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Grundlagen jüdisch-feministischer Sozialethik im Deutschen Kaiserreich am Beispiel von Bertha Pappenheim

AutorHeidemarie Wawrzyn
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl68 Seiten
ISBN9783640323913
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 1993 im Fachbereich Theologie - Sonstiges, Note: 1, Universität Bremen, Sprache: Deutsch, Abstract: Beiträge zu Feminismus, Antisemitismus und Nationalsozialismus im 19./20. Jahrhundert: Band 2 Bertha Pappenheim, die Gründerin des Jüdischen Frauenbundes (1904), war eine ausgesprochene Praktikerin und Organisatorin. Stets versuchte sie, Judentum und Feminismus miteinander zu verbinden und die jüdische Tradition mit feministischen Reformen zu verändern, um auf diese Weise jüdischen Frauen Hilfe und Schutz zu geben und ihnen einen Weg zur Emanzipation zu zeigen. In der vorliegenden Studie werden die Grundlagen, Werte und Ziele von Bertha Pappenheims jüdisch-feministischer Sozialethik anhand ihrer Schriften, Werke und ihres sozialen Engagements herausgearbeitet sowie dem Denken und Arbeiten ihrer Zeitgenossinnen gegenübergestellt.

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Leseprobe

II Leben und soziales, feministisches Engagement

 

von Bertha Pappenheim

 

1. Kindheit und Jugendzeit

 

Bertha Pappenheim wurde am 27. Februar 1859 als dritte Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie in Wien geboren. Achtzehn Monate später wurde ihr Bruder Wilhelm geboren.[30] Ihr Vater, Siegmund Pappenheim, war Kaufmann und stammte aus einer jüdisch orthodoxen Familie in Pressburg (Ungarn). Berthas Mutter, Recha Goldschmidt, kam aus einer sehr angesehenen und reichen jüdischen Familie in Frankfurt am Main.[31]

 

Bertha Pappenheim besuchte in Wien eine katholische Privatschule, da es zu dieser Zeit dort keine höheren Schulen für jüdische Mädchen gab.[32] Mädchen der Mittelschicht besuchten damals die so genannten Töchterschulen. Zu Gymnasien waren sie nicht zugelassen und waren damit auch vom Besuch von Universitäten und von einer akademischen Ausbildung ausgeschlossen.[33]

 

Bertha Pappenheim selbst beschreibt ihre Kinder- und Jugendzeit mit folgenden Worten: "Ich habe als Kind oder junger Mensch … bis etwa 1890 das übliche Leben einer 'höheren Tochter' aus streng jüdischer, orthodoxer bürgerlicher Familie geführt."[34] Das bedeutete, dass sie wie andere jüdische und nichtjüdische Mädchen des Bürgertums nach einer acht- bis neunjährigen Schulbildung zu Hause blieb, ihre Aussteuer bestickte, ein wenig Hausarbeit lernte und vermutlich musikalischen und fremdsprachlichen Interessen nachging, um auf diese Weise die "Wartezeit"[35] bis zur Eheschließung auszufüllen.[36]

 

Da Bertha Pappenheim nach eigenen Aussagen in einer streng jüdisch-orthodoxen Familie aufgewachsen ist, kann angenommen werden, dass sie neben den für höhere Töchter üblichen häuslichen Beschäftigungen auch die Zubereitung ritueller jüdischer Speisen und das Führen eines koscheren (= reinen) Haushaltes lernte.[37]

 

Im Alter von 21 Jahren (1880) erkrankte Bertha Pappenheim an physischen und psychischen Störungen, zu denen Lähmungen, Halluzinationen, Sprach- und Sehstörungen und auch eine Spaltung des Bewusstseins gehörten.[38] All diese Symptome waren aufgetreten, während sie ihren kranken Vater pflegte, und sie verstärkten sich, als ihr Vater im Frühjahr 1881 starb. Anderthalb Jahre lang von 1880 bis 1882 wurde Bertha Pappenheim von dem Wiener Arzt Josef Breuer behandelt. Durch die Anwendung von Hypnose und Gesprächstherapie verringerten sich ihr Symptome.[39]

