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Der Zweiklassenstaat

Wie die Privilegierten Deutschland ruinieren

AutorKarl Lauterbach
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783644111813
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Deutschland ist zu einem Zweiklassenstaat verkommen, in dem Herkunft mehr zählt als Talent und Leistung. Prof. Karl Lauterbach, einer der führenden Sozialexperten Deutschlands, deckt auf, wie unser Bildungs-, Renten-, Pflege- und Gesundheitssystem von Privilegierten systematisch ausgenutzt wird, während die anderen immer mehr verlieren.

Prof. Dr. med. Karl Lauterbach, geboren 1963, zählt zu den profiliertesten deutschen Politikern. Er ist Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie der Universität Köln, seit 2008 zudem Professor an der Harvard School of Public Health. Der Experte für Gesundheits- und Sozialpolitik wurde 2005 Mitglied des Bundestages, bis 2019 war er stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter der Bestseller «Der Zweiklassenstaat». Seit Dezember 2021 ist Karl Lauterbach Bundesminister für Gesundheit.

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Leseprobe

Die Ruhe vor dem Sturm


Wie ist es möglich, dass wir nicht aufholen, obwohl wir immer wieder davon reden? Wie ist es möglich, dass die bedeutendste Fachzeitschrift für Innere Medizin in Deutschland, die «Medizinische Klinik», nicht einmal mehr zu den fünfzig wichtigsten internationalen wissenschaftlichen Publikationen in der Inneren Medizin gehört? Während in den 1960er Jahren viele japanische Medizinstudenten noch Deutsch lernen mussten, um die deutsche wissenschaftliche Literatur verfolgen zu können, werden heute die Artikel der «Medizinischen Klinik» nicht einmal mehr ins Englische übersetzt.

Fast alle medizinischen Lehrstühle werden jetzt an Bewerber vergeben, die einige Jahre im Ausland waren, weil das Forschungsniveau in Deutschland zumindest in den medizinischen Kernfächern wie Innere Medizin oder Chirurgie kaum ausreicht, diese Stellen zu besetzen. Während junge deutsche Wissenschaftler oder Studenten zu Beginn ihrer Karriere im Ausland gerne genommen werden, gilt dies für etablierte Wissenschaftler so gut wie nie. Nur im extremen Ausnahmefall würde eine amerikanische Spitzenuniversität einen deutschen Lehrstuhlinhaber berufen.

Vor einem «Brain Drain» deutscher Spitzenmediziner oder -forscher müssen wir uns nicht fürchten. Nur die jungen Leute gehen, weil im Ausland die Bedingungen besser sind, um zur Spitze aufzuschließen. In der Wirtschaft ist es nicht anders. Obwohl die explodierenden Vorstandsgehälter in deutschen Unternehmen gerne mit dem Wettbewerb um die Köpfe in der globalisierten Welt begründet werden, gibt es aus den Reihen unserer Topmanager kaum Abwerbungen.

Das Versagen hochbezahlter Manager wird nahezu täglich in der Wirtschaftspresse beklagt. Doch diese Klagen zielen am Kern des Problems völlig vorbei. Obwohl es unsere Volkswirtschaft täglich schwächt und deshalb schon traurig genug ist, stellt dieses Versagen nur die Spitze eines riesigen Eisbergs dar. Unser gesamtes Bildungs- und Forschungssystem befindet sich in einer massiven Dauerkrise, deren Ende nicht abzusehen ist.

Bereits der Aufschwung in den vergangenen Monaten mit einem Wachstum von 0,9 Prozent im vierten Quartal 20061 lässt einen Mangel an Ingenieuren und Softwarespezialisten zutage treten, der das Wachstum schon wieder behindert. Hätten wir in den vergangenen Jahren tatsächlich das Wachstum der USA oder gar Chinas gehabt, wären uns längst die Ingenieure ausgegangen.

