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E-Book

Die Klarheit. Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung

AutorLeslie Jamison
VerlagHanser Berlin
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl592 Seiten
ISBN9783446261556
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Alle Geschichten von Sucht gleichen einander, doch jeder Süchtige glaubt, auf ganz eigene Weise unglücklich zu sein. Das begriff Leslie Jamison, als sie begann, Treffen der Anonymen Alkoholiker zu besuchen: Sie trank, weil sie ihre Mängel verbergen und um jeden Preis besonders sein wollte. Sie würde erst genesen, wenn sie nicht mehr auf ihrer Originalität beharrte. Mitreißend erzählt sie von ihrer Abhängigkeit und hält sie gegen die populären Mythen trunkener Genialität - über Raymond Carver, Billie Holiday, David Foster Wallace und viele andere. 'Die Klarheit' ist eine persönliche und kollektive Geschichte des Trinkens und des nüchternen Lebens - klug, bewegend aufrichtig und von unverhoffter Schönheit.

Leslie Jamison, geboren 1983 und aufgewachsen in Los Angeles, ist die Autorin von Die Empathie-Tests. Über Einfühlung und das Leiden anderer, einem der meistdiskutierten Bücher 2015. Sie lehrt an der Columbia University und lebt mit ihrer Familie in New York.

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Leseprobe

 

 

Bei meinem allerersten Schwips war ich knapp dreizehn. Ich musste mich weder übergeben noch hatte ich einen Filmriss. Blamiert habe ich mich auch nicht. Ich fand’s einfach nur toll: wie der Champagner prickelte, wie er mir mit heißen Tannennadeln in den Hals stach. Wir feierten den College-Abschluss meines Bruders, und ich trug ein langes Musselinkleid, in dem ich mich wie ein Kind fühlte, bis ich etwas anderes an mir wahrnahm: etwas Eingeweihtes, Strahlendes. Der ganzen Welt wollte ich zurufen: Warum hat mir denn nie jemand gesagt, dass sich das so gut anfühlt!

Als ich zum ersten Mal im Geheimen trank, war ich fünfzehn. Meine Mutter war auf Reisen. Meine Freundinnen und ich breiteten eine Decke auf dem Wohnzimmerparkett aus und tranken dann, was wir fanden: den Chardonnay, der zwischen Orangensaft und Mayonnaise im Kühlschrank stand. Wir waren ganz aufgekratzt von der gefühlten Grenzüberschreitung.

Zum allerersten Mal high war ich, als ich auf dem Sofa eines mir unbekannten Menschen Gras rauchte, das Poolwasser mir von den Fingern tropfte und der Joint, den ich hielt, ganz feucht wurde in meinem Griff. Der Freund eines Freundes hatte mich zu einer Poolparty eingeladen. Meine Haare rochen nach Chlor und mein Körper zitterte in dem nassen Bikini. Seltsame kleine Tiere erblühten in meinen Ellbogen und unter meinen Achseln, da, wo meine Körperteile aneinander befestigt waren. Ich dachte: Was ist das? Und wie schaffe ich es, dass es genauso bleibt? Wenn ich mich gut fühlte, hieß es für mich immer: Mehr. Noch mal. Für immer.

Als ich zum allerersten Mal zusammen mit einem Jungen trank, auf dem hölzernen Umlauf eines Strandwächterhäuschens, erlaubte ich ihm, die Hände unter mein T-Shirt zu schieben. Flüsternd schwappten dunkle Wellen unter unseren baumelnden Füßen über den Sand. Mein erster richtiger Freund schoss sich gerne ab. Er machte auch gerne seine Katze high. Wir knutschten im Kombi seiner Mutter herum. Einmal kam er zum Essen zu uns nach Hause und war voll auf Speed. »Wie gesprächig er ist!«, meinte meine Oma, überaus angetan. In Disneyland riss er ein Tütchen mit verschrumpelten Pilzhüten auf. Als wir vor dem Big Thunder Moutain Railroad in der Schlange standen, wurde seine Atmung schnell und flach. Er schwitzte sein T-Shirt durch und musste ständig die orangen Kunstfelsen der Kulisse anfassen.

