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E-Book

Der Junge vom Saturn

Wie ein autistisches Kind die Welt sieht

AutorPeter Schmidt
VerlagPatmos Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783843604215
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Peter ist ein seltsamer Junge. Wenn er sich freut, flattert er mit den Armen, wie ein Vogel. In der Schule beißt er die Mitschüler, weil er sich mehr durchbeißen soll. Und Zuhause studiert er stundenlang Lichtflecken an den Wänden, weil das so herrlich juchzt. Peter Schmidts Aufzeichnungen über seine Kindheit mit Asperger-Syndrom sind einzigartig. Denn er kann sich nicht nur an die ersten Jahre seines Lebens, sondern sogar an die Stunden seiner Geburt erinnern! Für diese ungewöhnlichen Wahrnehmungen entwirft er eine eigene Sprachwelt, die faszinierend und verblüffend plausibel ist. Ein Lesevergnügen mit Aha-Effekt!

Dr. Peter Schmidt ist promovierter Geophysiker und IT-Experte. Seine Leidenschaft gilt Vulkanen, Wüsten und Straßen aller Art. Erst mit 41 Jahren entdeckte er durch einen Zufall, dass er ein Autist mit ausgeprägtem Asperger-Syndrom ist. In den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften ist er hochbegabt, menschliche Kommunikation hingegen ist ihm oft ein Rätsel. Mit seiner Frau und seinen zwei Kindern lebt er in Gadenstedt im Peiner Land. Sein erstes Buch Ein Kaktus zum Valentinstag wurde zum Bestseller. www.dr-peter-schmidt.de

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Leseprobe

Allein in der Roten Gruppe


Wandernde Taler und ein angebissener Abreißkalender


Es soll auf einmal eine Zeit kommen, in der alles anders ist, als ich es bisher kenne:

»Nächste Woche kommst du endlich in den Kindergarten! Da werden dir dann mal so richtig die Ohren lang gezogen, wenn du da nicht richtig spurst! Im Kindergarten sind noch viele andere Kinder. Da lernste endlich mal, mit vielen Kindern zusammen zu sein und dass es nicht nur dich auf der Welt gibt!«

Einige Tage später ist es so weit. Die Locken setzt mich in den Korb auf ihrem glanzgrünen Fahrrad, das über dem vorderen Speichenrad einen glitzernden Stern hat, den Frontstern. Wir erreichen ein Tor mit grünen Holzlatten, Backsteinpfeilern und Mauern drum herum. Es liegt genau gegenüber von dem Haus, in dem die Omas wohnen. Dort werde ich erst mal hingestellt. Viele Leute sind da. Ich habe eine braune Butterbrottasche. Die riecht nach Brot und getragener, speckig blanker Lederhose. Im Haus prangen kopfgroße volle Punkte an den Türen. Rechts ein blauer Punkt, an der nächsten Tür ein roter Punkt und dann kann man nach links einen langen Gang entlanggehen, da kommt dann ganz hinten noch eine Tür mit einem grünen Punkt. Wir gehen in den Raum mit dem roten Punkt.

Still ergebe ich mich dem, was nun kommen mag. Aber glücklich bin ich nicht. Denn das ist kein Kindergarten, sondern ein Kinderhaus mit Garten. Und in diesem Haus hallt es. Und es gibt viel schrilles Geschrei und grellhellen Lärm, Dinge, die ich überhaupt nicht mag. Ich stehe regelrecht unter Schock.

Nach den ersten Tagen habe ich mich einigermaßen an die neue Umgebung gewöhnt. Aber nicht an die Menschen dort. Ich werde wortkarg. Sitze in der Ecke und spiele mit mir selbst. Warum muss ich bloß hierher? Warum kann ich nicht einfach zu Hause bleiben? Immerhin lässt man mich meistens in Ruhe.

Irgendwarum ahne ich, dass mir diese Erfahrung aber nützlich sein könnte. Ich bin keiner von denen, weil ich anders bin. Ich bin doch einer von denen, weil ich genauso einen Kopf, Körper, Arme und Beine habe wie die anderen Kinder. Ich gehöre also dazu. Und ich gehöre nicht dazu. Warum?

