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Globalisierung und chinesisches Wissen in Japan im 19. Jahrhundert

AutorMichael Facius
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl364 Seiten
ISBN9783593437477
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis52,99 EUR
Die Traditionen chinesischen Wissens - die Auseinandersetzung mit sinitischen Texten und Ideen - prägten Japans Blick auf die Welt und dessen Reaktion auf die Globalisierung des 19. Jahrhunderts. Zugleich wurden sie selbst von den Folgen globaler Integration beeinflusst. Vom frühneuzeitlichen Konfuzianismus bis zur Sinologie des Kaiserreichs, von der Dichtung bis zur Sprachwissenschaft: Diese Studie beschreibt erstmals umfassend die Transformation eines Wissensfelds, dessen Erforschung oft von der Fixierung auf den Einfluss westlicher Wissenschaften gehemmt wurde, das für ein tieferes Verständnis der japanischen Geschichte jedoch unentbehrlich ist.

Michael Facius, Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiter am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin.

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Leseprobe
Einleitung Japan stand im 19. Jahrhundert vor der kritischen Aufgabe, seinen Platz in einer gerade entstehenden globalen Ordnung zu behaupten, die von Europa und den Vereinigten Staaten dominiert wurde. Um dem Umfang dieser Aufgabe zu erfassen und sie zu bewältigen war systematisches, gelehrtes Wissen unentbehrlich: Wissen über die Welt und die westlichen Länder, ihre diplomatischen Gepflogenheiten und Waffentechnologien, Institutionen und Ideen. Die Gelehrten, die dieses Wissen schufen, bewegten sich in einer Wissenskultur, die sich auf 'chinesisches Wissen' gründete. Diese Wissenskultur prägte die Art und Weise, wie Japan der Globalisierung des 19. Jahrhunderts, also dem Prozess und den Wirkungen globaler Integration, gegenübertrat. Zugleich veränderte sich dadurch chinesisches Wissen selbst. Die Institutionen und Themen am Ende des Jahrhunderts, der gesellschaftliche Status, ja sogar die Begriffe, mit denen man darüber sprach, hatten nur noch entfernte Ähnlichkeit mit ihren Vorläufern von 1800. Die Transformation chinesischen Wissens und die Dynamik wechselseitigen Einflusses von Wissensproduktion und Weltordnung, in der sie sich vollzog - das sind die Themen dieser Studie. Annäherung an den Begriff Da der Begriff 'chinesisches Wissen' weder in den Quellen noch in der Literatur auftaucht, ist einleitend zumindest vorläufig zu klären, was damit gemeint ist. Die historischen Akteure und die Forschung kennen eine Reihe von verwandten Bezeichnungen: kangaku und shinagaku im Japanischen, 'Chinese learning' im Englischen, Sinologie im Deutschen. Hinzu kommen Begriffe wie Konfuzianismus, die sogenannte 'traditionelle chinesische Medizin', aber auch die chinesische Schriftsprache und ihre Erzeugnisse. Innerhalb dieses Wortfelds hat sich die Forschung hauptsächlich an drei Bezeichnungen orientiert: Kangaku, Sinologie und Konfuzianismus. Wie weiter unten ausführlicher besprochen wird, sind diese jedoch aus drei Gründen unvorteilhaft. Erstens sind sie recht eng gefasst: Sinologie verweist üblicherweise auf ein akademisches Fach, Konfuzianismus auf ein Denksystem, Kangaku auf eine Texttradition. Zweitens fluktuieren die Gegenstände, die sich dahinter verbergen, im Verlauf des 19. Jahrhunderts; die Sinologie tritt sogar erst um 1900 in Erscheinung. Drittens ist die Forschung, die unter diesen drei Überschriften betrieben wurde, jeweils mit einflussreichen Erzählungen verbunden, die häufig Blick auf umfassendere Fragen verstellt haben. Über Sinologie wurde häufig als imperiale Wissenschaft gesprochen, über Kangaku als untergehende Tradition, über Konfuzianismus als feudale Ideologie - und alle drei sind mit dem Meisternarrativ der 'Modernisierung' verknüpft. 