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E-Book

Fern von Aleppo

Wie ich als Syrer in Deutschland lebe

AutorFaisal Hamdo
Verlagedition Körber-Stiftung
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl254 Seiten
ISBN9783896845344
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Hamburg ist seine neue Heimat. Seit drei Jahren lebt und arbeitet Faisal Hamdo in der Hansestadt, nachdem ihm 2014, mit Anfang Zwanzig, die Flucht aus dem syrischen Aleppo gelungen war. Seitdem taucht er mit großer Neugier und Offenheit ein in die Lebens- und Arbeitswelt in Deutschland. Er erzählt von seiner Faszination für die deutsche Sprache, seinem Staunen über das innige Verhältnis der Deutschen zu ihren Haustieren oder über seine erste Begegnung mit dem Humor Loriots. Manches bleibt ihm in Deutschland unverständlich, wie der Alkoholkonsum oder die mediale Präsenz von Sexualität. Und über die Trauer um die, die er verloren hat oder die er in Syrien zurücklassen musste, hilft keine noch so gelungene Integration hinweg. Indem Faisal Hamdo die Erfahrungen in Hamburg mit seinem Leben in Syrien vergleicht, lernt der deutsche Leser den syrischen Alltag kennen und versteht zugleich besser, welchen Herausforderungen ein junger Mann aus ärmlich-patriarchalischen Strukturen in unserer Gesellschaft gegenübersteht. Voller Humor und berührender Lebensklugheit spricht er davon, wie das Leben sich anfühlt: mit einem Teil von Kopf und Herz in der umkämpften syrischen Heimat und einem anderen in der neuen Heimat Deutschland.

Faisal Hamdo, 1989 in Aleppo geboren, arbeitete nach seiner Ausbildung zum Physiotherapeut zwei Jahre lang freiwillig in mehreren provisorischen Krankenhäusern seiner Heimatstadt. Während des Arabischen Frühlings nahm er wie viele syrische Studenten an etlichen Demonstrationen gegen das Regime teil. 2014 flüchtete er aufgrund akuter Gefährdung über die Türkei nach Deutschland. Nach zahlreichen Sprachkursen und Berufsanpassungsqualifikationen arbeitete Hamdo zunächst in der Altenpflege und einer Physiotherapiepraxis. Im März 2016 wechselte der mittlerweile 27-Jährige an das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und arbeitet seitdem auf der neurochirurgischen Intensivstation. Elena Pirin, geboren und aufgewachsen in Bulgarien, lebt seit Anfang der 1990er-Jahre in ihrer Wahlheimat Hamburg. Neben langjährigen Tätigkeiten als Dozentin für interkulturelle Kommunikation, Übersetzerin und Streetworkerin veröffentlicht sie journalistische und literarische Texte. Zuletzt erschient erschien 'Mein Löwenkind' (Patmos 2016), ein autobiografisch-literarischer Bericht über das Abendteuer, ein Kind auf seinem Weg zur Inklusion und Teilhabe zu begleiten.

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Leseprobe

3. Von Ost-Aleppo nach Westberlin


Als die Berliner Mauer fiel, war ich gerade mal ein paar Monate alt.

25 Jahre später, im Herbst 2014, stand ich, der Geflüchtete, am Brandenburger Tor und durfte die beeindruckende Lichtinstallation entlang der ehemaligen Mauer fotografieren. »Lichtgrenze«, was für ein schöner neudeutscher Begriff, der zu Recht zum Wort des Jahres 2014 gewählt wurde!

Ich war gerade von Hamburg nach Berlin gezogen, weil das Leben in den neuen Bundesländern günstiger als in der Hansestadt war und die Sprachkurse erschwinglicher. Ich hatte mich außerdem bei einigen Online-Job-Portalen registriert. Bis heute bekomme ich Angebote aus dieser Berliner Zeit: mehr oder weniger lukrative Tätigkeiten als Umzugshelfer, Gartenarbeiter oder Katzensitter. Die Jobs, die ich tatsächlich fand, kamen aber vorwiegend durch »Vitamin B« zustande. Dank der Kontakte meiner Freunde durfte ich – der Sohn eines syrischen Bauarbeiters – die eine oder andere Baustelle hierzulande kennenlernen. Dadurch lernte ich nicht nur den Reichtum der polnischen Kraftausdrücke kennen, sondern auch viele Sehenswürdigkeiten der deutschen Hauptstadt. Bis heute frage ich mich allerdings, warum die Komische Oper diesen komischen Namen trägt.

Besonders gern denke ich an meinen Job als Sitter für Lea zurück. Lea war allerdings weder Katze noch Hund, sondern eine fröhliche dreizehnjährige junge Dame. Mit dem Downsyndrom geboren, brauchte die Familie jemanden, der das Mädchen von der Schule abholte und anschließend ein bis zwei Stunden mit ihr verbrachte. Offenbar wirkte ich qualifiziert genug für diese Aufgabe. Die Tatsache, dass ich in Syrien Kinder mit Behinderung therapeutisch betreut hatte, war dabei sicherlich hilfreich.

