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SELTSAME ANFÄNGE
Einleitung
Man kann ein Jahr lang jeden Tag ein- und dasselbe Gewässer betrachten und dennoch nie zweimal das Gleiche sehen. Was aber bedeuten diese Unterschiede, die wir von einem Tag zum nächsten oder aber an unterschiedlichen Gewässern bemerken? In diesem Buch geht es um die Spuren und Zeichen, die uns das Wasser liefert – das Wasser einer Pfütze oder aber auch die unermesslichen Mengen Wasser in einem Ozean.
In der Vergangenheit wurden viele Bücher geschrieben, die sich angeblich mit Wasser befassen, doch behandeln sie alle dieses Element, als wäre es in erster Linie ein Behälter, in dem Geschöpfe leben, oder aber ein Fenster, durch das wir Dinge sehen. Im vorliegenden Buch dagegen wird Wasser keine untergeordnete Rolle spielen, sondern sozusagen der Hauptakteur sein. Tiere und Pflanzen im Wasser sind zweifelsohne sehr interessant, aber wir werden uns hier nur dann mit ihnen befassen, wenn sie uns helfen können, das Verhalten des Wassers zu deuten. Außerdem konzentrieren wir uns auf Wasser als Flüssigkeit, und nicht als Eis, Schnee oder Dampf. Anders als bei Naturbüchern üblich, werden organische Zeichen und Hinweise nicht ausführlicher behandelt als anorganische, d. h. wenn eine Boje so viel über Wasser verraten kann wie eine Seepocke, dann wird sie auch entsprechend gewürdigt. Diese Herangehensweise macht dieses Buch zu einem ganz außergewöhnlichen Naturbuch.
Die philosophischen, physiologischen und auch spirituellen Einflüsse des Wassers auf uns Menschen wurden in der Literatur ausführlich behandelt. Große Geister loten seit Jahrtausenden unsere Beziehung zum Wasser gründlich aus. Der verstorbene Roger Deakin wies darauf hin, dass Giraffen die einzigen Säugetiere sind, die nicht schwimmen können, und dass wir Menschen, ähnlich wie die Menschenaffen, zwischen Daumen und Zeigefinger Schwimmhäute haben – ein weiterer Beweis dafür, dass es uns nicht nur geistig, sondern auch körperlich zum Wasser hinzieht. Offensichtlich tut dies unserem Geist, unserem Körper und auch unserer Seele gut. Der Anthropologe Loren Eiseley meinte einmal:
Wenn auf diesem Planeten Magie existiert, dann ist sie im Wasser enthalten.1
Das mag stimmen, doch was mich eigentlich fasziniert, ist unsere Fähigkeit, aus den physikalischen Ursachen für Muster im Wasser einen Sinn herauszulesen. Sowohl die philosophische als auch die praktische Perspektive setzen voraus, dass man sich Zeit nimmt, das Wasser zu betrachten, und ich glaube, dass wir Wasser dann am eingehendsten anschauen, wenn wir etwas daraus ablesen wollen.
Zu verstehen, was wir sehen, nimmt dem betrachteten Objekt nichts von seiner Schönheit, ganz im Gegenteil. Seit ich vor ein paar Jahren entdeckte, dass ich anhand der Farben eines Regenbogens die Größe der Regentropfen bestimmen kann (je mehr Rot zu sehen ist, desto dicker die Tropfen), sind Regenbogen für mich noch schöner und faszinierender geworden. Dasselbe gilt für all die vielen geheimen Zeichen, die uns Gewässer liefern. Poetisches und analytisches Denken behindern oder beeinträchtigen einander keineswegs. Wir können die glitzernde Farbenpracht der Spiegelung der untergehenden Sonne bewundern und die Hinweise deuten, die ihre Form uns liefert.
An einem für Oslo ungewöhnlich heißen Sommertag half ich, die Unterseite eines Schlauchboots von Seepocken und Algen zu befreien. Die Vorbereitungen für die Fahrt mit einem der schönsten Schiffe, das ich je gesehen hatte, liefen auf Hochtouren. Von Norwegen aus sollte es nach England gehen.
Ein alter Freund von mir hatte nicht teilnehmen können und mir seinen Platz als Mitglied der Überführungscrew überlassen. Vom Kai aus bewunderte ich die perfekten Linien der klassisch-modernen Jacht, die nach dem Vorbild der J-Class-Boote der 1930er-Jahre gebaut war. Die vom Wasser reflektierten Sonnenstrahlen trafen auf den makellosen weißen Rumpf und beleuchteten die dunkel gehaltenen Decks und die auf Hochglanz polierten Messingrelings. Man munkelte, die herrliche Jacht sei sozusagen das uneheliche Kind eines amerikanischen Schiffbauers, der eine reiche Erbin geheiratet hatte. Es hieß, der Holzofen im luxuriösen Salon sei ein Einzelstück, und allein dessen Glasfront habe Tausende von Dollars gekostet.