'Chinesisches Wissen' bringt demgegenüber die beiden Vorteile mit, nicht belegt und inklusiv zu sein. Es eignet sich daher dazu, lose ein Wissensfeld zu umschreiben, welches sich aus einer Vielzahl von beständig in Veränderung begriffenen Kategorien, Konzepten und Diskursen, aber auch Praktiken, Institutionen und Akteuren zusammensetzt. Dazu gehören Kangaku, Sinologie und Konfuzianismus, aber auch Poesie oder Medizin. Ein solch weiter Begriff macht es erstmals möglich, Forschungsfelder zusammenzubringen, die bisher separat bearbeitet wurden und sie auf ihre Beziehungen zueinander zu befragen. Das erweist sich als nötig, um den Wissenswandel und damit ein zentrales Problem der japanischen Geschichte des 19. Jahrhunderts umfassender zu verstehen. Ein weiterer Vorzug des Begriffs ist die Unbestimmtheit des Attributs 'chinesisch'. Je nach Akteur und Kontext konnte damit Wissen aus China, Wissen über China, Wissen, das zu China gehört, oder auch Wissen in chinesischem Stil gemeint sein. Ob die 'chinesischen' Schriftzeichen zu Japan gehörten oder 'chinesischer' Konfuzianismus universell gültig war, darüber hatten schon japanische Intellektuelle ganz unterschiedliche Vorstellungen. Erst recht lässt sich für Historikerinnen heute ein Wissensfeld, das über Jahrhunderte in einem transnationalen Raum über Sprach- und Landesgrenzen hinweg gepflegt wurde, nur mit Verlusten in nationale Schubladen stecken. Diese Studie entscheidet deswegen nicht im Vorhinein über Fragen von Herkunft und Zugehörigkeit, sondern macht es sich zur Aufgabe, wechselnde Vorstellungen über das Verhältnis von Land (Nation, Kultur) und Wissensbestand systematisch in Augenschein zu nehmen. Zwei grundlegende Zuschnitte machen dieses schon gefährlich weite Feld handhabbar. Zum einen soll hier gelehrtes, systematisches, institutionalisiertes Wissen im Vordergrund stehen. Im Laufe des Untersuchungs-zeitraums änderte sich freilich, welches Wissen als gelehrt angesehen wurde, welches dagegen als religiös, welches Wissen in Akademien institutionell produziert wurde und welches von interessierten Einzelpersonen, und so fort. Doch folgt aus einem solchen Zuschnitt, dass literarische Verarbeitungen von Chinareisen oder auch Gedichte von Literaten in chinesischem Stil eher untergeordnete Rollen einnehmen. Zum anderen konzentriert sich die Studie auf textbasiertes Wissen und klammert damit chinesische Medizin, chinesische Malerei oder Architektur ein. Solche Wissensformen werden im Verlauf der Darstellung angesprochen, insoweit ihre Gegenüberstellung einzelne Argumente zusätzlich beleuchten hilft. Der Grund für diese Eingrenzung ist einfach: textbasiertes, systematisches Wissen genoss am Ausgangspunkt der Studie das höchste Prestige und hatte die größte Prägewirkung auf die Wissenskultur, bildete mithin ihren Kern. Zudem wurde das Scharnier von Wissensordnung und Weltordnung - mit anderen Worten Diskurse über die Zweckbestimmungen von Wissen, über seine politischen Funktionen und über den Platz Japans und Chinas in der Welt - zum überwiegenden Teil schriftlich in systematischen, gelehrten Zusammenhängen hergestellt und reproduziert. Einen ersten Einblick in die Fragen und Spannungsverhältnisse, die diese Geschichte chinesischen Wissens antreiben, gibt ein Holzdruck mit dem Titel 'Szenerie der ehemaligen Heiligen Halle von Yushima' (vgl. Abb. 