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E-Book

Der Reichstag

Symbol deutscher Geschichte

AutorMichael S. Cullen
VerlagBeBra Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783839301258
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Im Reichstagsgebäude spiegelt sich - wie nirgends sonst in Deutschland - die wechselvolle deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Historiker und Publizist Michael S. Cullen erzählt in diesem Buch von den schwierigen Planungen, vom parlamentarischen Alltag im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, von Missbrauch und Zerstörung in der Zeit des Nationalsozialismus, von den Debatten des Kalten Krieges, von der spektakulären Verhüllung durch Christo und Jeanne-Claude im Jahr 1995 und vom Wiedereinzug des deutschen Parlaments.

Michael S. Cullen, 1939 in New York City geboren, studierte Slawistik, Philosophie, Geschichte und Musik, bevor er 1962 als Übersetzer und Autor für einen amerikanischen Radiosender nach Deutschland kam. Ende der 1960er-Jahre gründete er in Berlin eine legendäre Kunstgalerie. 1971 schlug er den Künstlern Christo und Jeanne-Claude mittels einer Postkarte vor, den Reichstag zu verhüllen. Auch an der Umsetzung des Projekts, die erst 24 Jahre später gelang, war er maßgeblich beteiligt. Seit Jahrzehnten forscht und publiziert Cullen unermüdlich über die Geschichte des Reichstagsgebäudes. Er wurde 1995 mit dem Berliner Landesverdienstorden sowie 2003 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

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Leseprobe

Parlamentarischer Alltag 1894–1932


Der Reichstag und die Presse


Während in den Vereinigten Staaten und zum Teil auch in den anderen westlichen Demokratien vorwiegend Juristen und Rechtsanwälte das Gros der Parlamentarier stellten, übte der Reichstag von der ersten Stunde an eine große Anziehungskraft auf Journalisten aus. Laut einer Statistik von 1912 gaben 43 SPD-Abgeordnete als Beruf Journalist oder Redakteur an; in Amerika könnte man nicht einmal halb so viel im gesamten Kongress finden. Freilich war es bei der SPD schon zur Tradition geworden, Parlamentarier und Führungspersonen aus den Redaktionen zu rekrutieren; häufig aber war es auch umgekehrt, dass gerade die Sozialdemokraten und andere Linksstehende in der diätenlosen Zeit ihr Brot vorwiegend durch Journalismus verdienen mussten. Aber auch in den anderen Fraktionen kamen viele Abgeordneten von der Presse.

In einer Epoche, in der Berufspolitik verpönt war und sich damit keine Familie ernähren ließ, war das gar nicht so verwunderlich, wie es auf den ersten Blick erscheint, denn zum Funktionieren eines Parlaments, das diese Bezeichnung verdient, gehört die Herstellung von Öffentlichkeit, die Verbindung zum Wähler. Bemerkenswert ist, dass vorerst die Journalisten die Bedeutung ihrer Rolle wesentlich schneller und effektiver begriffen als die Parlamentarier.

Schon 1871 beauftragte der Berliner Presseverein seine Mitglieder Eduard Lasker, John Prince-Smith, Max Ring und Heinrich Steinitz, bei der Planung und Durchführung für das neue Reichstagsgebäude die Belange der Presse zu wahren. Prince-Smith und Lasker, gleichzeitig Mitglieder des Reichstags, waren jedoch schon tot, als die Arbeit am Neubau begann. Es ist nicht bekannt, dass für sie Ersatz ernannt worden wäre; dementsprechend fiel der Journalistenbereich im Wallotbau aus – den Pressevertretern verging buchstäblich das Hören und Sehen. Kurz nach der Eröffnung des Reichstagsgebäudes schrieb das »Berliner Tageblatt« am 8. Dezember 1894: »Die Journalisten, die doch den überaus wichtigen Verkehr zwischen dem Parlament und dem Volke durch die Presse zu vermitteln haben – ein Parlament, in dem die Öffentlichkeit ausgeschlossen wäre, hätte gar keine Bedeutung – hören im neuen Reichstagspalast am Königsplatz sehr viel schlechter als im alten in der Leipziger Straße.« Im alten Reichstagsgebäude hatten sich die Journalistentribünen rechts vom Präsidenten und hinter ihm befunden, so dass Reden vom Rednerpult für die Journalisten gut verständlich waren. Im neuen Hause befanden sich die Pressetribünen zur Linken des Präsidenten und vor ihm, so dass die Beiträge aus dem Plenarsaal in Richtung Präsidententribüne kaum zu hören waren. Heute vergisst man leicht, dass es damals keine Mikrophone und keine Lautsprecher gab.