Ich habe nun vormittags noch andere Mütter außer der Locken. Sie heißen Kindergärtnerinnen. So wie Tante Irmgard, bei der ich ja immer der kleine Prinz mit seiner Lederhose bin. Nur die Tante Irmgard, die habe ich immer für mich alleine – oder zusammen mit Jutta. Aber das hier, der Lärm und das ganze Gezwatscher der vielen Kinder, nervt. Was mich auch stört, ist, dass die alle ganz anders als ich spielen wollen. Das blödeste aller Spiele ist die »Reise nach Jerusalem«, die gar nicht nach Jerusalem geht. Immer wenn es heißt, »wir machen jetzt einen Stuhlkreis«, dann weiß ich, dass eine blöde Stunde kommt. Solche Spiele verstehe ich oft nicht richtig. Sie machen dann auch keinen Spaß. Immer wieder erkenne ich nicht, wodurch man Sieger werden kann, was ich also besonders gut machen muss, um zu gewinnen. Spiele ohne Gewinnregeln sind alle doof. Erst recht das Andere-Leute-Sein.

Daher verbringe ich die meiste Zeit alleine spielend in der Ecke vor der Faltwand am Fenster. Sie ist eine blasskackfarbene Wand, die manchmal wie eine Ziehharmonika zusammengezogen wird, dann ist der Raum unserer Gruppe mit dem Raum einer anderen Gruppe verbunden.

Meistens habe ich im Winter eine lange grüne Latzhose aus Lederplastik an, die immer schön glatt ist und trotzdem herrlich lederhosig riecht. Das erinnert an zu Hause. Jeden Tag sehne ich den Moment herbei, dass ich endlich wieder nach Hause kann. Dass endlich die Locken mit ihrem grünen Frontsternfahrrad kommt und mich befreit. Komischerweise wollen viele der anderen gerne noch bleiben. Das verstehe ich überhaupt nicht.

Zu Hause möchte ich endlich wieder auf den Hofplatten Straßen malen oder in meinem Kinderduden lesen können. Der hat so viele schöne Bilder und Wörter drin. Besonders die Szene mit der Autobahn gefällt mir. Ja, ich würde auch so gerne mal auf so einer Autobahnbrücke stehen und einfach den ganzen Tag den Verkehr beobachten. Schade, dass es keine Autobahn durch unser Dorf gibt. Und all die anderen Sachen, die darin sind und die ich auch gerne mal in echt sehen will, haben wir auch nicht: einen Flughafen, einen Strand mit Meer oder hohe Berge.

»Taler, Taler, duhu muhusst wandern, von der einen Hahand zuhur andern! Das ist schön, das ist schön! Taler, lass dich nur nicht sehn!«, singen wir alle zusammen im Stuhlkreis mit der Tante Feldmeier, während ein Groschen hinter dem Rücken aller Kinder weitergegeben wird. Es ist eines der wenigen Stuhlkreisspiele, die ich wirklich mag. Das Lustige und für alle sehr Merkwürdige an diesem Spiel ist nämlich, dass jedes Mal, wenn der Taler bei mir bleibt, das so schnell niemand herausbekommt.

»Weißt du, du kuckst immer gleich!«, oder: »Du kuckst immer wie ein Auto!«, heißt es. »Wie machst du das bloß?«, will die Tante Feldmeier wissen. Warum das so ist, weiß ich selber nicht! Daher werde ich fast nie das Kind, das raten muss, wo denn der Taler gerade ist. Als es einmal heißt: »So, jetzt, Peter, bist du mal am Anfang derjenige, der herausfinden muss, wo der Taler ist!«, verliere ich den Spaß, denn das dauert so lange wie bei keinem anderen. Warum bloß?

Wenn Malstunde ist, weißt mein Papier vor mir, ohne dass ich da was strichen kann. Ein Malbuch mit Vorgaben, was zu malen ist, wäre besser. Da kommt die Tante Feldmeier, nimmt einen der Stifte und malt sprechend: »Punkt, Punkt, Komma, Strich – fertig ist das Mondgesicht!« Vor mir bildert ein Ei mit zwei Punkten, einem Stab und einer kurvenschienigen Linie. »Ja, aber der Mond hat doch gar kein Gesicht! Nur große und kleine dunkle Krater!«, stelle ich klar.

Ich striche stattdessen Straßen mit Strichen in der Mitte. Abzweigungen, Kreuzungen, Brücken. Und eine Straße, die überall Vorfahrt hat: die Vorfahrtsstraße. Die Hauptstraße. »Na, du malst ja interessante Sachen!«, stellt die Tante irgendwann später fest.