1). Der Druck entstand im Jahr 1879, also inmitten der Umwälzungen, um die es Folgenden geht. Er zeigt den Weg von Yushima nach Kan-da, zwei Quartiere im nördlichen Zentrum Tokyos. Rechts säumt eine Böschung den Pfad, links ein umfriedetes Wäldchen. Zeitgenössische Be-trachter wussten: Hinter der Baumreihe thront die Halle, nach der das Bild benannt ist. Noch zehn Jahre zuvor war sie Teil einer bedeutenden staatlichen Bildungs- und Forschungsanstalt mit dem Namen 'Sh?hei-Akademie' gewesen und außerdem Stätte regelmäßiger Feierlichkeiten zu Ehren des Konfuzius. Inzwischen hatte sie mehrere Umwidmungen hinter sich, diente eine Zeitlang als Ausstellungsraum und Museum. Mehr noch als das Grün ziehen die Telegrafenmaste den Blick auf sich, die sich filigran gegen den Himmel strecken. Abb. 1: 'Ansicht der ehemaligen Heiligen Halle von Yushima' (Kobayashi Kiyochika, 1879) (Quelle: T?ky? toritsu ch?o toshokan tokubetsu bunko shitsu) Der Druck ist Teil einer Serie über 'Berühmte Orte in Tokyo' des Künstlers Kobayashi Kiyochika. Kobayashi fing bildlich ein, wie sich die materielle Zivilisation des Westens in den städtischen Alltag einschlich. Der Telegrafenmast ist ein potentes Sinnbild für die Verdichtung von Zeit und Raum im Gefolge der globalen Integration des 19. Jahrhunderts. Damit fängt der Druck einen vertrauten Kontrast ein: auf der einen Seite die arkane, chinesische Tradition, repräsentiert durch den Konfuzius-Tempel, der genauso viel mit Religion wie mit Gelehrsamkeit zu tun zu haben scheint, auf der anderen Seite die westliche Moderne, rationales technologisch-naturwissenschaftliches Wissen, repräsentiert durch den Telegrafenmast. Das kleine Beiwort 'ehemalig' in der Bildunterschrift legt, so scheint es, unmissverständlich Zeugnis darüber ab, welche Seite an jenem sonnigen Morgen des Jahres 1879 das Rennen gemacht hatte. So hilfreich der Gegensatz ist, um einige grundlegende Koordinaten der Studie abzustecken, so irreführend ist er zugleich, denn es geht um mehr als eine einfache Ablösung von einem Wissensbestand durch den anderen, mehr als um einen Entscheidungskampf zwischen der Vorherrschaft Chinas und der des Westens auf japanischem Boden. So wurde das Gelände des ehemaligen Tempels auch 1879 noch für Bildungsaufgaben genutzt. Dass die westliche Institution des Museums in einen konfuzianischen Tempel einzog, deutet an, dass bei der Transformation der Wissenskultur komplexere Aneignungsvorgänge am Werk waren. Nicht weniger gilt dies für die scheinbar ortsneutrale Telegrafie. Der Code, der durch das Kabel nach Kanda floss, war eine lokale Übersetzung der Morsezeichen mit Anpassungen für die japanische Silbenschrift und sinitischen Schriftzeichen. Die wichtigste Botschaft, die der Druck für diese Studie bereithält, liegt allerdings auf einer subtileren Ebene. Kobayashi war einer der ersten Holzschnittkünstler, der das Genre mit westlichen Darstellungstechniken anreicherte: mit Perspektive - und mit Licht und Schatten. Obgleich wir also auf ein japanisches Bild blicken, nehmen wir eine Perspektive ein, die von westlichen Formen beeinflusst ist. