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Dienstreise

Leben und Leiden meiner Eltern in der Sowjetunion 1935 bis 1955

AutorAndrej Reder
VerlagNeues Leben
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783355500135
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Ein Schicksalsreport: Gabo Lewin und seine Frau Hertha, Jugendfunktionäre und Antifaschisten, gingen im Auftrag der KPD 1935 in die Sowjetunion, wo ihr Sohn geboren wurde. 1938 wurde Lewin als faschistischer Spion verurteilt und auf 'Dienstreise' geschickt - die Lagerhaft sollte erst 1955 enden. Mutter und Sohn kehrten nach schweren Jahren 1948 nach Deutschland zurück. Andrej Reder hat mithilfe unzähliger privater und dienstlicher Dokumente, mit einmaligen Zeugnissen und Aufzeichnungen den Leidensweg seiner Eltern rekonstruiert. Trotz aller Bitterkeit verteidigten sie, verteidigt er sachlich und überzeugend die Sowjetunion. Seine Dokumentation wendet sich gegen den Missbrauch von Opfern der Repressalien, ohne die tragischen Schicksale und Leiden zu verschweigen.

Andrej Reder, 1935 in Moskau geboren, 1941 mit seiner Mutter nach Kasachstan deportiert, wo sie als 'Ehefrau eines deutschen Spions' Zwangsarbeit leisten muss. 1948 Ausreise nach Berlin, Besuch der deutsch-russischen Schule, Studium in Moskau und 1962 Abschluss als Diplomstaatswissenschaftler. Tätigkeit im Außenministerium der DDR, Schwerpunkt Asien, zuletzt Botschaftsrat an der DDR-Vertretung in Bangladesh. Ab 1978 wieder in der DDR und Mitarbeiter in der Abteilung Internationale Verbindungen im ZK der SED.

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Leseprobe

Die Eltern

Mein Vater Gabriel Lewin entstammte einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie und wurde am 21. Dezember 1906 in Berlin geboren. Sein Vater Hartwig Lewin besaß eine kleine Schuhkremfabrik, die 1913/14 pleite ging. Bis zu seinem Tod 1932 blieb er erwerbslos. Hulda Lewin, seine Frau und meine Großmutter, ernährte die Familie mit einem Papier- und Pa­pierartikelgeschäft, in dem sie selbst mit einem Angestellten tätig war. Sie wurde 1942 von den Nazis in das KZ Theresienstadt deportiert und dort ermordet.

Einen Tag vor ihrer Deportation am 17. September 1942 schrieb sie an ihre Tochter Henriette, meine Tante: »Noch will ich Dir sagen, dass meine Reise in einen Ort geht, der alle alten Menschen aufnehmen soll. Ich sage soll, weil bei allem ja doch die Frage besteht: ist es auch so? […] So leb denn wohl. Nachdem ich die ganze Nacht mit Hilfe einer Untermieterin gearbeitet habe, schreibe ich an Dich, denke in treuester Liebe an Dich und das Kind und an unseren großen Namensvetter (gemeint ist Gabo – A. R.) Deines Kindes (gemeint ist Gabi, die Tochter von Henriette – A. R.).

Oft, meine Ettele, ist mir’s ums Herz, als wäre er allem Erdenleid entrückt. Ich sitze dann so zusammengekauert und bin entsetzt über meine Gedanken, die so quälend mich bewältigen. Wann werde ich von ihm, von Euch jetzt hören? Meine Stunden hier sind jetzt gezählt. 71 Jahre alt, fast 33 Jahre in diesen Räumen, die mich so fremd gegen früher berühren! Das bleibt das Ende – oder auch nur der Übergang zu größtem Glück – zu einem Wiedersehen mit Euch! Ich will standhaft bleiben und vertrauend hoffen! Lebt wohl …«2

Hulda Lewins Hoffnung auf ein Wiedersehen mit der Familie erfüllte sich nicht.

Henriette, verheiratete Pickardt, emigrierte mit ihrer Tochter Gabi im April 1939 nach England und war dort als Sozialpädagogin tätig. Meine Tante besuchte später wiederholt Berlin – erstmals 1956, zum letzten Mal 1991. Sie starb am 25. Ja­nuar 1993 in London.