Dass man für die Journalisten separate Speiseräume sowie von den Abgeordneten abgeschirmte Verkehrswege eingerichtet hatte – zur Journalistentribüne führte eine graue Hintertreppe – erschwerte die Arbeit; dass das Telegrafenamt nun auch viel weiter entfernt war, konnte man zwar verstehen, aber nicht gutheißen. Dennoch waren die Beziehungen zwischen Presse und Parlament nicht so schlecht, wie die räumliche Vernachlässigung dies hätte vermuten lassen. Jedenfalls arrangierte man sich einige Jahre später. Bereits am 5. November 1899 konnte der Verein der Berliner Presse erreichen, dass sich das Reichstagsportal zum ersten Male für ein vom Verein veranstaltetes Wohltätigkeitskonzert öffnete. In den folgenden Jahren fanden wiederholt zum Jahresende oder zum Jahresbeginn Konzerte bzw. Pressefeste statt. Der Andrang bei diesen Feiern war gelegentlich so groß, dass – wie das »Berliner Tageblatt« am 8. Januar 1905 meldete – selbst Staatssekretäre und Bürgermeister stehen mussten.

 

Der Plenarsaal mit den halbkreisförmig angeordneten Sitzen orientierte sich am Vorbild des Reichstagsprovisoriums in der Leipziger Straße 4.

 

Im Großen und Ganzen waren die Beziehungen zwischen Reichstag und Presse ungetrübt, wie eine Reihe von gemeinsamen Veranstaltungen deutlich macht: Zwischen dem 21. und 26. September 1908 tagte ein internationaler Pressekongress im Reichstagsgebäude. Am 10. Januar 1909 fand im Reichstagsgebäude eine Konferenz des Bundes der Redakteure statt und am 20. November 1910 eine Vertreterversammlung des Verbandes der deutschen Journalisten- und Schriftstellervereine und des Bundes deutscher Redakteure, in der der Reichsverband der deutschen Presse gegründet wurde.

Dennoch kam es immer wieder zu Spannungen, die allerdings oft nur dazu dienten, den Parlamentariern zu zeigen, dass und inwieweit sie von der Presse bzw. vom Wohlwollen der Journalisten abhängig waren. Am deutlichsten wurde dies im Journalistenstreik vom 19. bis 24. März 1908. Der Zentrumspolitiker und spätere Finanzminister Matthias Erzberger sprach in einer Kolonialdebatte am 19. März enthusiastisch über die »hohe Bedeutung der unsterblichen Seele des Negers«. Als auf der Journalistentribüne darüber laut gelacht wurde, erhob sich der Zentrumsführer Adolf Gröber und sagte ebenso laut: »Das sind wieder oben die Journalisten, die Saubengels, die mich schon neulich gestört haben«, woraufhin sich die Journalisten »wie ein Mann« erhoben. Sie verließen die Journalistentribüne, wählten eine Drei- Mann-Deputation, die eine öffentliche Erklärung an den Reichstagspräsidenten Graf von Stolberg überreichte, in der sie eine förmliche Entschuldigung verlangten. Da das angebotene präsidiale Bedauern den Journalisten keineswegs genügte, übergaben sie dem Reichstagspräsidenten am 20. März eine erneute Forderung. Bis zur schriftlichen oder mündlichen Erklärung durch den Präsidenten oder Gröber selbst wollten die Journalisten ihren Verlegern gegenüber in den Streik treten.