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden - die gleißende Morgensonne auf dem Wasser verleiht der Szenerie durchaus Atmosphäre. Wichtig ist aber, sich die Wirkungen dieser Perspektive bewusst zu machen. Die Geschichtsschreibung zu chinesischem Wissen hat sich in einem Milieu entwickelt, das zutiefst von den Folgen des Wissenswandels geprägt ist, den sie erst beschreiben will - in einem Milieu euro-amerikanischer kultureller Dominanz, das in der Diffusion westlicher Wissenschaft und Rationalität den natürlichen Lauf der Dinge sah. So wie die Heilige Halle nur hinter Baumwipfeln auszumachen ist, wurde chinesisches Wissen als Forschungsgegenstand lange von Untersuchungen zu Japans 'Modernisierung' überschattet oder bloß als deren Negativbild behandelt. Chinesisches Wissen in der Literatur Bis heute gibt es keine umfassende Darstellung dazu, wie sich chinesisches Wissen über verschiedene Wissensbereiche und das die gesamte Zeitspanne des 19. Jahrhunderts hinweg transformierte. Zunächst ist also darauf einzugehen, wieso dies der Fall ist und womit sich Historiker und Historikerinnen stattdessen befasst haben. Erste Übersichtswerke über die Geschichte von Kangaku ('Sinitische Studien') erschienen bereits im frühen 20. Jahrhundert. Eines der ersten Werke ist das von der konfuzianischen Vereinigung Shibunkai herausgegebene '60 Jahre Konfuzianismus. Eine Geschichte', das chinawissenschaftliche Institutionen seit dem Beginn der Meiji-Zeit (1868-1912) vorstellt. Bald darauf, im Jahr 1938, folgte Makino Ken'ichir?s 'Geschichte von Kangaku in Japan'. Unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg hielt Kuraishi Takeshir? eine Vorlesung mit dem Titel 'Entwicklung der Chinawissenschaften in unserem Lande', deren Niederschrift kürzlich als Buch herausgegeben wurde. Die beiden letztgenannten Werke spannen einen breiten ideengeschichtlichen Bogen vom japanischen Altertum bis zur Meiji-Zeit und diskutieren verschiedene Schulen, Strömungen und Disziplinen. Trotz der unterschiedlichen Schwerpunkte eint die drei Werke ein Zugang, der den Erfolg oder Misserfolg einer als fremd verstandenen chinesischen textwissenschaftlichen Tradition auf japanischem Boden abmisst. Vor allem Makinos 'Geschichte von Kangaku', die erschien, als Japan gerade seine Kriegshandlungen gegen China ausweitete, sucht nach dem ausländi-schen Beitrag zur nationalen Entwicklung in Japan. In der Nachkriegszeit erschienen zwei Aufsätze, die als erste einen breiten analytischen Zugang zur Geschichte chinesischen Wissens suchten und deshalb einen Ausgangspunkt dieser Studie darstellen. Tokawa Yoshir? betrachtete das Zusammenspiel verschiedener Akteure, Institutionen und Diskurse im Laufe der Meiji-Zeit, inklusive der sonst ignorierten chinesischen Sprachstudiums, um die Genealogie von Kangaku und Sinologie im Kontext von Universität und Meiji-Staat zu verstehen. Watanabe Kazuyasu untersuchte ideengeschichtlich die Neubestimmung von Kangaku in der Meiji-Zeit und dessen Ablösung von konfuzianischer Metaphysik. Eine Monographie zu Kangaku kam erst in den 1990er-Jahren wieder heraus, als Miura Kan?, ein Schüler Makinos, ein fast enzyklopädisches Werk veröffentlichte, das umfassend gelehrte Standpunkte, Kritik und Debatten um die Ausrichtung und Methodik des Fachs diskutiert. Abgesehen von diesen Meilensteinen befassten sich japanische Historiker lange, wie sich Miura in seiner Einleitung erinnert, vornehmlich mit einzelnen Gelehrten oder konfuzianischen Schulen auf biografischer oder ideengeschichtlicher Ebene, ohne sich allzu sehr um breitere Einbettungen oder den gesellschaftlichen Einfluss von Kangaku zu kümmern. Nach dem zweiten Weltkrieg dominierten vor allem zwei Problemfelder die Geschichtswissenschaft in Japan wie auch in den Vereinigten Staaten und Europa: Wie konnte Japan als erstes außereuropäisches Land zur zivilisatorischen und materiell-technologischen Entwicklung des Westens aufschließen? Und warum führte Japan dieser Entwicklungspfad nicht zu einer liberalen Demokratie, sondern zu einem autoritären und ultranationalistischen