Es war eine spannende Erfahrung und eine gute Möglichkeit für mich, mein Deutsch zu verbessern. Lea war stolz darauf, mir etwas beibringen zu können. Zum Beispiel, dass es der und nicht die Apfel hieß und das und nicht die Mädchen. Oder dass »Mensch ärgere Dich nicht« ein Spiel ist und keine Aufforderung.

Ich staunte, wie fit und selbstständig dieses Mädchen war. Offenbar ging sie auf eine gute Schule. Allerdings musste sie keine blaue Uniform tragen wie ich in ihrem Alter. Auch musste sie morgens keinen Appell vor dem Porträt von Angela Merkel abhalten und kein Loblied auf den Bundespräsidenten singen. Besonders beeindruckend fand ich, dass Lea Schwimmunterricht hatte und trotz ihrer Einschränkungen schon im tiefen Becken schwimmen konnte, anders als ich damals. In den deutschen Schulen bekam man also etwas Nützliches beigebracht – etwas, das man fürs Leben braucht.

Lea ging damals in die 7. Klasse. An das, was ich in der 7. Klasse lernen musste, erinnere ich mich nur sehr ungern. Meine Lieblingsfächer waren Chemie und Anatomie, später arabische Literatur. Am meisten hasste ich »Syrische Nationalerziehung«. Chemie hatten wir zweimal die Woche, das »Regierungsfach« dreimal, jedes Jahr in einer aktualisierten Version. Wenn die Halbjahresklausuren nahten, kam ich in einen echten Gewissenskonflikt. Sollte ich wirklich alle Zitate unseres verstorbenen und »unsterblichen« Führers Hafiz al-Assad auswendig lernen und danach die berühmten Worte seines noch sehr lebendigen Sohnes? Oder sollte ich meine kostbare Zeit in die Vorbereitung der Chemie- und Matheklausuren investieren?

Mein Hauptproblem war, dass ich – wie alle anderen auch – die »Regierungsbibel« sterbenslangweilig fand. Ich konnte mir die unzähligen heroischen Ereignisse und großen Worte einfach nicht merken. Ich hasste es, auf dem heißen oder kalten Schulhof zu stehen und auf die vom Direktor gebrüllte Frage »Wer ist unser Präsident für immer und ewig?« im Chor zu antworten: »Das ist unser ewig lebender Präsident Hafiz al-Assad!«

Wie gern hätte ich etwas mehr über den berühmten arabischen Gelehrten ibn Sina erfahren oder Texte von al-Kawākibī oder ibn Hayyān gelesen. Aber Pauken musste sein, denn es wäre wirklich nicht gut gewesen, im »Regierungsfach« durchzufallen.

Offenbar konnte ich trotzdem genug Chemie und Anatomie lernen, um mein Studium als Physiotherapeut abzuschließen, das dann sogar in Deutschland anerkannt wurde.

Aleppo, September 2012. Ich stehe vor dem Krankenhaus, in dem ich seit Ausbruch des Krieges als Freiwilliger arbeite. Eine dunkle Rauchwolke steigt zum Himmel. Ich komme gerade vom Hausbesuch bei einem der vielen Verletzten, der eine Armprothese brauchte. Ich weiß nicht, was dieser Rauch bedeutet. Wurde unser Krankenhaus bombardiert? Es heißt neuerdings, dass Krankenhäuser ein beliebtes Ziel der Kampfjets des Regimes seien. Während ich losrenne, höre ich mich reden: »War das eine Bombe? Sind meine Freunde tot? Nein, die Rauchwolke scheint von woanders zu kommen.« Und tatsächlich: Sie steigt aus einem der Mehrfamilienhäuser neben dem Krankenhaus auf. Wahrscheinlich eine Rakete oder eine Fassbombe.

Ich gehe ins Krankenhaus und entdecke die vielen Verwundeten; die meisten liegen auf dem Boden. Der Anblick ist schrecklich und macht mich traurig und wütend. Aber es gibt keine Zeit zu verlieren. Gerade jetzt muss man funktionieren. Die Ärzte müssen schnell entscheiden, wem sie zuerst helfen, wenn sie überhaupt helfen können.

Ein Suzuki-Pick-up bringt die nächsten Opfer des Angriffs. Wir müssen die Verletzten am Haupteingang von der Ladefläche ins Krankenhaus tragen. Ich nehme einen kleinen Jungen auf den Arm, er ist höchstens zehn Jahre alt. Er weint und ruft: »Mama, Mama, wo bist du?« Er ist voller Blut; ich habe Angst, dass er schwer verletzt ist. Seine Familie ist noch auf der Ladefläche. Der Vater ist bewusstlos, ihm fehlt ein Bein. Die Mutter des Kindes liegt neben dem Mann. Ohne Kopf. Die Geschwister – alle tot.