Als Geburtstagsgeschenk erhalte ich von Tante Feldmeier einen Abreißkalender mit Goofy drauf. Für jeden Tag ein eigenes Blatt. Darüber freue ich mich zunächst. Allerdings startet der Kalender mit einer 3 für den dritten Januar. Dies entwertet das ganze Geschenk. Denn damit ist es nicht mehr vollständig. »Tante Feldmeier, wo hast du die 1 und die 2 und das Deckblatt?«

»Du hast doch heute Geburtstag, heute haben wir schon den dritten Januar!«

»Aber jeder Kalender beginnt mit einer 1 und hat vornedrauf noch ein Deckblatt!«

»Peter, das tut mir leid, das habe ich bereits weggeworfen!«

Weggeworfen hat sie das. Möchte mir ein Geschenk machen und gibt mir ein kaputtes Geschenk. Was soll ich denn damit noch? Das ist wie ein angebissener Geburtstagskuchen.

Zu Hause wird Kindergeburtstag gefeiert. Mein Lieblingsgast ist die Ulrike. Sie ist immer noch fünf Jahre älter als ich. Ich bin jetzt 6, sie ist 11. Sie hat rotgelbbraune Klamotten an und hat am meisten Ahnung von allem. Die übrigen Gäste toben planlos herum. Der Goofy-Kalender zeigt mittlerweile den 13. Januar, so viele Tage sind schon falsch da herausgerissen worden. Es ist mir egal.

Wenige Tage später spure ich mit dem Schlitten Schienen im stillen Schnee. Ganze Gleisnetze in der schneeweißen Stille, die erst mal niemand außer mir und meiner Lok, dem Schlitten, befahren darf. Die Regeln für den Schienenbau mit der Schlittenlok habe ich erfunden, sie darf niemand anders machen.

Im zweistockwerkigen, großen, weißen Haus neben unserem Garten, also nicht in der SCRAL, sondern in Deutschland, wohnt der Uwe. Er ist in der gleichen Kindergartengruppe und etwa so groß und alt wie ich. Zwar kann man mit ihm leider noch kein Wörterraten spielen, aber sehr gut Verstecken oder Kriegen. Der Uwe und andere Kinder dürfen nur dann mit ihrem Schlitten das schneeige Schienennetz befahren, wenn sie keine neuen Strecken spuren und sich auch sonst an die Regeln halten. Dann macht es sogar besonders viel Spaß. Es gibt dann entgegenkommende Züge, Wettfahrten und vieles mehr.

Ab dem Frühling dürfen wir im Kindergarten endlich wieder nach draußen auf den Spielplatz. Der hat auch einen Sandkasten. Am liebsten spiele ich zwar in der Sandkiste, aber nicht in der vom Kindergarten. Die ist wertlos. Wenn ich dort Straßen baue, dann trampeln die anderen immer gleich alles kaputt. Die einzig friedliche Lösung ist, dass ich erst gar nichts aufbaue, was die anderen kaputtmachen können. Überhaupt stelle ich fest, dass es im Kindergarten kein einziges Kind gibt, das eine Sache ausdauernd stundenlang spaßig spielen kann.

Auch entdecke ich, dass manche Sachen, die für andere anscheinend Strafen sein sollen, für mich richtig gute Belohnungen sein können. Wenn man mich nach einem Streit alleine spielen lässt zum Beispiel. Und solche Spiele, die mir spaßen würden, Hauptstädteraten, Postkartenraten, Wörterspiele wie das lustige Spiel mit dem wachsenden Galgenmännchen, all das können die anderen leider gar nicht. Und wollen das anscheinend auch nicht lernen. Schade. Stattdessen blättern die alle in Bilderbüchern und lassen sich Märchengeschichten erzählen, die mir früher eher Angst machten als mich erheiterten, bis ich begriff, dass alle Geschichten sowieso erfunden sind. Und seither interessieren mich solche Lügengeschichten auch nicht mehr.

Der Arm, der einfach nicht brechen wollte


Zugang zu den anderen habe ich, wenn überhaupt, nur über Uwe, meinen »besten Freund«. Allerdings zeigt er zunehmend auch Allianzen mit den anderen. Ich werde dann immer ganz eifersüchtig. Denn ohne Uwe bin...

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