Regime, das Ostasien in den Krieg stürzte? Es ging also in der damals gebräuchlichen Formulierung um Bedingungen und Scheitern der japanischen Modernisierung. In den grundlegenden Werken amerikanischer Japanologen spielte Kangaku als Disziplin und Bildungsprogramm keine große Rolle, denn im Bereich von Bildung und Wissen lag der Fokus nach der Meiji-Zeit ganz auf der Einführung eines nationalen Schulsystems oder einer Nationalsprache nach westlichen Vorbildern. Diejenigen Historiker, die sich für Kangaku und die chinesische Texttradition erwärmen konnten, imaginierten in ihren Studien das Ab-, Nach- oder Überleben einer im Grunde obsoleten Tradition. So wenig Bedeutung besonders die euro-amerikanische Forschung Kangaku beimaß, so sehr war sie von der Wirkung des Konfuzianismus als Denksystem und Ideologie fasziniert. Auf der Habenseite fand sie in ihm ein Denkgebäude, das es Japan ermöglichte, rasch Anschluss an westliche Vorstellungen von Wissenschaft zu finden. Gleichzeitig interpretierte sie die kritische Haltung vieler konfuzianisch geprägter Intellektueller und Politiker der späten Tokugawa-Zeit (1600-1868) zum Handel mit dem Westen auch als Hindernis, das der Aufnahme moderner Außenbeziehungen im Weg stand. Konfuzianische Morallehren hätten mit kindlicher Folgsamkeit und der Treue zum Herrscher zudem 'feudale' Tugenden gefördert. In der Sicht vieler westlicher Kommentatoren, aber auch japanischer Kritiker, legte dieser Untertanengeist den ideologischen Grundstein für den japanischen Faschismus der 1930er-Jahre. Ein verwandtes Motiv nahm die westliche Forschung in den 1980er-Jahren auf. Auslöser waren neue Trends in der Imperialismus-Forschung und den postkolonialen Studien, wie sich teils in der Auseinandersetzung mit Edward Saids Schrift über den 'Orientalismus' entwickelt hatten. Said stellte die Produktion von Wissen in das Zentrum der Geschichte des Imperialismus. Die wissenschaftliche Erforschung des 'Orients' war für ihn ein Kernelement der Ausübung kolonialer Herrschaft. Diese Gedanken nahmen auch Historiker des japanischen Imperialismus auf und begriffen die Fächer und Institutionen, die an den neugegründeten Universitäten in der Meiji-Zeit China zum Gegenstand hatten, als japanische Äquivalente, allen voran die Orientalistik der Universität Tokyo, aber auch das regionalwissenschaftliche Institut für Gemeinsame Ostasiatische Kultur, das eine japanische Gesellschaft 1900 in Shanghai eröffnete. In diesen Studien lag der Fokus darauf, wie japanische Intellektuelle und Wissenschaftler Wissen über China generierten, das Japans 'informellen Imperialismus' stützte: geheimdienstliches Wissen über die Zustände im Land, das strategisch für Kriegszwecke genutzt werden konnte, oder auch Wissen über die Funktionsweise der Wirtschaft, das japanischen Konkurrenten dabei half, einen Fuß in die Tür chinesischer Handelsnetz-werke zu bekommen. Die neu geschaffenen akademischen Fächer 'Sinologie' und 'orientalische Geschichte' wurden daraufhin untersucht, wie sie ein konfuzianisch-rückständiges Chinas imaginierten, das von Japan als Führungsmacht der Region zivilisiert werden musste. Die breitere Literatur zu Chinabildern konstatierte ähnlich einen Zusammenhang zwischen japanischen Haltungen zu China und der Stellung chinesischen Wissens in Japan. In der Tokugawa-Zeit, in der konfuzianische Gelehrsamkeit zu einer Blüte gelangte, machte sie eine allgemeine Chinaverehrung aus, während sie für die Meiji-Zeit die Chinaverachtung in der Folge des Sino-Japanischen Kriegs von 1894/95 als Mitauslöser für den Niedergang chinesischen Wissens