Täglich müssen wir solche Szenen erleben. Jeden Tag wächst die Zahl der Menschen, die sich sehnlichst eine Arm- oder Beinprothese wünschen. Manche brauchen beides. Ist dies das Ergebnis unserer friedlichen Revolution?

Wie schnell der Krieg zum Alltag wurde und alle Pläne durchkreuzte! Erst ein Jahr zuvor, 2011, hatte ich meine erste Stelle als Kinder-Physiotherapeut angetreten, bei einem Verein, der von einer Schweizer Hilfsorganisation finanziert wurde. Das Konzept, die Therapie behinderter Kinder zu dezentralisieren, gefiel mir. Damit die kleinen Patienten nicht jedes Mal in die Großstadt gefahren werden mussten, wurden Behandlungszentren auf dem Land eingerichtet. Wir Therapeuten fuhren aufs Land, um vor Ort mit den Kindern und ihren Familien zu arbeiten.

Die Ausstattung unserer bescheidenen Praxisräume konnte nicht mit dem Standard deutscher Praxen mithalten. Aber wir waren stolz auf unsere Sprossenwand, auf das kleine Trampolin, auf die zwei bunten Sitzbälle. Besonders beliebt war bei den Kindern das pinkfarbene Hüpfpferd, auf dem sogar die Jungs gern ritten.

Ich mochte meinen Job als reisender Therapeut. Nicht nur wegen der Arbeit mit den Kleinen, sondern auch wegen der Gespräche mit ihren Eltern. Denn der Beginn meiner Tätigkeit fiel mit den Protesten in Syrien zusammen.

Jeden Montag seit Juli 2011 fanden friedliche, aber lebhafte Demonstrationen statt, an denen ich manchmal teilnahm. Wenn ich eine solche Montagsdemo besuchte, blieb ich über Nacht im Therapiezentrum oder kam bei der Familie eines Patienten unter, denn es war zu gefährlich, noch am selben Abend nach Aleppo zurückzufahren. Bei einer Militärkontrolle wäre ich sofort unter Verdacht geraten, zu den »Volksverrätern« zu gehören.

Die Diskussionen mit den Familien meiner kleinen Patienten waren eine Art Barometer für die Stimmung in der Bevölkerung. Und die Stimmung hier, westlich von Aleppo, war am Gären. Nicht umsonst hat das Regime ein halbes Jahr später das Polizeirevier in dieser Kleinstadt auflösen lassen – ein Zeichen dafür, dass der Ort als »Terroristennest« zum Abschuss freigegeben war. Ein paar Tage später fielen die Bomben. Zweimal die Woche fuhr ich mit dem Kleinbus in dieses Städtchen, über ein Jahr lang. Seit dem Sommer 2011 hatte sich die Fahrtzeit verlängert, denn es gab zwei neue Checkpoints, an denen wir kontrolliert wurden. Unzählige Male blieb mein Herz stehen, wenn der Wachposten sich vor unserem Kleinbus aufbaute, die Beifahrertür öffnete und mit bewegungsloser Miene die Hand ausstreckte und forderte: »Alle Personalausweise zu mir.«

Der Passagier hinter dem Beifahrer musste alle Ausweise einsammeln und dem Soldaten aushändigen. Gesichter wurden gemustert, Namen gerufen, jedes zweite Mal wurde einer der Reisenden herausgewunken. Was mit ihnen geschah, erfuhr man nicht, denn der Bus setzte sich danach wieder in Bewegung.

An einem solchen Checkpoint zwischen Ost-Aleppo und dem reichen Westen der Stadt ist mein Cousin Tarik verschwunden. Er ist bis heute unauffindbar – zur Verzweiflung seiner Frau, seiner zwei Kinder und seiner Eltern.

Auch aus einem anderen Grund wäre es nicht gut gewesen, bei diesen Fahrten zwischen Aleppo und dem Umland herausgefischt zu werden. Ich hatte noch nicht beim Militär gedient und mich auch nicht vorschriftsmäßig bei der zuständigen Behörde abgemeldet. Somit galt ich als Fahnenflüchtiger und wäre bei jeder gründlichen Kontrolle zum Militär eingezogen oder ins Gefängnis gesteckt worden.

Dass ich nicht namentlich aufgerufen wurde, lag vielleicht auch daran, dass der Geburtsort, der in meinem Ausweis stand, noch unter der Kontrolle der Regierung stand. Hätte in meinem »Perso« zum Beispiel Mare’ oder Dar Ta’izzah gestanden, wo damals viele Demos stattfanden,...

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