Am nächsten Tag rechtfertigte sich Gröber mit einer milden Erklärung. Zwar sei seine Äußerung richtig wiedergegeben worden, er hätte sie aber privat und zu einem Nachbarn und überhaupt nicht laut in den Raum hineingesprochen; die Äußerung sei also nicht für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen.

Die Journalisten stellten fest, dass sich der Streik langsam auf das Verhalten einiger Volksvertreter auszuwirken begann. Die Abgeordneten wiederum bemerkten, dass ihre Reden ohne die Veröffentlichung keine Wirkung hatten. Dadurch war für sie der Weg zum Wähler abgeschnitten. Einige versuchten deshalb unter vier Augen, den Journalisten ihre Redetexte aufzudrängen – vergeblich. Der Reichstagsdirektor Bernhard Jungheim unternahm sogar den Versuch, völlig ohne die Journalisten auszukommen: Er ließ Presseberichte verfassen und an die Zeitungsredaktionen verschicken.

 

Der Akustik zuliebe war der Saal völlig mit Holz ausgekleidet. Dennoch hörte man auf den Besucher- und Pressetribünen nicht immer gut.

 

Am 21. März schrieb der Vertreter der »Kölnischen Volkszeitung«, Hans Eisele, das Zentrum sei der Meinung, dass die Journalistentribüne schon seit Monaten gegen die Abgeordneten der Partei vorgehe. Bis nicht von den Journalisten ein Bedauern über diese Störung ausgesprochen werde, sei vom Zentrum deshalb keine Entschuldigung zu erwarten. Die noch anwesenden Journalisten entgegneten, dass die angeblichen »Lacher« keineswegs nur gegen das Zentrum gerichtet seien, und im Übrigen bestehe die Presse ebenso aus Politikern wie der Reichstag selbst.

Vermutlich hätte der Streik noch länger angehalten, hätte nicht Reichskanzler von Bülow eine wichtige Rede zu Fragen der Außenpolitik halten und sichergehen wollen, dass darüber in der Presse berichtet wurde. Er intervenierte also beim Zentrum sowie bei Gröber persönlich und veranlasste diesen, eine Erklärung abzugeben:

»Meine Herren! Es ist mir eine persönliche Ehrensache, meinen verehrten Kollegen folgende Erklärung abzugeben: In der Sitzung des Reichstags vom 19. März hat der Abg. Erzberger in einer Rede über die Kolonialpolitik gesagt: Der Eingeborene ist auch ein Mensch, ausgestattet mit einer unsterblichen Seele, und zu derselben ewigen Bestimmung berufen wie wir. Nach Anhörung dieser Worte, wie ich ausführlich hervorheben will, verzeichnet der unkorrigierte amtliche stenographische Bericht Unruhe und Zwischenrufe von der Journalistentribüne, lebhafte Entrüstungsrufe aus der Mitte, Glocke des Präsidenten. An den lebhaften Entrüstungsrufen aus der Mitte war auch ich beteiligt. Das Gelächter von der Journalistentribüne war so auffallend, dass ich mit anderen Kollegen den Eindruck gewonnen habe, es handelt sich um eine Verhöhnung des Inhalts der Ausführungen des Redners. Ich möchte hinzufügen, dass ich wenige Tage vorher, nämlich in der Abendsitzung vom 16. März durch einen Zuruf von der Journalistentribüne gestört worden bin, einen Zuruf, der dann vom Präsidenten gerügt worden ist. Der stenographische Bericht über die Sitzung vom 19. März bestätigt, dass solche Störungen von der Journalistentribüne auch sonst wiederholt erfolgt sind (Sehr richtig! im Zentrum). Wenn ich in Erinnerung an diese Vorgänge der letzten Zeit und angesichts des Ernstes der von dem Redner behandelten Frage meiner Entrüstung über das Gelächter einen unparlamentarischen Ausdruck gegeben habe, so bitte ich um Entschuldigung (Beifall).«

Kurt Tucholsky und der »Fremdenverkehr«


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