ansah. Derartige Fragestellungen und thematische Zuschnitte führten dazu, dass chinesisches Wissen als Relikt vergangener Zeiten allgemein vernach-lässigt oder alternativ auf seine Verstrickung in den japanischen Imperia-lismus reduziert wurde. Wie der Konfuzius-Tempel auf dem Holzdruck Kobayashis war chinesisches Wissen nur schemenhaft durch eine Hecke von Vorannahmen auszumachen. Analytisch lassen sich vor allem drei problematische Konzepte identifizieren, die einer produktiven Auseinandersetzung mit chinesischem Wissen als eigenständigem und beachtens-werten Forschungsgegenstand im Weg standen: Modernisierung, Wissenschaft und Nation. Die einflussreichste grundlegende Prämisse der Forschung war bis vor nicht allzu langer Zeit die Idee der Modernisierung. Sie hatte ihren Ur-sprung in den Diskursen über 'Zivilisation' des 19. Jahrhunderts, die Europa eine Fortschrittlichkeit zuschrieben, die anderen Weltgegenden angeblich abging, und den überlegenen europäischen Status zugleich zu einer Art Naturgesetz überhöhten. In den 1950er-Jahren wurden diese Diskurse von der Modernisierungstheorie beerbt, welche die Entwicklung westlicher Gesellschaften als Modell hinstellten, an dem andere Kulturen wie die japanische oder chinesische zu messen waren. Andere Entwicklungspfade erschienen dadurch als 'Tradition', als vorgelagerte Entwicklungsstufen, die Modernisierung ermöglichen oder hemmen, nicht aber wirklicher Teil der Moderne sein konnten. Die ungleichen historischen Kräfteverhältnisse, in denen sich der Wissenswandel vollzog, wurden damit unsichtbar gemacht. So wurde die konkrete Androhung militärischen Zwangs durch den amerikanischen Kommodore Perry, die japanische Politiker 1854 dazu bewog, Häfen für den Handel mit dem Westen freizugeben, in dieser verzerrenden Perspektive zu einer 'Herausforderung', die die Moderne selbst 'darbietet' und die Japan 'zu akzeptieren bereit' war. Vorstellungen von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit sind mit dem Konzept der Modernisierung eng verwoben, schon deswegen, weil der Fortschritt der Moderne in beträchtlichem Maße als wissenschaftlicher Fortschritt daherkam: Dampfschifffahrt und Strom, Gewehre und Webmaschinen waren seine machtvollen Aushängeschilder. Die Wissenschaftsgeschichte hat dieses Denken lange gespiegelt, insofern sie Wissenschaft mit einem Fortschritt, einer linearen Abfolge technologischer Entdeckungen gleichsetzte. Die zeitlich und räumlich sehr spezifische Form von westlicher Wissenschaft, wie sie seit dem 18. Jahrhundert Form annahm, wurde so aufgewertet zu einem universellen und überzeitlichen Standard für Wissenschaftlichkeit, und die akademischen Disziplinen des 19. Jahrhunderts zu den einzig sinnvollen Behältern, in denen Wissen zu lagern und bearbeiten ist. Kangaku als Gelehrsamkeit eines sinitischen Textkorpus konnte so nur als rückschrittlich und nutzlos erscheinen. Nicht weniger problematisch ist die Annahme zum Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft, die die Wissenschaftsgeschichte typischer-weise gegenüber chinesischem Wissen vertreten hat. Während die westliche Wissenschaft, verstanden als ein abstraktes und immaterielles Bündel von Ideen, dank der wissenschaftlichen Methode und der Wissenschafts- oder akademischen Freiheit Objektivität erreichten und sich von gesellschaftlichen Einflüssen absondern kann, sind andere Arten von Wissens-produktion, oder eine Wissenschaft, die die Distanz zur Gesellschaft verweigert, kompromittiert. Konfuzianische Vorstellungen zum Verhältnis von Wissen und Politik sind so von vornherein als