 

Im Juni 1882 brach Breuer die Behandlung seiner Patientin ab. Im November desselben Jahres erzählte er seinem Freund und Kollegen Sigmund Freud von ihr, und einige Jahre später (1895) veröffentlichten beide diesen Krankheitsfall als "Fräulein Anna O." in ihren "Studien über Hysterie".[40]

 

Über die Jahre zwischen 1882 und 1888/89 ist aus Bertha Pappenheims Leben wenig bekannt. Es folgten wohl nach dem Abbruch der Behandlung einige Rückfälle und Sanatoriumsaufenthalte.[41] 1888 zog Bertha Pappenheim gemeinsam mit ihrer Mutter nach Frankfurt am Main und blieb bis zu ihrem Tode im Jahre 1936 in dieser Stadt wohnhaft.[42]

 

2. Ihr soziales, feministisches Engagement zur Kaiserzeit

 

In Frankfurt am Main wandte sich Bertha Pappenheim sehr bald der jüdisch-sozialen Arbeit zu.[43] Sie gründete Flickschulen[44], einen jüdischen Kindergarten, gehörte dem städtischen Armenamt an und übernahm 1895 die Stellung der Heimleiterin des jüdischen Mädchenwaisenhauses des israelitischen Frauenvereins in Frankfurt am Main. Diese Stellung behielt sie zwölf Jahre lang bei.[45]

 

Vermutlich im Zusammenhang mit ihrer jüdischen Fürsorgearbeit wurde Bertha Pappenheim zunehmend mit der Notlage der Ostjuden konfrontiert.[46] Aufgrund zaristischer Pogrome Anfang des 20. Jahrhunderts und wachsender Armut unter den Juden Galiziens und Weißrusslands kamen viele jüdische Flüchtlinge nach Deutschland und suchten Hilfe bei den traditionellen jüdischen Wohltätigkeitsorganisationen.[47] Zur selben Zeit florierte ein ausgedehnter Mädchenhandel in Osteuropa. So genannte Agenten vermittelten junge Frauen und Mädchen – oft mit dem Versprechen einer Heirat und einer besseren Zukunft im Ausland – an Bordelle in Europa und Übersee.[48] In den europäischen Großstädten stieg die Zahl der Prostituierten immens an.[49]

 

Bertha Pappenheim gibt ihre erste Begegnung mit dem Mädchenhandel wie folgt wieder: "… [ich] konnte gar nicht fassen, dass es Menschen geben sollte, die … Mädchen und Kinder … kaufen und verkaufen … Und die grauenhafte Tatsache der Existenz eines Mädchenhandels, sie bedrückte und verfolgte mich. Ich forschte, hörte, ließ mich belehren, und ich erfuhr zu dem an sich Schrecklichen noch das tief Beschämende: viele Juden sind Händler, viele jüdischen Mädchen sind Ware."[50] Erschüttert durch diese Tatsache, begann Bertha Pappenheim, sich sehr aktiv und gezielt gegen Mädchenhandel und Prostitution einzusetzen.[51] Sie veröffentlichte Flugblätter, um über den Mädchenhandel zu informieren, nahm an nationalen und internationalen Konferenzen zur Frage des Mädchenhandels teil und hielt Vorträge, bei denen sie auf die Ursachen des Mädchenhandels hinwies und gleichzeitig Vorschläge zu dessen Bekämpfung unterbreitete.[52] Von 1903 an – und nach dem Tod ihrer Mutter im Jahre 1905 verstärkt – unternahm Bertha Pappenheim viele Reisen nach Osteuropa, zum Balkan und in den Nahe Osten, um sich über das Ausmaß der Not unter den Juden vor Ort zu informieren und um geeignete Hilfsmaßnahmen zu entwickeln.[53]

