder gehemmt. Es kommt zu einem Wachstumsstopp, fehlender Brustentwicklung und dem Ausbleiben der Menstruation bei Mädchen. Bei den selten betroffenen Jungen bleiben die Geschlechtsmerkmale kindlich.“

 

(Steinhausen 2004, 75- 76)

 

Die „Anorexia nervosa“ findet sich im DSM-IV unter der Nummer 307.1 wieder und verwendet hingegen folgende Merkmale:

 

„Weigerung, das Minimum des für Alter und Körpergröße normalen Körpergewichts zu halten.

 

Ausgeprägte Ängste vor einer Gewichtszunahme oder vor dem Dickwerden - trotz bestehenden Untergewichts.

 

Störung in der Wahrnehmung der eigenen Figur und des Körpergewichts, übertriebener Einfluss des Körpergewichts oder der Figur auf die Selbstbewertung oder Leugnen des Schweregrades des gegenwärtigen geringen Körpergewichts.

 

Bei postmenarchalen Frauen das Vorliegen einer Amenorrhoe.“

 

(Comer 2001,284)

 

Trotz beidseitiger Annäherungen der Klassifikationssysteme bestehen geringe Unterschiede. So z.B. in den vorliegenden Spezifizierungen dieses Krankheitsbildes. Das ICD-10 unterscheidet somit nochmals die Magersucht ohne aktive Maßnahmen (F 50.00) und die mit aktiven Maßnahmen (F 50.01) zur Gewichtsreduktion, sowie die atypische Anorexie (F 50.1), bei der ein oder mehrere der zuvor angeführten Merkmale fehlen. Das DSM-IV differenziert hingegen zwischen dem restriktiven Typ, wobei es zu keinen Heißhungeranfällen oder Maßnahmen zur Gewichtsreduktion kommt, was bei dem bulimischen Typ regelmäßig der Fall ist (vgl. Steinhausen 2006, 222).

 

In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die Störungsbilder „Anorexia nervosa“ und „Bulimia nervosa“ eng zusammenhängend betrachtet werden sollten. Dementsprechend sind die Grenzen dieser Störungen in einigen Fällen nicht immer klar definierbar, wie die folgende Grafik verdeutlicht.

 

 

2‑1 Das Spektrum anorektischer und bulimischer Störungen (Steinhausen 2006, 222)

 

Nicht wenige Essgestörte schlittern im Laufe der Zeit von einer Essstörung in die nächste, wobei mehr Magersüchtige bulimisch werden.

 

Bei einem frühen Krankheitsbeginn ist besondere Vorsicht geboten. Denn in diesem Kontext besteht, wie bereits in ICD-10 aufgelistet, die Gefahr, dass es zu Entwicklungs- und Wachstumsverzögerungen kommen kann. Demzufolge liegt die schwierige Aufgabe der Ärzte darin, trotz vorhandener und geläufiger Klassifikationssysteme, vorerst eine Essstörung in Betracht zu ziehen und das Thema bei den Betroffenen sensibel anzusprechen. Denn nur so kann eine Magersucht frühzeitig behandelt und therapiert werden. Die jungen anorektischen Patientinnen sind überwiegend sehr geschickt in Bezug auf Verleugnung, Vertuschung und Verschweigung ihrer Krankheit (vgl. Gerlinghoff/ Backmund 2005, 17). Hilfreich sind hier oftmals Informationen von Familienangehörigen bzw. wichtigen Bezugspersonen. Ebenso „muss eine vollständige Diagnose die Entwicklung von Gewicht, Menstruation, Essverhalten, Aktivität und Methoden der Gewichtsreduktion erfassen.“ (Steinhausen 2006, 224)

 

2.2 Körperliche Komplikationen und Folgeschäden


 

„Alles war so hoffnungslos und ausweglos. Der einzige Triumph, den ich hatte, war mein Hungern. Es war die Macht, die Gewalt, die Beherrschung über meinen Körper. Es machte mir richtig Spaß, mich zu quälen, meinen Körper zu spüren, das Brennen, die Leere im Inneren, den Hunger.“ (Gerlinghoff 2003, 23)

 

Magersüchtige machen sich selbst zu einem Hungerkünstler. Sie haben den Wunsch, aus ihrem Körper ein Kunstwerk zu erschaffen, ihn nach eigenen Vorstellungen zu modellieren, ihn zu kontrollieren und über seine Bedürfnisse, sein Verlangen zu verfügen. In welchem Ausmaß der eigene Körper darunter leidet und welche Folgen daraus resultieren, wird hingegen verdrängt. Die somatischen Symptome dieser Erkrankung sind sichtbar die Äuffälligsten (vgl. Huber/ Kraemer 2007, 71). Indem dem Körper jegliche Nahrung und damit Energie entzogen wird, ist er ganzheitlich davon betroffen, so dass es zu Mangelerscheinungen und den daraus resultierenden Folgeschäden kommt (vgl. Pauli/ Steinhauser 2006, 21). „Es gilt als gesichert, dass zahlreiche Veränderungen der hormonellen Regulationen des Neurotransmittersystems eine Folge und nicht die Ursache einer Anorexia nervosa [...]“ sind (Huber/ Kraemer 2007, 69).

 

Eine Anorexie in der Präpubertät bzw. in der Pubertät mit ihren somatischen Folgeschäden ist nochmals gravierender bzw. lebensbedrohlicher. Der kindliche Organismus befindet sich in seiner vollen Entwicklungsphase, sowie sind die...

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