weltanschaulich, vor-wissenschaftlich und damit unterlegen markiert. Gleichzeitig erscheint die Einbettung in imperialistische Politik so als ein Problem japanischer Chinawissenschaft, nicht aber als eines westlicher Naturwissenschaft oder auch westlicher Japanforschung, die ja selbst immer auch an militärische, politische und ökonomische Interessen gekoppelt war und ist. Gegenüberstellungen von Japan und dem 'Westen', Japan und China verweisen auf die dritte Grundannahme, die eine Verengung der Forschung zu chinesischem Wissen bewirkt hat. Diese betrifft das Verhältnis von Wissen und Nation. So wie die Wissenschaft zum Westen gehörte, ordneten Historiker chinesisches Wissen einer chinesischen Nation zu, basierend darauf, dass konfuzianisches Denken und die Schriftzeichen erstmals in dem Gebiet entwickelt wurden, das heute Volksrepublik China heißt. Auf dieser Grundlage stellten sich vor allem westliche Forscher eine tiefliegende psychologische Spannung vor, die japanische Gelehrte und das gesamte Feld chinesischen Wissens geprägt haben müsse. Sie hätten unter einem Unterlegenheitsgefühl gelitten, das sich aus der abgeleiteten oder hybriden Natur der japanischen Zivilisation gespeist habe und zur Ursache für die spätere Abneigung gegen die 'fremde' Wissenstradition wurde. Das ist natürlich genauso abwegig, wie zu behaupten, dass man das lateinische Alphabet im 19. Jahrhundert in Deutschland oder Frankreich als fremd oder italienisch wahrnahm. Eine lange Geschichte von Austausch, Transfer und Zirkulation hatte schon seit dem Altertum regionale Wissensräume in Ostasien geschaffen, an denen japanische Gelehrte selbstverständlich partizipierten. Die Spannung konnte erst auftreten, als Japan und bald darauf China das Konzept, die Institutionen und kulturellen Codes der 'Nation' übernahmen - mit anderen Worten in genau dem Zeitraum, der hier zur Debatte steht. Und selbst dann ging Wissen niemals ganz in nationalen Projekten auf, übersetzte sich nicht automatisch die politische Rivalität beider Länder in eine Marginalisierung chinesischen Wissens. Die heutigen geschichtswissenschaftlichen Perspektiven auf chinesisches Wissen gehen also zurück auf die Wissenspolitik des 19. Jahrhunderts: Vorstellungen von Zivilisation, Wissenschaft und Nation fassten in Japan im Kontext der Globalisierung des 19. Jahrhunderts Fuß und sind daher selbst kritisch zu hinterfragen. Carol Gluck hat in diesem Sinne zu-gespitzt davon gesprochen, dass wir bis heute 'Gefangene' einer Meiji-Zeit seien, die sich selbst in einem dem Westen gefälligen Licht zeichnete - um allerdings in einer vom Westen dominierten Weltordnung zu überleben. Umso wichtiger ist es, diese Mechanismen aufzudecken und hinter die Einfärbungen und Schattierungen zu gelangen, die chinesisches Wissen seit dem späten 19. Jahrhundert in ein bestimmtes Licht rückten. Gemeinsam mit einem realgeschichtlichen Beitrag ist diese reflexive Arbeit ein Hauptziel dieser Studie. Im gleichen Atemzug, in dem hier die Grenzen bisheriger Forschungs-zugänge konstatiert werden, ist auch zu betonen, dass auf theoretischer Ebene wie auch in Bezug auf den japanischen Fall die Modernisierungs-theorie und eindimensionale Vorstellungen der Ausbreitung moderner Wissenschaft seit geraumer Zeit kritisiert werden. Nichtsdestotrotz ist festzuhalten, dass die Forschungsergebnisse der vorangegangenen Jahr-zehnte, die chinesischem Wissen eine zweitrangige Bedeutung für die japa-nische Geschichte des 19. Jahrhunderts zuschrieben, erst langsam überarbeitet werden. Bei allen theoretischen und methodologischen Fortschritten in der