Im Jahr 2005 gab Deutschland für Forschung und Entwicklung knapp 2,5 Prozent2 des Bruttoinlandsproduktes aus. Damit liegen wir zwar leicht über dem OECD-Durchschnitt, aber immer noch deutlich unter den drei Prozent, die nötig wären, um den Anschluss an die Weltelite zu halten. Um dieses Ziel zu erreichen, hätte man allein im Jahr 2005 zwölf Milliarden Euro mehr für Forschung und Entwicklung ausgeben müssen. Die Unterfinanzierung betraf insbesondere die Forschungsausgaben des Staates. Im Jahr 1995 lag sein Anteil gegenüber der Wirtschaft noch bei 38 Prozent, im Jahr 2005 nur noch bei 30 Prozent.3

Doch mit mehr Geld allein ist es nicht getan – wir müssten den Forschungs- und Entwicklungsbereich auch personell aufstocken, und dafür fehlt es eklatant an qualifizierten Ingenieuren und Wissenschaftlern. Der Wirtschaft dürfen wir sie nicht entziehen, weil dies das Wachstum wieder behindern würde. Wir verkennen die Dramatik der Situation, weil jetzt Aufschwung ist und der Export seit Jahren brummt. Die Lage wird sich in den nächsten Jahrzehnten grundlegend verschlechtern.

Heute sind wir noch Exportweltmeister, weil wir von der Bildungsoffensive der 1970er Jahre profitieren. Damals, in der Blütezeit der deutschen Bildungspolitik, stimmte für die Chancengleichheit der Kinder fast alles: Sie kamen aus allen gesellschaftlichen Gruppen, waren oft die ersten Abiturienten ihrer Familien und damit besonders ehrgeizig und drängten mit diesem Ehrgeiz auf die damals international noch nicht ganz abgeschlagenen deutschen Universitäten. Es ist diese Babyboomer-Generation, die größte Geburtskohorte, die es in Europa jemals gab, die die für den Exportweltmeister bestimmende Generation der heute vierzig- bis fünfzigjährigen Ingenieure, Wirtschaftsfachleute und Wissenschaftler stellt.

Die Ingenieure von morgen kommen aus Geburtsjahrgängen, die nur halb so stark sind. Sie repräsentieren lediglich die Hälfte ihrer Generation, weil die andere Hälfte durch bildungsfernen Hintergrund oder Herkunft aus Migrantenfamilien gar keinen Zugang mehr zum System der Hochschule hatte. Wenn die Babyboomer abtreten – und die meisten dürften den Zenit ihrer kreativen Schaffenskraft bereits erreicht haben –, folgt also eine Generation, deren Kreativität sich nur aus einem Viertel des ursprünglichen Pools der Talente speist: die Geburtenjahrgänge haben sich halbiert, und nochmals der Hälfte dieser Kohorte wird der gerechte Zugang zur besten Bildung verwehrt.

Der zukünftige Pool der Talente reicht vielleicht für ein Land mit 20 Millionen Einwohnern, nicht aber für 80 Millionen. Er wird auch nicht reichen, um Exportweltmeister zu bleiben. Während der Pool deutscher Talente auf ein Viertel geschrumpft ist, ist der internationale Pool gewachsen.

So hat Indien die Zahl seiner Akademiker in den letzten zwanzig Jahren um fünfzig Prozent gesteigert. In China verdoppelt sich gar die Zahl der Akademiker alle fünf Jahre, die Zahl der dort Studierenden hat sich seit 1998 fast verfünffacht. Beide Länder entlassen jedes Jahr um die drei Millionen Hochschulabsolventen auf den Arbeitsmarkt. Allein in China werden nun jährlich rund 600000 Ingenieure ausgebildet – mehr als alle Ingenieure, die in Deutschland in den letzten zehn Jahren die Hochschulen verlassen haben. Als eine der reichsten Nationen schafft Deutschland es gerade einmal, 37000 Ingenieure im Jahr auszubilden4, und das mit abnehmender Tendenz.

Zwar ist es richtig, dass das Niveau der Ausbildung in China und Indien zum Teil noch schwach ist und mit dem der US-amerikanischen Eliteuniversitäten nicht konkurrieren kann. Das durchschnittliche Niveau deutscher Hochschulen dürfte aber in wenigen Jahren erreicht sein. Unsere Hochschulen produzieren weder die preiswerten Anwendungswissenschaftler Asiens noch die Spitzenforscher der Vereinigten Staaten. Wir produzieren überwiegend Mischakademiker, die weder sehr günstig noch wirklich Weltklasse sind, und wir produzieren davon noch zu wenige.