Wenn ich mich festlegen müsste, an welchem Punkt ich wirklich anfing zu trinken, mit welchem allerersten Mal es seinen Anfang nahm, könnte ich sagen: Begonnen hat es mit meinem ersten Filmriss beziehungsweise mit dem ersten Mal, als ich es richtig auf einen Filmriss anlegte, dieses erste Mal, als ich nur das eine wollte: in meinem eigenen Leben nicht anwesend sein. Vielleicht begann es aber auch, als ich mich zum ersten Mal vom Trinken übergeben musste, als ich zum ersten Mal vom Trinken träumte, als ich zum ersten Mal wegen des Trinkens log, als ich zum ersten Mal davon träumte, wie ich wegen des Trinkens log, als das Verlangen so überwältigend war, dass nicht mehr viel von mir nicht damit beschäftigt war, dieses Verlangen entweder zu befriedigen oder dagegen anzugehen.

Vielleicht hat der Beginn meines Trinkens auch weniger mit konkreten Momenten zu tun als mit dem Einschleifen von Verhaltensmustern – das tägliche Trinken. Das begann in Iowa City, wo ich weder dramatisch noch ausgeprägt viel trank, sondern wo der Alkohol eine unausweichliche Begleiterscheinung meines Alltags war. Man konnte sich hier auf so viele verschiedene Arten und an so vielen verschiedenen Orten betrinken: in der in einem großen, verrauchten Wohnmobil untergebrachten Literatenkneipe mit dem ausgestopften Fuchskopf und den kaputten Uhren überall an der Wand; oder in der Dichterkneipe die Straße runter, mit ihren blutarmen Cheeseburgern und der leuchtenden Schlitz-Bier-Reklametafel, einer elektrisch bewegten Landschaft mit gurgelndem Fluss, neongrün grasiger Uferböschung und flackerndem Wasserfall. Ich zerstampfte die Limette in meinem Wodka Tonic, und an dem perfekten Punkt zwischen den ersten beiden und dem dritten, dem dritten und dem vierten und dann zwischen dem vierten und dem fünften Drink meinte ich, mein Leben würde von innen heraus leuchten.

Es fanden Partys statt an einem Ort namens The Farm House, draußen in den Maisfeldern, noch hinter dem Freitagsfischimbiss im Haus der Veteranenlegion. Bei diesen Partys veranstalteten Lyriker Wrestling-Wettkämpfe in einem Planschbecken voller Jell-O, und die Gesichter sahen schön aus im flackernden Schein des Matratzenlagerfeuers. Im Winter war es so kalt, dass man fast daran zugrunde ging. Es gab endlos viele Mitbringpartys, bei denen ältere Schriftsteller mariniertes Grillfleisch und jüngere Schriftsteller Plastikeimerchen voller Hummus dabeihatten. Whisky brachten alle mit, Wein auch. Der Winter zog sich hin; wir tranken weiter. Dann kam der Frühling. Wir tranken weiter.

 

*

 

Im Untergeschoss einer Kirchengemeinde auf einem schäbigen Klappstuhl sitzend, fragt man sich immer, wie man anfangen soll. »Bei einem AA-Meeting zu sprechen, das war für mich immer ein Wagnis«, sagte ein gewisser Charlie bei einem Meeting der Anonymen Alkoholiker in Cleveland im Jahr 1959. »Ich wusste, ich konnte es besser als die anderen. Schließlich hatte ich wirklich eine Geschichte zu erzählen. Ich war eloquenter als die anderen. Ich konnte packend erzählen. Ich würde es allen zeigen.« Das Wagnis beschrieb er folgendermaßen: Er wurde gelobt. Er empfand Stolz. Er betrank sich. Und jetzt sprach er vor einer großen Gruppe darüber, was für ein Wagnis es für ihn war, vor einer großen Gruppe zu sprechen. Bei einem Meeting der Anonymen Alkoholiker sprach er über das, was an einem Meeting der Anonymen Alkoholiker riskant war für ihn. Eloquent sprach er über Eloquenz. Er verpackte in eine packende Erzählung, was die Kunst des packenden Erzählens mit ihm gemacht hatte. Er sagte: »Ich glaube, ich habe es satt, mein eigener Held zu sein.« Fünfzehn Jahre zuvor hatte er in einer Phase der Nüchternheit einen Roman über Alkoholismus veröffentlicht, der zum Bestseller wurde. Ein paar Jahre später war er rückfällig geworden. »Ich habe ein Buch geschrieben, das als ›das maßgebliche Porträt eines Alkoholikers‹ bezeichnet wurde«, sagte er vor der Gruppe, »und das hat mir nicht gutgetan.«