Wissenschaftsgeschichte wirken frühere Paradigmen indirekt nach, indem manche Themen bevorzugt behandelt und andere vernachlässigt werden. So kommt ein jüngst erschienener japanischer Sammelband zur Formierung 'modernen' Wissens bei zwanzig Beiträgen immer noch ohne chinesisches Wissen aus. Brett Walker bemerkte deshalb vor kurzem nicht zu Unrecht, dass der Diskurs, nach welchem 'der Westen den einzigen Schlüssel zur modernen Welt' innehabe, in Bezug auf die japanische Geschichte des 19. Jahrhunderts quicklebendig sei. Gerade von japanischer Seite liegt aber auch anregende neue Forschung jenseits dieser dominanten Trends vor, die ich nun kurz skizzieren möchte. Miuras Studie zu Kangaku gab den Auftakt für eine neue Beschäftigung mit allen Aspekten chinesischen Wissens - diesmal nicht als Randerscheinung der Modernisierung, sondern um seiner selbst willen wie auch als Schlüsselphänomen der japanischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Drei Bereiche haben in den letzten Jahren einen beachtenswerten Aufschwung erlebt. Erstens haben sich japanische Historiker verstärkt wieder dafür interessiert, wie Konfuzianismus nicht nur ideengeschichtlich, sondern als gesellschaftliche Kraft vor und nach der Zeitenwende von 1868 wirksam wurde und wie sich zugleich japanische Bilder oder Repräsentationen des Konfuzianismus veränderten. Kurozumi Makoto und Maeda Tsutomu waren hier besonders produktiv und zeigten etwa die enge Verflechtung von konfuzianischem Denken mit anderen Wissensbereichen und Traditionen in der Tokugawa-Zeit wie auch die 'Rekonstruktionen', mit denen sich Akteure der Meiji-Zeit neu über das konfuzianische Erbe verständigten. Auch dem Verhältnis konfuzianischen Denkens zur Moderne und modernem Wissen gewinnen in japanischen Kontexten forschende Historiker inzwischen neue Facetten ab. Zweitens wird das komplexe Verhältnis von Wissensproduktion und Politik neu thematisiert. Ein Meilenstein war Makabe Jins umfangreiche Fallstudie zu drei Generationen einer konfuzianischen Gelehrtenfamilie an der höchsten Bildungsanstalt der Tokugawa-Regierung. Auch zu anderen Intellektuellen der späten Tokugawa-Zeit wie Yokoi Sh?nan und seiner Vision von einem globalen Konfuzianismus sind neue Studien erschienen. Es ist kein Zufall, dass das Verhältnis von Wissen und Weltordnung im Fokus beider Studien steht: die in diesem Bereich vorherrschende Sicht, dass konfuzianische Gelehrte auf einer diplomatischen Isolation Japans beharrten und sich einer aktiven Gestaltung der Außenpolitik verweigerten, wird hier einer nötigen Revision unterzogen. Drittens ist das Interesse an der Bedeutung von Übersetzung für chinesisches Wissen dramatisch gestiegen. Besondere Aufmerksamkeit genießt die historische Praxis und Entwicklung der gelehrten Lese- und Schreibpraxis namens Kundoku, durch welche mit sinitischen Schriftzeichen verfasste Texte als Japanisch gelesen werden konnten. Sait? Mareshi hat mit seiner Studie zu sinitischen Texten im Japan des 19. Jahrhunderts den Anstoß geliefert; inzwischen sind mehrere Sammelbände erschienen, die zahlreiche historische Fallstudien zusammentragen. Für Kundoku, besonders seine konzeptionelle Relevanz für die Übersetzungstheorie, hat sich auch die Übersetzungsforschung in europäischen Sprachen interessiert. In den anderen genannten Bereichen beginnt die westliche Forschung gerade erst, zum japanischen Forschungsstand aufzuschließen. Auch diese Studie wäre ohne die bedeutende Arbeit japanische Historiker chinesischen Wissens der letzten fünfzehn Jahre undenkbar.
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