WAS BISLANG NOCH KEIN
DALAI LAMA GESAGT HAT
VORWORT
von Sofia Stril-Rever
»Meine gute alte Freundin!«
In der gotischen Anlage von Oxford, wo ich auf die Ankunft des Dalai Lama warte, recken die Bäume ihr üppiges Laubwerk dem Himmel entgegen. Ihre Blätter zittern im leisen Wind wie offene Weisheitsbücher, während ihre Wurzeln ihr Geheimnis unter dem üppigen Rasen des Bodens verbergen.
Das Magdalene College ist ein Meisterwerk aufwändiger Architektur, die Frucht eines großartigen Zusammenspiels von Kunst, Natur und Zeit. Es trägt den Namen Maria Magdalenas, der biblischen Heiligen, die als Erste den auferstandenen Jesus im Garten bei Golgatha wiedersah und die Frohbotschaft von seiner Auferstehung den niedergeschlagenen Aposteln brachte. In der anglikanischen Kirche wird sie als Inkarnation der heiligen Weiblichkeit verehrt; die ersten englischen Universitäten Oxford und Cambridge wurden nach ihr benannt.
»Meine gute alte Freundin!«, ruft der Dalai Lama aus, als er mich sieht. Er drückt mich an sein Herz. Jede unserer Begegnungen – zählen kann ich sie schon gar nicht mehr – ist so neu, wie es alle bisherigen waren. Die erste erlebte ich in Dharamsala am Ostermontag im April 1992. An diesem Tag, an dem die Christen den Übergang ins wahre Leben feiern, war der Dalai Lama, von dem ich damals noch wenig wusste, aus einer großen Menschenmenge heraus, die sich zu einer tibetischen Oper versammelt hatte, auf mich zugekommen. Er hatte mich fest an sich gedrückt. Während dieser kurzen Umarmung war die Zeit für mich stillgestanden. Eine Stimme aus dem Nirgendwo und Überall hatte mir den Befehl gegeben: »Heraus!« Das war eine unbeschreibliche Erfahrung, die mein ganzes Denken und alle seine Vorstellungen herausforderte. Sie verlieh mir die Kraft, über den Geist der Abtrennung hinauszugehen, einen Geist, der abspaltet, absondert und Gegensätze aufstellt. Diese Kraft machte alle meine Grenzen, Ängste, Zweifel und Vorbehalte zunichte und lenkte mein Geschick in eine Richtung, die ich ganz und gar nicht vorausgesehen hatte.
23 Jahre danach, am Dienstag, dem 15. September 2015, vernehme ich wieder diesen Befehl: »Heraus!« Der Anspruch liegt dieses Mal auf einer Ebene, auf der ich ins Wanken komme, zugleich aber spüre ich auch, dass mich eine Woge des Vertrauens erfasst. Da überlasse ich mich ohne jeden Vorbehalt der grundlegenden Güte des Lebens, die mir die Gegenwart des Dalai Lama vermittelt, und ich lehne meinen Kopf an seine Schulter. Zu meiner großen Überraschung erlebe ich in den nachfolgenden Minuten, dass er nicht bloß die Uhrzeit unseres Interviews ändert, sondern sogar das Protokoll! Er wendet sich an den Präsidenten des Magdalene College und dessen Gattin und bittet sie, mich bei ihnen zum Essen einzuladen.
Soll das dritte Buch genauso dick werden wie die vorherigen?
Der hohe, nüchterne Speisesaal ist von strenger Eleganz und hat Gewölbebogen wie ein Kirchenschiff. Erhellt wird er von einer Reihe von gotisch gerippten Maßwerkfenstern. Büsten und Porträts entschieden dreinblickender Würdenträger schmücken den Raum – ernste und eindrucksvolle Vertreter einer Geschichte, die inzwischen weit über sie hinausgegangen ist. Sie sollten die stummen Zeugen dieses Besuchs des im Exil lebenden Souveräns vom Dach der Welt sein.
Der Präsident nimmt am oberen Ende eines massiven Eichentischs Platz und fordert das geistliche Oberhaupt der Tibeter auf, sich zu seiner Linken zu setzen, und mich, zu seiner Rechten. Bei dem Gedanken, dass ich zusammen mit dem Dalai Lama und seinem jüngeren Bruder Tenzin Choegyal an einem Tisch speisen soll, bekomme ich regelrechtes Herzklopfen. Seinem Bruder war ich bereits 2008 auf der Tournee mit dem Film »Renaissance«1, der von der Wiedergeburt handelt, begegnet, und er hatte mir Fotos gezeigt, die seine Flucht an der Seite des Dalai Lama verewigten. Die beiden hatten sich im März 1959 als tibetische Soldaten verkleidet, um der Treibjagd der Volksbefreiungsarmee zu entkommen, und waren über das Himalaya-Gebirge entflohen. Ihr Exil in Indien, eigentlich nur als vorübergehend vorgesehen, hatte sich nun bereits über ein halbes Jahrhundert hingezogen. Tenzin Choegyal nimmt an den »Mind & Life«-Dialogen, die der Dalai Lama zusammen mit renommierten internationalen Wissenschaftlern ins Leben gerufen hat, seit ihren Anfängen teil.2
Die Atmosphäre des Essens entspannt sich rasch, als sich der Dalai Lama auf seinem Stuhl umdreht und mit schallendem Lachen sagt: »Ich habe doch gemerkt, dass da jemand ist!« Daraufhin umarmt er den Kopf einer weißen Marmorbüste und tut so, als wolle er ihm den steinernen Bart abziehen. Ich meine, die Züge Shakespeares erkannt zu haben, jenes Dramatikers, der die herzzerreißenden Leidenschaften unserer Menschenseele in Szene gesetzt hat. Die Büste steht auf einem kleinen runden Tisch vor einem Uhrwerk, das die feierliche lateinische Aufschrift trägt: Pereunt et Imputantur, »Sie vergehen und werden angerechnet«. Dieser Spruch des römischen Dichters Martial weist auf das unvermeidliche Vorübergehen der Stunden hin, für die wir verantwortlich sind. Es ist eine Erinnerung an die Unbeständigkeit, diese Grundlehre des Buddha, mit der er uns dazu auffordert, uns nicht an die Phänomene dieser Welt zu haften, da sie innerlich nicht von Bestand sind.