Joachim Pickardt, ihr Mann, war Mitglied des KJVD und der KPD. Er wurde am 11. Januar 1935 von der Gestapo verhaftet und in der Folgezeit durch die Konzentrationslager Esterwegen, Brandenburg und Sachsenhausen geschleift. Am 12. April 1941 wurde er im KZ Buchenwald ermordet. Von ihm sind zwei Schriften erhalten geblieben: »Streiflichter auf das Hitler-Deutschland« und das Gedicht »Niemand blickt Dir hinter das Gesicht«, das er aus einem Konzentrationslager an seine Frau schickte. In beiden Texten werden seine konsequente antifaschistische Haltung, eine tiefe humanistische Gesinnung und menschliche Größe sichtbar.

Niemand blickt Dir hinter das Gesicht.

Keiner blickt dir hinter das Gesicht,

Keiner weiß, wie arm du bist.

Deine Nachbarn haben selbst zu klagen,

Und sie haben keine Zeit zu fragen,

Wie denn dir zumute ist.

Außerdem, würd’st du es ihnen sagen?

Lächelnd legst du Leid und Last,

Und sie nicht zu sehn auf deinen Rücken.

Doch sie drücken und du musst dich bücken,

bis du ausgelächelt hast.

Und das Beste wären ein Paar Krücken.

Manchmal blickt dich einer an, als ob er dir helfen werde,

Doch er senkt den Blick zur Erde,

weil er dir nicht helfen kann

und geht weiter mit der großen Herde.

Sei trotzdem kein Pessimist,

Sondern lächle, wenn man mit dir spricht.

Keiner blickt dir hinter das Gesicht,

Keiner weiß, wie arm du bist,

Und zum Glück weißt du es selber nicht.

Keiner weiß, wie reich du bist.

Freilich mein ich keine Wertpapiere,

Keine Villen, Autos und Klaviere

Und was sonst so teuer ist,

Wenn ich hier von Reichtum referiere.

Nicht vom Reichtum, den man sieht

Und versteuert, will ich hier erzählen.

Es gibt Dinge, die kann keiner zählen.

Auch wenn er die Wurzel zieht,

Und kein Dieb kann diesen Reichtum stehlen.

Der Humor ist solch ein Schatz.

Oder auch die Güte

Und das ganze übrige Gemüte,

Denn im Herze ist viel Platz

Und es ist wie eine Wundertüte.

Arm ist nur, wer ganz vergisst,

Welchen Reichtum das Gefühl verspricht.

Keiner blickt dir hinter das Gesicht.

Keiner weiß, wie reich du bist.

Und du weißt es manchmal selber nicht.

Immer wieder las ich diese Gedanken, war ergriffen und stolz darauf, dass ein Mensch, der solches empfand und in der Lage war, diese Gefühle so beeindruckend zu artikulieren, zu unserer Familie gehörte. Mehr denn je bedauere ich, ihn nie persönlich kennengelernt zu haben.

Obwohl meine Tante als Sozialpädagogin und mein Vater als Parteiarbeiter auch charakterlich sehr verschieden waren und auch unterschiedliche Ansichten zu gesellschaftlichen und aktuellen politischen Fragen vertraten, pflegten sie ungeachtet der langjährigen Trennung, oder vielleicht gerade deshalb, eine Beziehung, die ich bewunderte. So schrieb »Ette« an ihren Bruder am 21. April 1947: »Nach zehn Jahren höre ich heute, dass Du irgendwo in der Welt lebst, ich weiß nicht einmal wo, aber ich bin schrecklich glücklich. Ich habe es durch eine fremde Frau gehört … Ach, ist das schön! […] Wo bist Du? Was tust Du? Wie geht es Hertha, Andre? Hast Du mehr Kinder? Wo warst Du die letzten zehn Jahre? Den letzten Brief bekam ich von Dir 1937! Und 1938 erzählte mir Jo (d.i. ihr Mann Joachim Pickardt – A. R.), als ich ihn das letzte Mal sah, dass Du eine andere Arbeit hast.«

Und in einer Geburtstagskarte an meinen Vater am 13. De­zember 1991 hieß es: »Liebes Brüderchen, das hätten wir uns nicht vorgestellt, dass wir so alt werden würden. Und uns immer noch so gut leiden können. Und sogar noch Grund dazu haben!