Die Schwäche unseres Bildungssystems im Bereich von Forschung und Entwicklung wird unsere Wirtschaft an vielen Stellen verwundbar machen. Bereits jetzt begründen 22 Prozent der Unternehmen ihre Verlagerung von Forschung und Entwicklung ins Ausland damit, dass dort mehr Fachkräfte verfügbar seien; 12 Prozent verlegen Forschungsabteilungen ins Ausland, weil sie dort die besseren Wissenschafts- und Forschungsstrukturen vorfinden.5

Der Auszug der Forschungsabteilungen großer Unternehmen wird die Regel werden, weil Fachkräfte fehlen und sich auch keine Änderung am Horizont abzeichnet. Bayer verlässt Wuppertal in Richtung Kalifornien. Siemens wandert mit Hightechprodukten nach Asien ab. Selbst Autozulieferern werden mittlerweile anderswo bessere Bedingungen geboten.

Von über 1500 befragten deutschen Unternehmen investierte Anfang 2005 bereits jedes dritte im Ausland in Forschung und Entwicklung, etwa 15 Prozent hatten schon Teile von Forschung und Entwicklung dorthin verlagert, weitere 17 Prozent der Firmen planten eine derartige Verlagerung für den Zeitraum der kommenden drei Jahre.6 Oft bleibt die Forschung bereits heute nur deshalb in Deutschland, weil sie hier steuerlich gut abgesetzt werden kann oder die altgedienten Firmenchefs mittelständischer Unternehmen ungläubig auf die Entwicklung starren, bevor ihre Firmen untergehen.

Aber bei der deutschen Bildungsmisere geht es um mehr als den Verlust von Forschungsabteilungen oder die Schwäche der deutschen Spitzenforschung im internationalen Vergleich. Unser Bildungssystem schafft es, oben und unten gleichzeitig zu versagen. Es produziert oben keine Spitzenkräfte und unten Massenlangzeitarbeitslosigkeit.

Die Hälfte der Kinder aus Migrantenfamilien besucht lediglich die Hauptschule. Ein Viertel der Migrantenkinder erlangt gar keinen Schulabschluss. Wir leisten es uns, 8,2 Prozent aller Kinder ohne Schulabschluss auf den Arbeitsmarkt zu schicken.7 Da ist es kein Wunder, dass nur um die zwanzig Prozent eines Jahrgangs in Deutschland ein Hochschul- oder Fachhochschulstudium abschließen (2004). Das sind siebzehn Prozent weniger als im OECD-Durchschnitt.8 Nur zwölf Prozent der Kinder aus Arbeiterfamilien nehmen überhaupt ein Studium auf.9

Die Mehrzahl derer, die ohne Ausbildung sind, wird in Langzeitarbeitslosigkeit, im Bereich steuerlich bezuschusster Arbeit oder mit Löhnen am Existenzminimum leben müssen. In keinem Land Europas konzentriert sich die Arbeitslosigkeit so stark auf diejenigen mit fehlender Berufsausbildung wie in Deutschland. In einer globalisierten Wirtschaft konkurrieren sie zunehmend auch noch mit Dienstleistern und Produzenten aus Niedriglohnländern, die besser ausgebildet sind als sie und billiger arbeiten wollen.

Viel zu viele Jugendliche sind bei uns schon jetzt arbeitslos und ohne Job-Perspektiven. Sie werden sich im Rahmen der EU-Erweiterung und der Öffnung der Märkte Asiens demnächst weiterer Konkurrenz ausgesetzt sehen. Unser Bildungssystem hat ihnen die Schutzimpfung versagt, die sie für das Bestehen dieser Herausforderung benötigt hätten. In keinem anderen großen Industrieland ist der Anteil der sogenannten Risikoschüler so hoch wie in Deutschland: Mehr als 22 Prozent der Fünfzehnjährigen in Deutschland können auch laut der neuen...

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