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Die bewegte Nation

Der spanische Nationalgedanke 1808-2019

AutorXosé M. Núñez Seixas
VerlagHamburger Edition HIS
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783868549690
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Der spanische Nationalstolz hat durch die Herausforderung der erstarkten katalanischen Unabhängigkeitsbewegung und das problematische Verhältnis des Baskenlandes und Galiciens zum Zentralstaat einen neuen Impuls erhalten. Rechtsradikale Tendenzen, etwa durch die Partei Vox, aber auch die von prominenten Intellektuellen und Politikern vertretenen Position, dass es einen spanischen Nationalismus überhaupt nicht gibt, prägen die gesellschaftliche Auseinandersetzung. Xosé M. Núñez Seixas skizziert die historische Entwicklung Spaniens vom Verlust der einstigen Größe, über den blutigen Bürgerkrieg und die Diktatur Francos bis zu den nationalistischen und patriotischen Diskursen im europäischen Kontext. Er untersucht den spanischen Staatsnationalismus ebenso wie die politischen Konzepte des Patriotismus und Nationalismus und nähert sich so der Frage, was es heute bedeutet, Spanier zu sein.

Xosé M. Núñez Seixas ist Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Santiago de Compostela. Zwischen 2012 und 2017 war er Professor für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der LMU München.

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Leseprobe

Einleitung Gibt es einen spanischen Nationalismus?


Die Debatte über die Theorien zum Wesen und zur Entwicklung des Nationalismus ist in den Sozialwissenschaften bei weitem noch nicht zu einem einhelligen Ergebnis für die Interpretation dieses Phänomens gekommen. Umso wichtiger ist es, die theoretischen Standpunkte, die den folgenden Überlegungen zugrunde liegen, explizit zu benennen, um nicht in einen unfruchtbaren und unkritischen Positivismus zu verfallen.

Die Paradigmen zur Interpretation des Nationalismus bewegen sich immer noch zwischen zwei Extremen, und weiterhin orientieren sich die meisten historischen Abhandlungen zum Thema mehr oder weniger stark an einem der beiden Pole. Auf der einen Seite stehen die primordialistischen Theorien (die der britische Nationalismusforscher Anthony D. Smith in seiner klassischen Definition auch »Geology« nennt).1 Sie entstammen größtenteils dem herkömmlichen, organisch-historistischen oder objektiven Konzept der Nation, dessen Wurzeln in die deutsche kulturelle Tradition des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zurückreichen. Folgt man dieser Interpretation, handelt es sich bei den Nationen um objektive Realitäten, die ihre Legitimität aus der Existenz von schon zuvor bestehenden diakritischen Faktoren beziehen, wie z. B. die Kultur, ein charakteristischer Volksgeist, die Geschichte und mehr oder weniger »objektive« ethnische Merkmale. Der Nationalismus als politisches Phänomen hat somit seinen Ursprung in dem vorherigen Bestehen der Nation. Auf der entgegengesetzten Seite finden sich die konstruktivistischen oder modernistischen Theorien (nach Anthony D. Smith der Ansatz der »Gastronomy«), die im Wesentlichen auf das liberal-revolutionäre Konzept der Nation zurückgehen, das im ausgehenden 18. Jahrhundert seinen Ursprung in der nordamerikanischen und der Französischen Revolution hatte. Demzufolge ist die Nation eine politische Gemeinschaft derjenigen Bürger, die sich aus eigenem Willen dafür entscheiden, dieser Nation anzugehören.

Diese Studie geht bewusst von der theoretischen Vorannahme aus, dass es sich beim Nationalismus um »Gastronomy« und nicht um »Geology« handelt, gleichzeitig aber wird das Ergebnis dieser »Gastronomy« von der Zusammensetzung der zugeordneten Merkmale beeinflusst. Als Ideologie und Gesamtheit der politischen Überzeugungen, als kulturelle Praxis und als soziale Bewegung ist der Nationalismus der Nation vorgelagert, der er jedoch gleichzeitig durch sein Wirken ihre Form gibt und sie verändert. Aus der Perspektive eines nuanciert konstruktivistischen Ansatzes definiert diese Studie die Nation als eine imaginierte Gemeinschaft, die grundsätzlich souverän ist, die sich innerhalb territorialer Grenzen verortet und die von einem Kollektiv von Individuen gebildet wird, die sich miteinander verbunden fühlen. Diese Verbundenheit kann auf ganz verschiedenen und je nach historischer Konjunktur unterschiedlichen Faktoren beruhen, wie dem Wunsch nach Territorialität, einer gemeinsamen Geschichte oder der Gesamtheit solcher ethno-kulturellen Merkmale, die sich so weit objektivieren lassen, dass man sie insofern als Ethnizität beschreiben kann, als sie es ermöglichen, ein soziales und vorpolitisches Bewusstsein der eigenen Differenz zu definieren. Nicht zuletzt teilt diese Gemeinschaft von Individuen die Auffassung, dass die Nation der souveräne Träger der kollektiven politischen Rechte ist. Alle Nationalisten bedienen sich der Mythen und ethnischen Merkmale, Symbole und Glaubensbekenntnisse, die ihnen nützlich erscheinen, um ihre Nation zu begründen.