Du bist, seit wir erwachsen sind, für mich immer ein Vorbild gewesen an Hingabe an eine Sache, eine Idee und deren Verwirklichung. Dass Du am Ende des Weges so viel Zerstörung sehen musstest und musst, ist eine große Ungerechtigkeit des Schicksals. Ich wünsche Dir, dass Du die Kraft der Hoffnung behältst und sie warm hältst …«

Nach dem letzten Besuch Henriette Pickardts mit ihrer Tochter Gabi in Berlin schrieb mein Vater 1991: »Schön, dass Du, dass Ihr hier wart. In der kurzen Zeit haben wir das Töchterlein liebgewonnen. Habt Dank.

Es hat sich viel geändert in der letzten Zeit, noch vieles wird sich ändern. Aber im Grunde ist es so, wie ich Dir damals zum 80. schrieb: … das Gemeinsame ist – denke ich – so geblieben, und das bindet stärker als Blutsverwandtschaft. […]

Und jetzt? Es hat sich bestätigt. Und als es hart auf hart ging […], da stand sie als Antifaschistin standhaft nicht nur auf Seiten ihres Kameraden, des Kommunisten Jo, und ihres Bruders und ihres Vetters Mani Bruck, da waren deren Genossen auch ihre Genossen.«

Sehr viel später entdeckte ich einen sehr aufschlussreichen Brief meiner Tante Henriette wieder, den sie mir am 12. D­e­zember 1954 geschrieben hatte, als ich in der Internatsschule im thüringischen Wickersdorf die 11. Klasse besuchte.

»Lieber Andrej,

Du kennst mich nicht und hast wohl auch nicht viel von mir gehört, und ich muss leider dasselbe von Dir sagen, aber ich denke oft an Dich und stelle mir vor, wie Du bist.

Dein Vater und ich haben uns sehr lieb gehabt, und ich hätte nie gedacht, dass ich seinen Sohn nicht kennen würde. Mein Mann ist, wie Dir vielleicht Deine Mutter erzählt hat, von den Nazis im Konzentrationslager ermordet worden, eben­so wie meine Mutter.

Ich habe eine Tochter, die Gabriele heißt, Du wirst Dir denken können, warum. Sie wird … Gabi genannt.

Als ich ein Schulmädchen war, hatte ich keinen größeren Wunsch, als nach Wickersdorf in die Schulgemeinde zu kommen. Ich war unglücklich zu Hause und in der autoritativen deutschen Staatsschule, und als ich 14 Jahre war, schrieb ich selbst an den damaligen Leiter von Wickersdorf, Wyneken, ob er mich aufnehmen würde, aber ich hatte kein Geld, und es wurde nichts daraus. Du hast es besser, Du bist dort. Wie es dort wohl jetzt ist? Ich war, schon als 14-Jährige, eine ›Schulreformerin‹ und interessiert an all diesen Landschulheimen.«

Obwohl wir uns später relativ selten sahen und nur unzureichend kennenlernen konnten, bestand zwischen Henriette und mir ein sehr herzliches Verhältnis. Als Sozialpädagogin musste sie eine gute Psychologin gewesen sein und eine sich um mich sorgende Tante allemal. Das bestätigen anschaulich auch einige Briefe aus dem Jahre 1949, die ich in den Ostertagen 2011 erstmals lesen konnte. Ohne mich zu kennen, machte sie sich große und berechtigte Sorgen darüber, dass meine Mutter nach unserer Rückkehr aus der Sowjetunion neben vielen anderen Problemen, denen sie sich ausgesetzt sah, als Alleinerziehende absolut überfordert war. In ihrem und in meinem Interesse riet sie ihr, sich Rat zu holen.

Die Schuld für mein damaliges schwieriges Verhalten sei, wie sie im Brief vom 28. Fe­bruar 1949...

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