Nachdem er fünf Minuten geredet hatte, kam Charlie auf die Idee, vielleicht doch lieber so anzufangen wie die anderen auch. »Ich heiße Charles Jackson«, sagte er also, »und ich bin Alkoholiker.« Er besann sich auf den gängigen Refrain und stellte fest, dass das Gemeinsame, das von allen Geteilte, seine ganz eigene heilsame Qualität haben kann. »Meine Geschichte unterscheidet sich nicht groß von der von anderen«, sagte er. »Es ist die Geschichte eines Menschen, den der Alkohol zum Idioten gemacht hat, immer wieder, jahrein, jahraus, bis schließlich der Tag kam, an dem er begriff, dass er alleine nicht mehr klarkommt.«

 

Als ich zum allerersten Mal die Geschichte meines Trinkens erzählte, saß ich in einer Runde mit anderen Trinkern, die nicht mehr tranken. Das Bild dieser Szene war ein durchaus bekanntes: Klappstühle aus Plastik, Styroporbecher mit inzwischen lauwarmem Kaffee, ausgetauschte Telefonnummern. Vor dem Meeting hatte ich mir vorgestellt, was wohl im Anschluss passieren würde: Man würde meine Geschichte loben oder die Art und Weise, wie ich sie erzählt hatte, und ich würde das Lob herunterspielen, mit den Schultern zucken und abwiegeln: Na ja, ich bin ja auch Schriftstellerin. Ich hätte das Charlie-Jackson-Problem: Meine Erzählkunst brächte meine Bescheidenheit in Bedrängnis. Im Vorfeld hatte ich mit Karteikarten geübt. Die Karten benutzte ich aber nicht, als ich dann sprach – es sollte ja nicht so aussehen, als hätte ich geübt.

Als ich die Sache mit der Abtreibung hinter mich gebracht hatte, als ich erzählt hatte, wie viel ich getrunken hatte, während ich schwanger war, als ich von der Nacht berichtet hatte, die ich sehr bewusst nicht als Date Rape bezeichne, als ich zu den eingespielten Ritualen der Rekonstruktion eines Filmrisses alles gesagt und die Eckpunkte meines Kummers und meiner Probleme benannt hatte – die mir im Vergleich mit den Problemen der anderen im Raum lange nicht so schlimm erschienen –, als ich also irgendwo in dem unwegsamen Territorium meiner neuen Nüchternheit angekommen war und davon sprach, wie ich mich jetzt ständig entschuldigte und wie ich mit mechanischem Körpereinsatz betete, rief ein alter Mann im Rollstuhl aus der ersten Reihe: »Langweilig!«

Wir kannten ihn alle, diesen alten Mann. Er hatte in den 1970er Jahren bei der Gründung einer schwulen Selbsthilfegruppe in unserer Stadt eine wichtige Rolle gespielt und wurde jetzt von seinem deutlich jüngeren Partner gepflegt, einem Büchernarren mit leiser Stimme, der dem Alten die Windeln wechselte und ihn treuherzig zu den Meetings schob, wo jener dann Obszönitäten von sich gab. »Du dumme Fotze!«, hatte er einmal gerufen. Ein andermal hatte er mich beim Schlussgebet an die Hand genommen und gesagt: »Küss mich, Hure!«

Er war krank, und der Teil seines Bewusstseins, der seine Ausdrucksweise filterte und im Zaum hielt, kam ihm Stück für Stück abhanden. Oft aber klang der Mann auch wie unser kollektives Es, das all das artikulierte, was in den Meetings eigentlich nicht laut gesagt wurde: Das ist mir total egal. Es ist öde. Das habe ich doch alles schon mal gehört. Er war gemein und verbittert, aber er hatte auch einer Menge Menschen das Leben gerettet. Und in diesem Moment war ihm eben langweilig.

Andere rutschten betreten auf ihren Stühlen herum. Die Frau neben...

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