 

Obwohl sie sich viele Schwierigkeiten und Anfeindungen zuzog, sprach sie öffentlich immer wieder davon, dass Juden und Jüdinnen als Händler und Ware an dieser Art von Sklavenhandel beteiligt waren.[54] Bertha Pappenheim war der Überzeugung, das sowohl die Reduzierung der jüdischen Frau auf ihre Geschlechtlichkeit als auch die sozialen Verhältnisse ihrer Zeit (Wohnungsnot, niedrige Löhne, unzureichende Mädchenausbildung) maßgebend dazu beitrugen, dass junge jüdische Frauen Opfer des Mädchenhandels und der Prostitution wurden.[55] Aus diesem Grunde bewirkte sie die Gründung vieler Vereine und Organisationen, deren Aufgabe und Ziel es war, sich für den Schutz, die Ausbildung und die Rechte gefährdeter Mädchen und Frauen einzusetzen.

 

So gründete sie 1902 den Frauenverein Weibliche Fürsorge, der seine Aufgabe vor allem in der Wahrnehmung prophylaktischer Maßnahmen im Kampf gegen den Mädchenhandel sah, wie Wohnungspflege, Fürsorge für Durchreisende, Stellenvermittlung und Berufsberatung für Frauen.[56] Aufgrund ihrer Anregungen und Bemühungen arbeitete die Weibliche Fürsorge in Frankfurt am Main mit modernen Sozialarbeitsmethoden[57] und dehnte im Lauf der Jahre ihre jüdisch-soziale Frauenarbeit soweit aus, dass von ihr so genannte Sendboten als Kindergärtnerinnen und Krankenpflegerinnen nach Osteuropa geschickt werden konnten.[58]

 

Um den Kampf gegen Prostitution und Mädchenhandel noch effektiver und weit reichender durchführen zu können, forderte Bertha Pappenheim die Gründung einer überregionalen jüdischen Wohlfahrtsorganisation.[59] Bei dem Gedanken an eine solche Organisation war es ihr wichtig, dass jüdische Frauen, ähnlich wie die evangelischen und katholischen Frauen, eine Vertretung ihrer Interessen in der Öffentlichkeit fanden und dass ein Frauenbund entstand, der den Männerorganisationen gleichgestellt war und unabhängig von ihnen arbeiten konnte.[60] So regte sie 1904 auf der Tagung des International Council of Women[61] in Berlin die Gründung des Jüdischen Frauenbundes (=JFB) an.[62] Mit nur kurzen Unterbrechungen war Bertha Pappenheim von 1904 bis 1924 die erste Vorsitzende dieses Frauenbundes.[63]

 

Mit ihrer starken Persönlichkeit und ihrem oft kompromisslosen Führungsstil prägte Bertha Pappenheim entscheidend die Aktivitäten und Zielsetzungen des JFB, zu denen die Bekämpfung des Mädchenhandels, die Stärkung des jüdischen Gemeinschaftsbewusstseins und die Verbesserung der Ausbildung und des Erwerbslebens von Frauen gehörten.[64] Auf Bertha Pappenheims Drängen hin schloss sich der JFB dem Bund Deutscher Frauenvereine (= BDF) an, deren Vorstandsmitglied sie von 1914 bis 1924 war, und nahm auch Kontakt auf zu internationalen jüdischen Frauenorganisationen.[65] Bereits im Jahre 1905 gehörten dem JFB siebzig Frauenvereine an; in den zwanziger Jahren konnte der Frauenbund auf insgesamt 50.000 Mitglieder verweisen.[66] Im November 1938 aber wurde der Jüdische Frauenbund auf den Befehl der Nationalsozialisten zwangsaufgelöst.[67]

 

Mit ihrem Einsatz, ihrer Tatkraft und ihrem privaten Vermögen...

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