Der Dalai Lama wendet mir sein Gesicht zu, dieses Gesicht mit seinen von der Praxis der Kontemplation fein ziselierten Zügen, die eine konzentrierte Strenge von großer Sanftmut verraten. Liebenswürdig blickt er mich an. Er kommt auf unser Buch Der Appell des Dalai Lama an die Welt3 zu sprechen, das ich anhand seiner jährlichen Ansprachen anlässlich des Gedenktags an den Aufstand von Lhasa am 10. März verfasst habe und das erst vor Kurzem ins Englische übersetzt worden ist.4 Plötzlich sehe ich in seinem Blick ein schelmisches Aufleuchten, und er sagt neckisch zu mir: »Na, wird dann also das dritte Buch wieder genauso dick wie die beiden vorigen? Wird mich dieses Buch wieder viel Zeit kosten? Tatsächlich gibt es ja angesichts aller meiner Verlautbarungen zu den Fragen der Ökologie schon sehr viel Stoff. Das Büro für Umwelt und Entwicklung der tibetischen Zentralverwaltung hat sie übrigens alle in einem Dokument zusammengetragen, das uns helfen wird.5 So bleibt es mir erspart, all das noch einmal zu wiederholen, was ich bereits gesagt habe. Damit gewinnen wir beide viel Zeit. Ich gebe ja meinen Biografen ganz schön Arbeit!«
Und er bricht in schallendes, ansteckendes Gelächter aus.
Lektionen des Dalai Lama für die Menschheit
Ich bedanke mich beim Dalai Lama dafür, dass er mich autorisiert hat, seine spirituelle Autobiografie6 zu schreiben: »Eure Heiligkeit, aus der Redaktion dieses Buches habe ich vor allem gelernt, dass man mit dem Menschwerden nie an ein Ende kommt. Es ist keine Kleinigkeit, dies von einer Persönlichkeit gesagt zu bekommen, die in der Stammlinie des erwachten Mitgefühls in ihrer vierzehnten Inkarnation lebt.«
Der Dalai Lama gibt mir die bescheidene Antwort, es sei nichts Besonderes daran, unermüdlich an seiner eigenen Verbesserung zu arbeiten. Aber es ist eine Botschaft von großer Demut, dazu aufzurufen, sich Tag für Tag zum Guten zu verbessern.
»Angesichts unseres zweiten Buchs Appel au monde habe ich den gewaltfreien Kampfesmut ermessen, den Sie seit mehr als einem halben Jahrhundert aufbringen. Wie Sie von den Anfängen Ihres Exils in Indien an unermüdlich gesagt haben, Ihre einzigen Waffen seien die Wahrheit, die Gerechtigkeit und die feste Entschlossenheit. Manche Staatschefs haben Kriege gewonnen, Sie dagegen den Frieden.«
Der Friede ist für den Dalai Lama der Triumph der Wahrheit, wie das die Verleihung der Goldmedaille durch den amerikanischen Kongress am 17. Oktober 2007 in Washington zeigte. Das Oberhaupt der tibetischen Exilregierung, dem die offizielle Anerkennung als Staatsoberhaupt verweigert bleibt, legte eine eindrucksvolle Vornehmheit und Würde an den Tag, denn er stand ganz zu seinem Menschsein. Neben ihm war George W. Bush nur der Präsident der Vereinigten Staaten. Angesichts der stillen Kraft dieses Menschen, der sich im Namen von sieben Milliarden zu Wort meldete, geriet Präsident Bush mit seiner bedeutenden Funktion spürbar auf den zweiten Platz. Würden sich alle Staatschefs weltweit vor Augen halten, dass wir alle Menschen sind, könnte unser Planet dadurch verwandelt werden. Indem der Dalai Lama sich zu seinem Menschsein bekennt, spricht er zudem auch uns allen das unsrige zu:
»Eure Heiligkeit, ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie den Friedensnobelpreis und die Goldmedaille des Kongresses dafür erhalten haben, dass Sie wirklich Mensch sind, denn damit haben Sie mit Ihrem Friedenswerk alle diejenigen verbunden, die sich in der Wahrheit und denjenigen menschlichen Werten wiederfinden, die Sie verkörpern. Ich habe deswegen in aller Eile das Buch der Freude gelesen, das Sie zusammen mit Bischof Desmond Tutu geschrieben haben und in dem Sie betonen, dass wir Sie damit beglücken, im selben Zeitalter wie Sie zu leben. Dieselbe Freude empfinden auch all die vielen Zuhörer bei jeder Ihrer Unterweisungen, und auch für mich ist es ein Glück und eine Ehre, dass Sie mir aufs Neue Ihr Vertrauen schenken, dass ich Ihre Botschaft ein drittes Mal an die Menschheit vermittle.«
Das Manifest der universellen Verantwortung
Scherzhaft sagt der Dalai Lama, er werde das Buch von mir an seiner Stelle schreiben lassen. Er erinnert sich an die Audienz, die er mir 2010 in...