Eine unserer Aufgaben vor dem Ablegen bestand darin, jeden Quadratzentimeter des mit Mahagonipaneelen verkleideten Innenraums mit eigens angefertigten durchsichtigen Plastikteilen abzudecken. Die Crew durfte das Mahagoni durch das Plastik hindurch anschauen, aber nicht berühren. Allein schon an Bord eines solchen Wunderwerks gehen zu dürfen war ein Privileg, es segeln zu dürfen war – besonders für mich, der ich damals noch kein sehr erfahrener Segler war – beinahe zu schön, um wahr zu sein.
Wir holten die Leinen ein und packten sie sorgfältig weg, da wir sie erst in einer Woche wieder brauchen würden. Die Jacht glitt durch den Fjord aufs offene Meer hinaus.
Im Lauf der folgenden Tage entwickelten wir eine Hochseeroutine und fuhren sicher zwischen den großen Ölplattformen hindurch. Der Wind ließ nach, Dunst kam auf und formte sich zu dichten Nebelschwaden. Sie umhüllten die Förderplattformen, die wir nur noch als aufblitzende Punkte auf dem Radarschirm wahrnehmen konnten, wenn man von den orangeroten Flammen absah, die gelegentlich im Nebel aufleuchteten. Wir vertrieben uns die Zeit mit einem selbst erdachten Seefahrerquiz.
»India, Foxtrott, India« rief mir Sam, der blonde Wikinger zu, als ich meinen Dienst am Steuer übernahm. »Schiff mit eingeschränkter Manövrierfähigkeit«, antwortete ich. Sam nickte lächelnd. Nun war ich an der Reihe zu fragen. »Ein rotes Licht über einem weißen und das über zwei abwechselnd blinkenden gelben Lichtern?«
Sam überlegte kurz, während er einen Knoten prüfte. »Fischerboot, durch sein Ringwadennetz behindert.« Er grinste. Ich denke, dass er nur so getan hatte, als müsse er überlegen. In Wirklichkeit wusste er einfach so gut wie alles, aber er gönnte mir meinen Stolz auf meinen neu erworbenen Yachtmaster-Schein. Vielleicht konnte er sich noch gut daran erinnern, wie er sich damals gefühlt hatte.
Sam unterhielt mich mit Geschichten, die mir mehr Schauer über den Rücken jagten als das übliche Seemannsgarn. Nichts, was er jemals auf See erlebt hatte, war gruseliger als die mündliche Prüfung in der Warsash Maritime Academy. Sams Vergnügen daran, die vielen kniffligen Fragen aufzuzählen, die er beantworten musste, um die Prüfung zu bestehen, war offensichtlich. »Einen Fehler kann man sich leisten, zwei aber auf keinen Fall. Und wenn sie merken, dass man auf irgendeinem Gebiet Schwächen hat, dann sind sie unbarmherzig … die reinsten Raubtiere!«
Dieser nautische Übergangsritus war mir sehr wichtig. Ein Schein oder Diplom stellt ein gutes Gegenmittel gegen die Selbstzweifel dar, unter denen man in jungen Jahren so oft leidet. Ein Stück Papier bestätigt, dass man doch zumindest ein bisschen was weiß. Und wer ein bisschen was weiß, kann sich darauf auch was einbilden!
Ich hätte diese Fahrt wirklich guten Gewissens genießen dürfen, doch plagten mich dennoch Zweifel. Sie nagten beständig an mir und erhitzten mein Gemüt wie ein Hanfseil, das einem durch die Hände läuft. Sie hatten sogar ein Gesicht – das von Kapitän Abharah.
Ständig sah ich es vor mir, gleichgültig, wohin ich schaute. Er war an Deck bei mir, er begleitete mich zu meiner Koje, wenn mein Dienst geleistet war. Er war ein sehr beunruhigender Gefährte, und der Umstand, dass er 1000 Jahre vor meiner Geburt das Zeitliche gesegnet hatte, war mir nur ein geringer Trost.
Kapitän Abharah begann sein Berufsleben als Hirte in der persischen Region Kerman.2 Anschließend arbeitete er auf einem Fischerboot und befuhr später als Matrose die Indienroute. Anschließend wagte er sich an die gefährlichen chinesischen Seestraßen. Damals hieß es, niemand könne nach China und zurück segeln, ohne dabei Schlimmes zu erleben. Abharah bewältigte diese Fahrt mehrmals unbeschadet.
Warum wissen wir so viel über einen Mann bescheidener Herkunft, der vor so langer Zeit in einem fernen Teil der Welt lebte? Weil er etwas tat, das beträchtliches Wissen und beachtlichen Mut bewies.
Ein gewisser Kapitän Shahriyari, der ebenfalls die gefürchtete Chinaroute befuhr, wartete einst auf hoher See mitten in der Taifunsaison das Ende einer beunruhigend langen Flaute ab, als er in der Ferne einen dunklen Punkt bemerkte. Ein Beiboot wurde zu Wasser gelassen, und vier Matrosen erhielten den Auftrag, den geheimnisvollen Punkt aus nächster Nähe zu erkunden. Als sie ihr Ziel erreichten, trafen sie einen alten Bekannten: Der renommierte Kapitän Abharah saß seelenruhig in einem kleinen Boot und hatte nicht mehr dabei als einen...