Auch wenn man berücksichtigt, dass bei der Konstruktion aller Ideologien und politischen Organisationen – selbst bei den nationalistischen – die sozialen Akteure je nach ihren Interessen, ihren Weltanschauungen und ihren selektiven Vorlieben eine entscheidende Rolle spielen, so steht ebenfalls fest, dass der Nationalismus den Entwurf einer kollektiven Identität mit kulturellen und politischen Dimensionen anstrebt, was sich auf die Definition des Trägers der politischen kollektiven Rechte und die Legitimität der Machtausübung in einem bestimmten Territorium auswirkt. Aus diesem Grund können der Nationalismus und die nationale Identität durchaus sozial akzeptierte, vorpolitische Diskurse und kollektive Identitäten, die sowohl auf territorial verankerten institutionellen Loyalitäten als auch auf einem vorneuzeitlichen, ethno-kulturellen Bewusstsein beruhen können, als Grundlage verwenden, von ihnen beeinflusst oder durch sie begünstigt werden. Allerdings ist die Existenz solcher proto- oder pränationalen Identitäten weder eine Voraussetzung noch ein bestimmendes Element für das spätere Entstehen von Nationalbewegungen. Der Nationalismus ist, in der modernen Verwendung des Begriffes, das Resultat der politischen und kulturellen Mobilisierung der jeweiligen Akteure zum entsprechenden historischen Zeitpunkt.

Ausgehend von diesen Überlegungen ist die Nation eine soziale Realität, die für die wissenschaftliche Betrachtung nur in dem Maß existiert, in dem ihre Angehörigen von ihrer Existenz überzeugt sind. Die Nation erscheint als historisches Phänomen im Kontext der beginnenden Neuzeit, in einer Phase, in der die Prinzipien, die zuvor die Souveränität und die Machtausübung legitimierten (dynastische und feudale Treuebindungen, religiöse Identitäten, Verpflichtungen des Nachbarschaftsrechtes), seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend in Frage gestellt wurden, so dass sie durch neue Prinzipien ersetzt werden mussten. Wie schon erwähnt, konnten Faktoren wie Ethnizität (die Gesamtheit derjenigen Merkmale, die ein Kollektiv nach außen sichtbar machen und eine soziale Konstruktion seiner Einzigartigkeit ermöglichen, wie z. B. Sprache, Kultur, Gebräuche), religiöse Identität, die gemeinsame Erfahrung einer territorialen Herrschaft und das Vorhandensein von Institutionen, die eine über Generationen hinweg vererbte Identität geschmiedet hatten, seit dem Mittelalter als Grundlage für die Stiftung einer kollektiven Identität wirken. Genauso konnten diese Elemente in der Neuzeit die Entstehung eines Nationalismus begünstigen. Das bedeutet jedoch nicht, dass es zwangsläufig einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Ethnie, der vormodernen politischen Gemeinschaft und dem Nationalismus gibt.

Zudem kann das nationale Projekt bei mehreren oder nur einem Teil der sozialen Gruppen des als Nation definierten Kollektivs Zustimmung finden; verschiedene soziale Interessen, unterschiedliche Welt- und Gesellschaftsvorstellungen und dementsprechend auch unterschiedliche politische Ideologien können sich das nationale Projekt zu eigen machen. Grund dafür ist die außergewöhnliche Wandlungsfähigkeit des Nationalismus als politisch-ideologisches Gebilde, das in der Lage ist, mit den unterschiedlichsten ideologischen Diskursen und sozialen Interessen eine Verbindung einzugehen. Im Laufe des 19., 20. und 21. Jahrhunderts gab es nicht nur viele Nationalismen konservativer, traditionalistischer oder reaktionärer Prägung, sondern auch liberal, demokratisch, marxistisch und sogar anarchistisch orientierte Nationalbewegungen. Somit sind die Nationalismen (und Nationalbewegungen) ein wichtiger Bestandteil der Dynamik der sozialen Konstruktion der kollektiven Identitäten. Die Nationalisten und/oder Patrioten sind in der Regel proaktive Akteure beim Aufbau der Nationen, wobei sie sich häufig die schon zuvor existierenden kollektiven Identitäten und Sozialbeziehungen zunutze machen. Und nicht andersherum.

In der Tat ist die wissenschaftliche Diskussion über die Möglichkeit der Existenz von Nationen und sogar von Nationalismen vor dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts immer noch zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen. Die Mehrheit der Nationalisten, aber auch einige Wissenschaftler sind der Ansicht, dass sich schon am Ende des Mittelalters territoriale Gemeinschaften mit nationalen Bindungen nachweisen lassen, deren Angehörige über Identitäten verfügten, die über die dynastischen Treuebindungen, die Religionszugehörigkeit und das ethnische Bewusstsein hinausreichten. Demgegenüber wird in dieser Studie die These vertreten, dass sich die Existenz von Nationen vor dem Beginn der Neuzeit nicht nachweisen lässt, sondern erst seit der liberalen Revolution, die einen modernen nationalen Diskurs entwarf und die Vereinigten Staaten von Amerika in die Unabhängigkeit führte (1775–1783).

Obwohl sich dieser Essay mit dem spanischen Nationalismus befasst, betrachtet er auch dessen Wechselwirkung mit den alternativen Nationalismen, die sich seit dem 19. Jahrhundert innerhalb des spanischen Staates entwickelten, das heißt, die katalanische, galicische und baskische Nationalbewegung sowie den kubanischen und puerto-ricanischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Dabei wird bewusst jeder primordialistische Erklärungsansatz vermieden. Demensprechend wird nicht von der Annahme ausgegangen, dass es seit grauer Vorzeit innerhalb der Grenzen der spanischen politischen Gemeinschaft schon zuvor bestehende Nationen gab. Vielmehr lässt sich im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts eine Dynamik von zum Teil gegenläufigen, dialektischen oder sogar interagierenden...

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